Von Peter Hossli
Das ist nicht wahr. Es kann und darf nicht wahr sein. Ungläubig blickt der norwegische Grafiker von der 17. Strasse her gegen Süden. Das World Trade Center brennt. In beiden Türmen des Baus klaffen riesige Löcher. «Das ist nicht wahr», sagt Lars erneut. «Es muss ein Film sein.» Dann sucht er seine Freundin, zu Fuss. Telefonisch erreichen kann er sie nicht. Weder Mobil- noch Festnetz funktionieren. Die Metropole im Chaos. Und wo ist Holly? Eine Filmemacherin und nahe Bekannte, die bloss zwei Strassen von den Zwillingstürmen entfernt in Tribeca wohnt. Es ist kurz nach neun Uhr. Sie ist bestimmt uptown im Fitnessstudio und stemmt Gewichte.
Weit über 100 Menschen starren an der Ecke 17. Strasse und 6. Avenue gegen Süden. Die meisten sind sprachlos, vom Schock gezeichnet. Etliche umringen einen schwarzen Jeep, an dessen Dach ein Sternenbanner flattert. Zusammen hören sie Radio und erfahren so, dass zwei Flugzeu-ge in das World Trade Center gedonnert sind, mutmasslich von Terroristen geflogen. Immer wieder schweift der verzweifelte Blick zu den brennenden Türmen. «Es ist unmöglich, dass diese Konstruktion einem solchen Schaden standhält», sagt ein kräftiger Bauarbeiter, den blauen Plastikhelm gegen hinten gedreht.
Bald wird er Recht bekommen. Zuerst bricht der Südturm in sich zusammen, um 10 Uhr 24 auch der nördliche Zwilling. Zwillinge. So nannte man in New York die beiden bekanntesten Hochhäuser der Stadt. Ein kollektiver Aufschrei geht durch die Menge. «Oh, no.» «Please, no.» «Help.» «No.» Fremde fallen sich in die Arme. Sie brauchen jemanden, an dem sie sich festhalten können. Viele weinen. Auch der Reporter. Eine junge Frau sitzt zusammengesunken auf dem Randstein, den Kopf zwischen den Knien, die Arme im Haar.
New York steht unter Schock. Die Acht-Millionen-Stadt ist nicht mehr, was sie einmal war, und wird es nie mehr werden. Ins Herz getroffen, wohl für Jahre erschüttert. Ein Symbol, vielleicht das Symbol der Stadt, einfach weggefegt.
Egal, auf welchem der drei New-Yorker Flughäfen man bisher landete – zuerst war stets das silberne World Trade Center zu sehen. Erblickten es New-Yorker, wussten sie: Jetzt sind wir zu Hause. Für Touristen begannen mit dem Anblick der über 400 Meter hohen Türme aufregende Tage in der bis vor kurzem aufregendsten Stadt der Welt. Jetzt herrscht Ausnahmezustand. Von Apokalypse spricht einer, «das ist schlimmer als Pearl Harbor», sagt eine Anwältin im hellen Hosenanzug. Wie nach einer nuklearen Explosion sehe es im Süden von Manhattan aus, berichten Bekannte, die dort leben. Sie haben kein Wasser, keinen Strom, kein Telefon. Sie waten durch armhohen Staub, um bei Freunden Unterschlupf zu finden.
Und wo ist Holly? Hat sich noch immer nicht gemeldet. Meine Freundin, die zum Zeitpunkt des ersten Crashs noch in der Untergrundbahn war, ruft an, ist sicher im Büro angekommen. Ich bin froh.
Mittlerweile bilden sich vor den Telefonzellen lange Schlangen entlang der Sixth Avenue. Den Ehemann anrufen, das Kind, die Freundin, den Kollegen. Sind sie wohlauf? Mit dem Mobiltelefon hantieren nützt nichts. Das Netz ist zusammengebrochen. «Was ist mit meinem Bruder?», schreit entsetzt eine junge Frau. «Er arbeitet im World Trade Center.» Die Polizistin kann ihr nicht helfen. Sie weiss es auch nicht. Augenzeugen berichten, viele Leute hätten sich verzweifelt aus den Fenstern der Zwillinge gestürzt.
Drei Krankenschwestern vom Saint Vincents Hospital gehen entlang der Sixth Avenue. «Spendet bitte Blut.» Währenddessen brausen Lieferwagen der Telefongesellschaft Verizon nach Süden. Die Polizei stoppt sie – bis ihr eine Gruppe Ärzte ihre Ausweise entgegenstreckt und schreit: «Wir wollen doch nur helfen.» «Klar, fahrt durch», antwortet der Polizist. Ein paar Strassen nördlicher, an der Bleeker Street, regelt ein bärtiger Mann in kurzen Hosen den Verkehr. Die Stadtpolizisten haben dazu keine Zeit mehr. Ein Ruck geht durch die Stadt. Überall zeigt man sich hilfsbereit.
