Alles liegt darnieder

Weder in New York noch sonstwo in den USA ist etwas von einer «Jetzt erst Recht»-Stimmung zu spüren. Die Schockwelle mit Epizentrum New York hat sich übers ganze Land ausgebreitet. Die Konsumentenstimmung ist am Boden, und vom viel beschworenen «back to normal» kann keine Rede sein.

Von Peter Hossli

Eine einst pulsierende Stadt schläft. Müde Augen starren morgens in der Subway ins Leere. Schon nach zehn Uhr abends bleiben Tische in Restaurants und Hocker an Bars unbesetzt. New York steht unter Schock. Bei jeder Sirene zucken Menschen zusammen. Gerüchte von neuen Attentaten verbreiten Angst. Wer kann, verlässt die Stadt.

Die von Presse und Politikern beschworene Normalität ist zwei Wochen nach der Attacke auf das World Trade Center (WTC) kaum zu spüren. Nicht in den USA, geschweige denn in New York. Statt dessen breitet sich eine Krisenstimmung in konzentrischen Kreisen aus. Tausende von Geschäften, Restaurants und Privatpersonen in Manhattan haben noch immer keinen Telefonanschluss. Die meisten Gaststätten und Läden akzeptieren keine Kreditkarten, denn ohne Telefonleitung ist es unmöglich, die Gültigkeit des Plastikgeldes zu prüfen. Mehr als die Hälfte seines Umsatzes erzielte etwa das neben der Brooklyn Bridge gelegene Restaurant «Radio Mexico» mit Take-out-Menüs. Anrufen könne niemand mehr, klagt der Wirt. Obendrein sind viele hundert ohnehin schlecht bezahlte mexikanische Ausfahrer betroffen. Noch immer geschlossen ist «J and R», ein bei Touristen beliebtes Elektronikgeschäft in der Nähe des einstigen WTC, weil dessen Boden auf mehreren Stockwerken mit Staub bedeckt ist. Glücksspieler reisen Uptown – die Kioske rund um das World Trade Center sind nicht in der Lage, Lottoscheine zu verarbeiten.

Weiter nördlich, am hell erleuchteten und mittlerweile mit Flaggen geschmückten Times Square, klagen Hotelbesitzer und Theaterleute. Der Tourismus ist eingebrochen. Vergebens warten Broadway-Shows auf Kundschaft. Etliche Schauspieler verzichten auf die Hälfte ihrer Gage, damit die Theater nicht schliessen. In Gefahr sind 25 Milliarden Dollar, welche Touristen jährlich nach New York tragen, und 280’000 direkt vom Tourismus abhängige Arbeitsplätze. Schätzungsweise dürfte die Hälfte aller 30’000 Hotelangestellten kurzfristig entlassen werden.

Hotelzimmer für «ausgebombte» Firmen

Eine kreative Lösung hat der Hotelier Ian Schrager parat. Er vermietet leer stehende Zimmer an Firmen, die Büroräume verloren haben. Das «Sheraton Hotel» unweit des Times Square beherbergt bereits Büros von Lehman Brothers, einst Mieter im World Trade Center.

Einen Umsatzrückgang von 15 bis 20 Prozent erwartet das Warenhauskonglomerat Federated, zu dem die landesweiten Ketten Macy’s und Bloomingdale’s gehören. Die beiden Läden in Manhattan rechnen mit Einbussen von 40 Prozent.

Da können Ökonomen und Politiker noch lange beschwören, kräftiges Konsumieren sei derzeit eine patriotische Pflicht. Vierfarbige Anzeigen für neue Autos oder Rabatte für Hotelzimmer und Mietwagen dahingestellt – den Amerikanern ist die Kauflust vergangen. So brach landesweit die Nachfrage nach Baukrediten ein. Immobilienhändler beschreiben die momentane Situation als «Stillstand». Niemand wolle kaufen oder verkaufen. Und die Banken melden, der Bargeldbezug an Automaten sei markant zurückgegangen. Ob Autohersteller, die Tourismusbranche oder Versicherungsgesellschaften, alle melden Einbrüche oder warnen davor. Rund 140 Milliarden Dollar wird der Staat als Stimulus investieren müssen, will er der schwindenden Kauflust entgegenwirken.

