Wer auf den Busch klopft, erntet mehr Staat

In den USA ist nach den Terroranschlägen Väterchen Staat plötzlich wieder sehr gefragt. Bisher galt: Wer in den USA Wahlen gewinnen wollte, musste dem Staat eine deftige Absage erteilen. Doch jetzt überschlagen sich Politik und Wirtschaft in ihren Forderungen nach staatlichen Hilfsmassnahmen und schnüren ein Milliardenpaket nach dem andern.

Von Peter Hossli

Seit Ronald Reagan zu Beginn der Achtzigerjahre angetreten war, marode Betriebe der öffentlichen Hand zu privatisieren, wiederholen Politiker jeder Couleur unaufhörlich dasselbe Mantra: Der Staat muss schlanker werden. Statt hohle Hände zu füllen, verpflichteten Republikaner wie Demokraten das Volk zu «verstärkter Eigenverantwortung». Wars irgendwie möglich, überliess die US-Regierung den Dienstleistungssektor Privaten. Einträchtig äusserten sich George W. Bush und Al Gore während des vergangenen Wahlkampfes bloss in einer Hinsicht: «Ich verringere die Staatsquote», sagten beide.

Das ist plötzlich passé, weggesprengt von Selbstmordattentätern.

Seit den Attacken auf die USA vom 11. September ist der Staat wieder en vogue. Überall werden Rufe nach dessen Stärkung laut. Sogar der republikanische Präsident teilt sie. Ausgerechnet Bush, dessen Absicht es vornehmlich war, die Steuern zu senken und Krankenkassen und Sozialversicherungen zu privatisieren.

Stunden nach der Attacke warf Bush diese Prinzipien mitsamt fiskalischer Disziplin über Bord. Zusammen mit dem Kongress bewilligte er ein Soforthilfepaket von 40 Milliarden Dollar. Beinahe täglich hat der Präsident seither zusätzliche Unterstützung versprochen. Er will allen helfen: den direkt Betroffenen, der Stadt New York, den gefährdeten Branchen, dem fragilen Staatsschutz, den Bundesbeamten und den Soldaten, die den globalen Terrorismus bekämpfen, und gar bisher isolierten oder boykottierten Ländern, mit denen er sich jetzt verbündet.

Mit zusätzlichen Mitteln will die Bundespolizei FBI Telefone abhören und den E-Mail-Verkehr von Verdächtigen überwachen. Grenzschützer versprechen, die US-Grenzen besser zu sichern, was ebenfalls Mehrkosten verursacht. Das Weisse Haus rief eine neue, keineswegs billige Abteilung ins Leben – das Büro für die Sicherung des Heimatlandes, «ein fast schon stalinistischer Name», wie ein Leitartikler der «New York Times» schrieb.

Bush rettete sich vor seinem «politischen Waterloo»

Bush stellte New York einen Blankoscheck für den Wiederaufbau der Stadt aus. Die Kosten werden mittlerweile auf 40 Milliarden Dollar geschätzt. Allein die Bergungs- und Aufräumarbeiten beim World Trade Center, orchestriert von der Federal Emergency Management Agency, kosten wöchentlich 110 Millionen. Um die insgesamt 1,25 Millionen Tonnen Schutt wegzuführen, so schätzt New Yorks Bürgermeister, wird man ein ganzes Jahr benötigen.

Tage vor den Attacken stritten sich Demokraten und Republikaner noch heftig über das Budget. Es zeichnete sich ab, dass die Steuersenkungen bloss mit dem Geld der Sozialversicherungen ausgeglichen werden könnten. Die Politauguren nannten den Griff in diese Schatulle «Bushs politisches Waterloo». Vor allem ältere, um ihre Pension fürchtende Wähler würden sich erinnern: Der Präsident brach sein Wort, wie einst Vater George, der gelobte, die Steuern nie zu erhöhen, und es trotzdem tat.

