Jenö Staehelin – «Die Schweiz hat ein Imageproblem»

Botschafter Jenö Staehelin zur Rolle der USA in der Uno, zum Nutzen eines Schweizer Beitritts und zur Neutralität. Die Schweiz müsste als Uno-Mitglied weder ihre Neutralität opfern noch an militärischen Aktionen teilnehmen. Die Uno sei aber der Ort, wo die Schweiz das negative Image ihres Finanzplatzes vor der Weltöffentlichkeit korrigieren könne, sagt Botschafter Jenö Staehelin, ständiger Beobachter bei der Uno.

Von Peter Hossli

Der Basler Jenö Staehelin, 61, studierte Recht in Bern, Harvard und Paris. Vor dem Eintritt ins Departement für auswärtige Angelegenheiten wirkte der promovierte Jurist als Gerichtsschreiber sowie für eine private Kanzlei. Er belegte zahlreiche diplomatische Posten und spezialisierte sich auf völkerrechtliche Fragen. 1987 wurde er zum Botschafter und Chef der Abteilung Europa und Nordamerika ernannt. Ab 1991 übte er zusätzlich die Funktion eines Botschafters in Spezialmission beim Heiligen Stuhl aus. 1993 ernannte ihn der Bundesrat zum Botschafter in Japan. Im Juni 1997 erfolgte die Ernennung zum ständigen Beobachter der Schweiz bei den Vereinten Nationen.

Herr Botschafter, unlängst wurde Ihr Büro evakuiert. Ein paar Stockwerke weiter oben sind Milzbrandspuren entdeckt worden. Haben Sie sich testen lassen?
Jenö Staehelin: Warum? Keiner der achtzig Mitarbeiter von Gouverneur George Pataki, in dessen Büro die Erreger waren, war positiv.

Seit Jahren engagiert sich die Uno gegen biologische Waffen. Nun haben Sie selbst erfahren, wie hilflos die Weltgemeinschaft terroristischen Organisationen ausgesetzt ist. Hat die Uno versagt?
Staehelin: Nein. Die Uno hat den Terrorismus als Problem schon lange erkannt. Aber sie kann nur so viel oder so wenig tun, wie die Mitgliedsländer es zulassen. Viele Länder haben den Terrorismus auf nationaler Ebene erkannt und darauf reagiert. Die Uno hat Konventionen ausgearbeitet, die in nationale Rechtssysteme aufgenommen werden müssen. Dies dürfte jetzt nach der Debatte in der Generalversammlung beschleunigt werden.

Wie hat sich die Rolle der Uno nach dem 11. September verändert?
Staehelin: Fundamental. Weil sich die Welt verändert hat.

Was ist anders geworden?
Staehelin: Die Haltung der USA zur Uno hat sich stark verändert. Russland und die USA kamen sich näher, ebenso China und die USA. Die Situation im Nahen Osten wird neu beurteilt. Betroffen sind die globale Wirtschaft und die politische Stabilität.

Die Umwälzungen geschahen schlagartig. Kann eine schwerfällige Organisation wie die Uno darauf reagieren?
Staehelin: Ihr wird stets beides vorgeworfen – sie sei zu langsam, und sie sei zu schnell. Bei der Verabschiedung internationaler Konventionen sind 189 Staaten beteiligt. Wir wissen, wie viel Zeit die Abfassung eines neuen Gesetzes beansprucht. Im konkreten Fall hat die Uno rasch reagiert. Bereits am 12. September verabschiedete die Generalversammlung einstimmig eine Resolution gegen den internationalen Terrorismus, am 28. September eine weitere über die Kontrolle terroristischer Finanzflüsse. Das ist ein enormes Tempo für derart bedeutende Dokumente.

Die Annäherung der USA an die Uno wirkt opportunistisch. Lange foutierte sich Amerika. Jetzt aber braucht sie die Uno. Gibts denn eine langfristige Perspektive für die USA?
Staehelin: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Ich glaube, die Wende ist nicht opportunistisch. Es zeichnet sich auch auf amerikanischer Seite ein Besinnen auf präventive Politik ab.

US-Präsident Bush hat der Uno eine starke Rolle beim Wiederaufbau Afghanistans vorausgesagt. So will er sich vor echter Verantwortung drücken.
Staehelin: Das kurzfristige Ziel scheint klar zu sein – Osama bin Laden zu fassen und die Taliban zu beseitigen. Militärische Erfolge stellen sich meist schneller ein als politische, administrative oder wirtschaftliche. Noch hat aber niemand konkrete Vorstellungen über die Zukunft Afghanistans. Es ist problematisch, wenn man diese komplexe Aufgabe voreilig an die Uno abschieben will.