Besonders betroffen sind Orte, wo normalerweise viele Menschen zum Spass oder zur Arbeit zusammenkommen. Einzelne Hotels unweit von Disney World in Orlando klagen über eine Auslastung von bloss fünf Prozent. Über 260 Konferenzen wurden in Las Vegas abgesagt. Casinos stellen tausende von Angestellten frei. Flugzeuge fliegen beinahe leer. Die niedrige Nachfrage drückt die Preise. Kostete ein Direktflug von New York nach San Francisco einst gegen 800 Dollar, ist derselbe Flug derzeit bereits für 230 Dollar zu haben. Nicht nur die Airlines, auch die Flugzeugbauer leiden. Boeing kündigte an, bis Ende 2002 30’000 ihrer 94’000 Angestellten zu entlassen.

Vor dem 11. September bewahrte ein anhaltender Konsumrausch das Land vor dem ökonomischen Stillstand. Die politisch und wirtschaftlich fragile Lage hat nun die Kauflust abrupt gestoppt. 60 Prozent der Amerikaner glauben gemäss einer CBS-Umfrage, ihr Land befände sich in einer Rezession, 20 Prozent geben an, sie stehe kurz bevor. Zu Recht bangen viele um ihre Stelle – seit den Attentaten wurden 144’540 Jobs gestrichen. Namhafte Firmen wie McDonald’s, EMC oder American Express beklagen Gewinneinbussen, einige schreiben rote Zahlen. Eine Rezession – wenn auch eine kurze – sei immanent, prophezeien selbst optimistische Wirtschaftsgelehrte.

Der bevorstehende Konflikt dürfte kaum in einen traditionellen und somit ökonomisch stimulierenden Krieg münden. Um Terroristen wirkungsvoll zu bekämpfen, braucht es nicht neue Flugzeugträger oder Panzerbrigaden, schon gar nicht das 60 Milliarden Dollar teure Raketenabwehrsystem.

Präsident George W. Bush kündigte einen langen Krieg an. Man werde verschiedene Gruppen gegeneinander aufwiegeln. Diese Taktik haben die USA in den Achtzigerjahren bereits in Mittelamerika oder auch in Afghanistan angewandt. Geld fliesst demnach nicht so sehr in die hiesige Rüstungsindustrie, sondern – vom CIA verteilt – in die Taschen lokaler Guerillas.

Angstbusiness boomt

Abgesehen von den Fahnenfabriken dürften zumindest zwei Branchen profitieren: die Mobiltelefonie und das Geschäft mit der Angst. «Wir schliessen doppelt so viele Verträge ab wie zuvor», sagt ein Verkäufer des Handy-Geschäfts Cel-Tel in Brooklyn. Die grössten fünf amerikanischen Anbieter erwarten eine Wachstumsrate von 20 Prozent. Ergreifende Geschichten von Passagieren, die aus den entführten Flugzeugen angerufen hatten und sich verabschiedeten, verstärkten bei vielen das Bedürfnis nach drahtloser Telefonie.

Binnen einer Woche schaffte es ein zuvor kaum gekauftes Buch über biologische Kriegsführung auf die Bestsellerlisten. Die Nachfrage nach Luftschutzkellern, Gasmasken oder luftdichten Zelten für Kinder und Hunde ist stark angestiegen. Verkauft die Firma Utah Shelter Systems in Salt Lake City pro Monat höchstens einen Luftschutzkeller für 16’000 Dollar, erhält sie derzeit täglich sechs Anfragen. Die Schutzräume werden von der Schweizer Firma Andair AG in Andelfingen hergestellt. «Ja, wir wurden kontaktiert», bestätigt Andair-Inhaber Hans Riedo. Angaben über die Anzahl effektiver Bestellungen wollte er aber nicht machen.