Diese Stimmen sind verstummt. Geeint steht die Nation hinter Bush. Fast wie während der Depression in den Dreissigerjahren wünschen alle Lager eine aktive Rolle eines starken Staates. Das bis vor kurzem misstrauische Volk vertraut den Institutionen wieder. In einer Umfrage der «Washington Post» gaben 64 Prozent an, der Staat handle meistens oder fast immer richtig. Letztmals standen 1966 so viele Amerikaner hinter Uncle Sam. Vorbei scheint der grenzenlose Egoismus der Dotcomer. Nicht mehr die eigene Karriere, sondern das Sternenbanner ist nun der Mittelpunkt.

Die Kosten sind zweitrangig. Obwohl die Aktion umstritten ist, setzt das Weisse Haus 15 Milliarden Dollar für die Rettung der Airline-Industrie ein. Handelsminister Donald Evans hat Hoteliers, Reisebüros und Mietwagenfirmen Steuervergünstigungen in Aussicht gestellt. Bush will zusätzlich 500 Millionen Dollar ausgeben, um das Fliegen sicherer zu machen. Die Amerikaner steigen nämlich bloss noch bedenkenlos in Jumbos, wenn der Staat sie schützt. So sollen künftig bewaffnete Bundespolizisten auf den meisten, wenn nicht sogar allen kommerziellen Fliegern mitfliegen. Der Staat bezahlt die Installation von stählernen Cockpittüren und die Ausbildung des Sicherheitspersonals am Boden. Eine Regierungsstelle überwacht künftig deren Standards.

Trotzdem gilt das Fliegen nach den vier Flugzeugentführungen noch als gefährlich. Die Bilder der ins World Trade Center gesteuerten Jets haben sich tief in die nationale Retina eingebrannt. Umgehend forderte deshalb die republikanische Senatorin Kay Bailey Hutchison den raschen Aufbau eines neuen Schienennetzes für Hochgeschwindigkeitszüge. «Der Zug wird zur valablen Alternative», sagt die Texanerin. Sie unterstützt eine im Senat eingegebene Vorlage, 71 Milliarden Dollar in die Eisenbahn zu investieren.

Die Mehrwertsteuer soll vorerst einmal Pause machen

Alan Blinder, ein Ökonomieprofessor an der Princeton University, schlug vor, die einzelnen US-Bundesstaaten müssten zwischenzeitlich die Mehrwertsteuer ausfallen lassen. Allein so werde der eingebrochene und für den Aufschwung dringend nötige Konsum wieder angekurbelt. Er hat ebenfalls eine Antwort auf die Frage parat, wer den Steuerausfall der 50 Bundesstaaten decken soll: die Regierung in Washington.

Die Idee ist nicht allzu absurd. Parlamentarier debattieren derzeit den Plan, 100 bis 125 Milliarden Dollar als Stimulation in die kränkelnde Wirtschaft zu investieren. Zinssenkungen allein genügten nicht. Bushs früherer Plan, die USA durch Steuergeschenke vor der Rezession zu bewahren, schlug fehl. Die Amerikaner gaben bloss 18 Prozent ihres Steuerrabatts für neue Produkte aus. Da das Volk nicht genug konsumiere, müsse der Staat jetzt einen grossen Betrag ausgeben, forderte ein demokratischer Senator aus Louisiana.

Hier will der Staat eingreifen

· Soforthilfe für Bergungs- und Aufräumarbeiten und die Bekämpfung des Terrorismus: 40 Milliarden Dollar.
· Hilfspaket für die Flugzeugindustrie: 15 Milliarden Dollar.
· Sofortprogramm zum Schutz der Piloten: 500 Millionen Dollar.
· Zusätzliche Rüstungsausgaben: 17 Milliarden Dollar.
· Stimulation für die Wirtschaft: 100 bis 125 Milliarden Dollar.
· Subvention eines nationalen Schienennetzes für Hochgeschwindigkeitszüge: 71 Milliarden Dollar.
· In Aussicht gestellt: mehr staatliche Hilfe für New York und an Branchen, die besonders betroffen sind (Versicherungen, Tourismus), ausserdem Weiterbildungsprogramme für Arbeitslose.