Ist die Uno in der Lage, Afghanistan zu befrieden und aufzubauen?
Staehelin: Sie muss ihre Rolle den Mitteln anpassen, die man ihr gibt. Ohne Personal und Infrastruktur ist es ihr nicht möglich, diesen enorm schwierigen Auftrag zu übernehmen.

Sind Sie zuversichtlich?
Staehelin: Die dortige Situation ist viel komplexer als etwa in Kosovo. Kosovo war schon sehr schwierig. Trotzdem war die Uno erfolgreich. Bereits ein Jahr nach den Nato-Angriffen konnten Wahlen durchgeführt werden, an denen 70 Prozent der Stimmberechtigten teilnahmen. Sogar die Wirtschaft funktioniert wieder. Dass sich das in Afghanistan in gleicher Weise wiederholen lässt, ist eher unwahrscheinlich.

Dann muss die Uno in dieser veränderten Welt grösser werden?
Staehelin: Das entscheiden die Mitgliedstaaten. Aber es ist frustrierend: Wenn es brennt, stellen alle plötzlich viel Geld zur Verfügung. Für präventive Massnahmen fehlen aber die Mittel. Es braucht einen Mentalitätswandel bei den Mitgliedern.
In der Schweiz nutzen Uno-Gegner die jetzigen Konflikte, um die Wirkung der Uno anzuzweifeln. Die Weltorganisation gebe es seit über fünfzig Jahren, die Welt scheine heute aber gefährlicher denn je.

Wissen Sie denn, wie die Welt ohne Uno aussehen würde? Ohne Uno wäre die Welt meines Erachtens nicht sicherer.
Staehelin: Welche Rolle kommt der Schweiz im Kampf gegen den Terrorismus zu?
Man muss sich bewusst sein, dass sich der Terrorismus auch gegen unsere Konzeption des sozialen Zusammenlebens richtet. Deshalb können wir nicht bloss zuschauen. Wir müssen mithelfen, Symptome und Ursachen zu bekämpfen.

Die Schweiz hat sich doch als Nicht-Uno-Mitglied einen legendären diplomatischen Ruf geholt. Sie kann weiterhin ihre guten Dienste anbieten.
Staehelin: Die grosse Zeit der guten Dienste der Schweiz ist vorbei. Wir haben an Einfluss verloren – gerade, weil wir nicht in der Uno sind. Um gute Dienste leisten zu können, muss man als unparteiisch gelten. Im Nord-Süd-Konflikt gehören wir zum reichen Norden. Im Konflikt zwischen dem Islam und dem Christentum gelten wir als Christen. Erklären Sie mal einem Afghanen, wir stünden unparteiisch zwischen den USA und Afghanistan.

Wer gilt als unparteiisch?
Staehelin: Nur der Repräsentant jener Organisation, die alle Staaten umfasst und deshalb allen Staaten Rechenschaft ablegen muss. Das ist Kofi Annan. Da er nicht alles selber machen kann, setzt er Leute ein, deren Fähigkeiten er kennt. Die diplomatischen Wege laufen heute über die Uno. Wer da nicht dabei ist, wird nicht angefragt.

Die Schweiz vermittelt doch seit zwanzig Jahren zwischen dem Iran und den USA – ohne Uno-Mitgliedschaft.
Staehelin: Man kann nicht von Vermittlung sprechen. Die Schweiz vertritt im Iran die Interessen der USA. Sie hält bloss den Kommunikationskanal offen.
US-Präsident Bush bestellte der Weltgemeinschaft, entweder man sei auf Seiten der USA oder man sei gegen die USA. Wird ein künftiges Uno-Mitglied Schweiz gezwungen, seine Neutralität aufzugeben?

Das bezog sich auf den 11. September. Mit der Uno hat es nichts zu tun. Hier spricht die Supermacht USA.
Staehelin: Die USA dominieren die Uno. So knüpft sie ihre Zahlungsbereitschaft oft an Bedingungen. Die Abhängigkeit eines Uno-Mitglieds von den USA kann enorm sein.
Die Uno ist die Welt. Die USA spielen eine starke Rolle in der Welt und somit auch in der Uno.

Dann ist die Uno eine hilflose Organisation, die sich nicht gegen die USA wehren kann?
Staehelin: Im Gegenteil. In der Uno können andere Länder Koalitionen bilden und auf diese Weise den Einfluss der USA vermindern. Allein kann die Schweiz einer Supermacht nicht entgegenwirken.

