Von Peter Hossli
Einsam schlendert ein Kunde an der bunten Musikwand entlang. Im Brooklyner Video East Club wird arabische Popkultur verkauft und verliehen. Filme, Musik, Magazine, Zeitungen. «Aber jetzt will niemand fröhliche Musik hören», sagt die junge Verkäuferin Raeheb, eine Ägypterin. «Der Umsatz ist gänzlich eingebrochen.» Seit drei Jahren lebt und studiert Raeheb in den USA. Nebenher arbeitet sie in dem Videoladen an der Atlantic Avenue, der längsten Strasse New Yorks. Am oberen Ende der Avenue steht der Lebensmittelbasar Hanshali, dessen Besitzer Gary seit 35 Jahren in New York lebt. Nebenan das Reisebüro Akir, der Atlantic Barber Shop und das «Tripoli», das stadtbekannte libanesische Restaurant. An normalen Tagen versammeln sich Syrer, Jemeniten oder Sudanesen auf den Gehsteigen zum Schwatz.
Doch seit dem Terroranschlag aufs World Trade Center wirkt Brooklyns arabisches Quartier wie ausgestorben. Vergeblich wartet der Kellner des «Tripoli» auf Gäste. Eine einzige Frau hat sich zum Lunch verirrt. Niemand kauft im Reisebüro Akir Flugscheine. «Dringend Fahrer gesucht», steht auf einem Zettel, der an einem der vorbeifahrenden gelben Taxis klebt. In Scharen haben pakistanische und ägyptische Chauffeure aus Brooklyn, sonst die Mehrheit unter den Taxifahrern, ihre Arbeit niedergelegt. Der Wirt des Restaurants «Caravan» hat sein Schaufenster gleich mit fünf Sternenbannern dekoriert – als ob er sich besonders schützen müsste. In jedem arabischen Geschäft hängen zudem Poster, die zu Blutspenden für die Terroropfer aufrufen. Hastig angebrachte Plakate der islamischen Mission verurteilen die Terrorakte aufs Schärfste: «Der Islam heisst keinerlei Angriffe auf Zivilisten gut, nirgendwo und unter keinen Umständen.»
Unter den sieben Millionen Amerikanern arabischer Herkunft geht die Angst um. Sie fürchten sich vor Vergeltungsattentaten, auch wenn Politiker wie New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani und auch Präsident Bush zur Besonnenheit aufgerufen haben: Araber verdienten den gleichen Respekt wie alle anderen Amerikaner. Doch seit dem Terrorangriff auf die USA haben sich bei der Arabisch-Amerikanischen Nothilfe in Brooklyn Hunderte von arabischen Amerikanern über anonyme telefonische Drohungen beklagt. Zusätzliche Furcht flössen Meldungen aus Florida und Texas ein. Dort verzeichnen Waffengeschäfte Rekordumsätze. Moscheen wurden beschossen, in Chicago griff ein wilder, US-Fahnen schwingender Mob islamisch aussehende Männer an, und auf dem Flughafen von Boston wurde ein Flieger in letzter Minute geräumt, nur weil ein «arabisch aussehender» Mann die Maschine betrat.
Ja, sie habe Angst, sagt Raeheb vom Video East Club. «Verschwinde aus unserem Land!», habe ihr tags zuvor ein aufgebrachter Mann mitten auf der Strasse zugerufen. Warum? Er hörte sie Arabisch reden. «Ich sagte ihm, dass ich noch nie etwas Schlechtes gemacht habe.» Und sie fügt unaufgefordert dazu: «Ich liebe die USA.»
Raeheb bekennt sich zum Islam, die Religion ist ihr wichtig. Der Koran verbiete Mord und Totschlag eindeutig, ausserdem sei auch Selbstmord Sünde. «Diesen Terror unter das Banner der Religion zu stellen, ist total absurd», sagt die Ägypterin, «wir glauben doch alle an den gleichen Gott.»
«Um diese irrationale Tat wenigstens annähernd zu begreifen, braucht es Schuldige», sagt der Jemenit Hussein, der in Brooklyn als Übersetzer arbeitet. «Es ist am einfachsten, alle Muslime zu Tätern zu machen.» Er bittet den Reporter, unbedingt zu schreiben, dass amerikanische Araber genauso schockiert sind wie amerikanische Christen, amerikanische Juden oder amerikanische Chinesen. «Die Berichte über arabische Schadenfreude über das Attentat sind falsch», betont Hussein.
Nur wenige wollen reden. Und wenn, dann vor allem über ihre Verbundenheit mit Amerika. Gar als «Mutter aller Nationen» bezeichnet der Übersetzer Hussein seine Wahlheimat. Das Land verkörpere doch alle Ideale. In Brooklyn hilft er Arabern bei der Beschaffung von Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen. Muslime dürften nun aber Mühe haben, überhaupt Visa zu erhalten. «Viele werden ihre Familien nicht hierher bringen können.»
Mit einem Rasierapparat legt der Sudanese Mohammed die Hinterkopfglatze eines Kunden frei. Seit 1994 betreibt er den Atlantic Barber Shop, ein Treffpunkt zum Plaudern. Heute wird aufgeregt debattiert. Alle sprechen über das World Trade Center. «Wir gehören zu Brooklyn», sagt der syrische Student Ali, «hört endlich auf, uns bloss als Muslime und Araber zu sehen.» In Amerika lebten alle Nationen mehrheitlich friedlich zusammen. «Die Attacke war ein Angriff auf die Menschheit.» Es sei doch viel zu früh, jemanden zu verurteilen. «Schon in Oklahoma City zeigten alle auf uns», sagt Ali. «Der Terrorist war damals weiss.» Bei einem Terroristen spiele es keine Rolle, welcher Religion er angehöre, wirft Mohammed ein. Und sind bei dem Anschlag auf das World Trade Center nicht auch Muslime getötet worden? «Bin Laden und seine Bande haben nichts mit dem Islam zu tun. Es ist eine Schande, wenn sie sich als Muslime bezeichnen.»
Wenigstens in New York, wo Einwanderer aus über 200 Nationen leben, gibt es auch Sympathiekundgebungen. Am vergangenen Sonntag versammelten sich Tausende auf der Atlantic Avenue. Gemeinsam zogen Christen, Muslime und Juden zur Promenade am East River und sangen «Peace, Salam, Shalom.»