Tritt sie der Uno bei, opfert sie die Neutralität.
Staehelin: Die Schweiz wird als Uno-Mitglied die gleiche Aussenpolitik betreiben wie bisher. Neutralität bedeutet die «Nichteinmischung in einen Konflikt zwischen zwei Staaten». 90 Prozent der heutigen Konflikte sind aber interne Konflikte. Wenn die Völkergemeinschaft als Ganzes Zwangsmassnahmen gegen einen Rechtsbrecher ergreift, stellt sich das Neutralitätsproblem nicht. Zudem gibt es oft politische und moralische Gründe, sich hinter Sanktionen gegen ein verbrecherisches Land zu stellen.

Dann wird sich die Schweiz auch an militärischen Uno-Aktionen beteiligen?
Staehelin: Man kann kein Land dazu zwingen. Von den 189 Uno-Mitgliedern haben 66 noch nie an militärischen Aktionen teilgenommen.

Der Sicherheitsrat mit fünf ständigen und zehn wechselnden Mitgliedern entscheidet über die Verhängung von Sanktionen. Gewisse Staaten haben also umfassendere Rechte.
Staehelin: Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates allein können nichts durchsetzen. Sie haben ein Verhinderungs-, kein Durchsetzungspotenzial. Eine Supermacht wie die USA lässt sich ohnehin nichts aufzwingen.

Dann regieren die USA die Uno doch?
Staehelin: In dieser Welt gibt es nicht 189 Staaten, die gleich gross sind, gleich viele Einwohner und die gleiche wirtschaftliche Macht haben. Es gibt Andorra, China und die USA. Könnten die USA die Uno wirklich regieren, wäre das Land nicht aus der Menschenrechtskommission ausgeschlossen worden. In der Generalversammlung hat Liechtenstein mit 30’000 Einwohnern genauso viel Macht wie China. Wenn sich Liechtenstein, Monaco, San Marino und Andorra absprechen, überstimmen sie Indien, China und die USA.

Unlängst wurde Syrien in den Uno-Sicherheitsrat aufgenommen, ein Land, das verdächtigt wird, Terroristen zu finanzieren. Fehlt der Uno das Rückgrat, Nein zu sagen?
Staehelin: Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Uno nicht von den Amerikanern regiert wird. Die Uno ist kein Kloster. Würde sie nur Staaten aufnehmen, die unseren Idealen nahe stehen, wäre sie weniger erfolgreich, Probleme universellen Charakters zu lösen.

Wie frei dürfen Sie über die Vorzüge der Uno reden?
Staehelin: So frei ich will.

Die SVP wirft Beamten, die sich im Vorfeld der Uno-Abstimmung für einen Beitritt stark machen, staatlich finanzierte Propaganda vor.
Staehelin: Vor ein paar Monaten war eine Delegation der aussenpolitischen Kommission des Nationalrates in New York zu Besuch. SVP-Nationalrat Walter Frey steht ihr vor. Nationalrat Ulrich Schlüer war ebenfalls dabei. Diese Herren hätten es mir gesagt, wenn sie denken, ich würde die Schweiz missionarisch in die Uno führen wollen.

Ist es einfacher oder schwieriger geworden, die Schweiz nach dem 11. September vom Uno-Beitritt zu überzeugen?
Staehelin: Dieser Tag hat verdeutlicht, dass die Welt unteilbar ist. Saudis und Ägypter richteten in den USA ein enormes Unheil an. Die Terrorakte und die Reaktion der Weltgemeinschaft werfen die Frage auf, ob es irgendwo noch ein Verständnis dafür gibt, dass sich die Schweiz dem entziehen will. Das ginge nur, wenn wir auf einem anderen Planeten wären.

Warum muss die Schweiz in die Uno?
Staehelin: Um ihre Interessen besser und effizienter vertreten zu können. Ich komme mir oft vor wie ein Klavierspieler, der zwar spielen darf, aber bloss auf weissen Tasten. Man kann zwar musizieren, aber es tönt nicht besonders gut. Wir könnten ohne weiteres so weitermachen. Wenn wir unsere Interessen jedoch optimal vertreten wollen, müssen wir das ganze Instrument nutzen.

Die Schweiz hat in den vergangenen zehn Jahren Rückschläge hinnehmen müssen. Das Abschmettern des EWR, die Holocaust-Debatte, das Swissair-Debakel. Wo steht das Land heute?
Staehelin: Die Schweiz braucht die Uno mehr, als die Uno die Schweiz braucht. Ausserhalb der Schweiz sagt niemand mehr, die Uno sei ohne Schweiz nicht vollkommen. Kofi Annan wacht nicht jeden Morgen auf und hofft, die Schweiz trete bei. Ich bin stolz, Schweizer zu sein, muss aber sagen: Auf dem internationalen Parkett hat das Land ein Imageproblem. Die Uno offeriert Möglichkeiten, das zu korrigieren.

Bisher gings ja auch ohne.
Staehelin: Nehmen Sie den Finanzplatz. Bei vielen gilt die Schweiz als Hort illegaler Gelder. Ist von Korruption und Geldwäscherei die Rede, rückt sofort die Schweiz in den Vordergrund – obwohl das nachweislich nicht stimmt. Die Uno ist der Ort, um dies vor der Weltöffentlichkeit zu korrigieren. Wenn ich Kollegen sage, unser Bankgeheimnis biete keine Möglichkeit, terroristisches Geld zu verstecken, dann ist das für viele von ihnen neu.

Gibt es eine Beziehung zwischen der Isolation der Schweiz und ihrem Imageproblem?
Staehelin: Zweifellos. Man fragt mich immer nach Gründen, warum die Schweiz der Uno beitreten soll. Ich frage mich umgekehrt, warum denn die Schweiz nicht beitreten soll. 99,8 Prozent der Weltbevölkerung sind hier vertreten. Wir können doch nicht behaupten, alle anderen irrten sich. Die Schweiz definiert sich zu negativ. Vorzugeben, man sei besser als die anderen, ist keine positive Botschaft. Um sich positiv zu definieren, muss man sich engagieren.

Das Uno-Budget beträgt gerade mal vier Milliarden Dollar – die Swissair hat weit mehr Schulden. Wie ist es der Organisation überhaupt möglich, mit derart wenig Geld so viele Aufgaben zu übernehmen?
Staehelin: Kofi Annan hat enorm viel bewirkt mit seinen Reformen. Die Uno ist längst nicht mehr der bürokratische Koloss von einst.

Uno-Gegner sagen, der Beitritt erhöhe die Schweizer Staatsquote.
Staehelin: Während des Kosovo-Konflikts waren rund 50’000 Flüchtlinge aus dem Kosovo in der Schweiz. Dank der Aufbauarbeiten der Uno sind mittlerweile 40’000 wieder zurück. Allein der Aufenthalt dieser Flüchtlinge hätte die Schweiz weit mehr gekostet, als der Uno-Beitritt kostet.

Was kann die Schweiz bewirken?
Staehelin: Die Schweiz hat trotz gewissen Rückschlägen einen guten Ruf. Wir bezahlen regelmässig, sind solide. Geschätzt wird unser konstruktives Mitdenken. Im Übrigen verfolgen wir im Gegensatz zu den Grossmächten keinerlei spezifischen politischen Ziele. Die Entwicklungsländer wollen beispielsweise ihre wirtschaftliche Kraft stärken. Die Schweiz hingegen gehört einer kleinen Gruppe von Staaten an – die skandinavischen Länder, die Niederlande, Kanada, Australien, Neuseeland -, die ehrlich versuchen, die Welt friedlicher und gerechter zu gestalten.

Was haben die Uno-Befürworter gelernt von der gescheiterten Kampagne von 1986?
Staehelin: Es geht nicht darum, ein Produkt besser zu verkaufen. Das Produkt ist heute anders. Damals bestimmte der Kalte Krieg die Welt. Der Uno waren die Hände gebunden. Das war ein Grund, warum viele Schweizer zurückhaltend reagierten. Heute ist die Uno universal und deckt alle Lebensbereiche ab. Sie hat Erfolge vorzuweisen.

Das Produkt muss verkauft werden. Am besten geht das mit einer Persönlichkeit. Bisher fehlt ein Schweizer Mister Uno.
Staehelin: Der Mister Uno ist Kofi Annan. Er macht die beste Propaganda für die Uno. Wichtiger als ein Schweizer Mister Uno sind hundert bekannte Schweizer Persönlichkeiten, die sich engagieren.

Kofi Annan hat das Image der Uno zum Positiven gewendet. Wie gelang ihm das?
Staehelin: Er ist ehrlich in seinem Bemühen, die Welt zu verbessern. Er ist ein offener, toleranter Mensch. Er hat ein grosses Charisma und setzt die richtigen Prioritäten. Und er lässt sich nicht auf Gezänk ein.«Wenn wir unsere Interessen optimal vertreten wollen, müssen wir das ganze Instrument nutzen.»

Stichworte – Jenö Staehelin über
Swissair: Traurig.
Christoph Blocher: Ein guter Geschäftsmann, dessen aussenpolitische Position ich nicht verstehe.
Basler Daig: Was ist das?
11. September 2001: Hat die Welt verändert.
Diplomatie: Anders, als die meisten meinen.
New York City: Immer noch faszinierend. Aber stressiger.
Vatikan: Eine Weltorganisation für sich.
Heimat: Sehr wichtig. Vor allem, wenn man im Ausland lebt.