Eine gespenstische Ruhe liegt bereits kurz nach Mittag über Manhattan. Abgesehen von Sirenen ist nichts zu hören. Die meisten Arbeitgeber schicken ihr Personal nach Hause. Viele Verkaufsläden und Büros sind geschlossen. «Wie komme ich bloss nach New Jersey zurück?», fragt eine schwarze Sekretärin. Der Bürgermeister liess Brücken und Tunnels schliessen. Autos fahren wenige. Nur sporadisch braust ein gelbes Taxi vorbei: Sie kommen von Brooklyn, wo die meisten Taxifahrer wohnen, gar nicht erst in die Stadt. Ein Fortkommen gibt es nur zu Fuss. Die Untergrundbahn steht still. «Geht zur achten Avenue, dort hat es Busse, die nach Norden fahren», ruft ein Angestellter der öffentlich Verkehrsbetriebe in eine Gruppe nach Orientierung suchender Büroangestellter. «Sorry, Madame, es wird nicht mehr gewählt», richtet er einer älteren Frau aus. Für Dienstag waren in New York Vorwahlen für das Bürgermeisteramt und das Stadtparlament angesetzt. Bevor sie richtig anfingen, wurden sie abgesagt.
Südlicher als zur Canal Street kommen selbst Journalisten nicht. Beamte der Bundespolizei FBI haben den Sektor abgeriegelt. Etliche mit Staub überzogene Rettungswagen brausen vorbei. Front- und Rückscheiben eines Busses des Roten Kreuzes sind eingeschlagen. Hustend stülpt sich der Fahrer eine Maske über.
Blitzartig breiten sich auf den Strassen erste Verschwörungstheorien aus. «Es kann doch nicht sein, dass man am selben Tag vier Flugzeuge entführen kann», sagt ein Bauarbeiter an der Canal Street. «Das ist doch kein Problem», sagt sein Kollege, «die Sicherheit ist viel zu lasch.» Einer meint, die Haudegenpolitik der neuen Regierung habe all das provoziert.
Eine weitere Explosion jagt ein paar Skateboardern an der Canal Street immense Angst ein. «Jeder, der noch eine Bombe zu Hause liegen hat, lässt sie jetzt hochgehen», sagt ein gross gewachsener Schwarzer und rennt davon, nordwärts, wie Bürgermeister Rudolph Giuliani am Radio und am Fernsehen die Bevölkerung anwies. «Geht weg vom Staub.»
Und wo ist Holly? Es ist bereits drei Uhr nachmittags. Sie hat sich noch nicht gemeldet.
Später im Büro kommt eine E-Mail von Melissa an, einer befreundeten Künstlerin aus Brooklyn. Es gehe ihr und ihrem Verlobten gut, schreibt sie an 20 Adressaten. Bis auf ihren Onkel, der unweit des World Trade Center arbeite, habe sie alle kontaktieren können. «Ich bin erschüttert», schreibt sie. «Zusammen mit vielen anderen bin ich über die Brooklyn-Brücke nach Hause gerannt. Dort sah ich, wie die beiden Türme zusammenbrachen. Es war schrecklich.»
Gegen vier Uhr erreiche ich Bennett Marcus, einen Freund, der einen halben Kilometer vom World Trade Center entfernt wohnt. «Es ist surreal hier», berichtet er. Wie Schnee lägen gut fünf Zentimeter Staub auf der Strasse. Alle trügen Schutzmasken. «In Scharen rennen sie vor meinem Fenster die Strasse entlang.»
Gegen sechs Uhr meldet sich endlich Holly. Sie sei zu Fuss rund 15 Kilometer gegangen, vom World Trade Center bis an die 110. Strasse in Manhattan. Dort lebt ihre Nichte. «Sorry, ich fand kein einziges Telefon, das funktionierte.»
Ein persönlicher Nachsatz: Nicht einmal einen Steinwurf vom World Trade Center entfernt spielte ich immer am Donnerstag Fussball mit Frauen und Männern aus den USA, der Schweiz, Russland, Puerto Rico und Italien. Bei jedem Pass strahlten einen die silbernen Zwillinge entgegen.
Andrew Vladeck, Musiker
«Ich lebe in der Lower East Side und hörte einen Knall und laute Schreie. Als erstes ging ich auf die Strasse, um zu sehen, was los war. Dann rief ich meine Familie an, um zu wissen, ob alle unverletzt sind. Nun gehe ich zusammen mit meinem Cousin zum Saint Vincents Hospital, um Kleider abzugeben. Sie brauchen Kleider für die Leute, die leicht verletzt waren und jetzt entlassen werden können. Die haben mir beim Spital gesagt, es gebe genug Blut, also spende ich Kleider.»
Ayejefe Amster, Schauspielerin, aus Ohio
«Ich kam erst letzte Woche nach New York. Heute hätte die Premiere unseres Stückes stattfinden sollen. Normalerweise ist New York voller Leben, voller Energie und voller Hektik. Heute ist es still, die Strassen sind leer. Für mich ist es, wie wenn Gott nun überall präsent wäre. Ich sage: Der 11. September ist der Tag, an dem New York Gott in die Augen blickte. Es ist gespenstisch in den Strassen. Nun versuche ich herauszufinden, wie ich in die Bronx zurückkomme.»
Brigitte Schmid aus der Schweiz, seit drei Jahren in New York. Arbeitet bei einer Menschenrechtsorganisation
«Als ich aus der Subway kam, fiel mir sofort auf, wie ungewöhnlich still es war. Die Menschen starrten alle in eine einzige Richtung. Ich war auf einen Suizid gefasst; auf jemand, der aus einem Fenster springt, bis ich Richtung Süden blickte, Rauch über den Twin Towers sah. Plötzlich schoss eine Rauchwolke auch aus dem zweiten Turm. Es war, als würde mich jemand in den Bauch boxen. Im Büro schauten wir mit 40 anderen Fernsehen. Wir sind sonst eloquente Leute, aber jetzt war es einfach still.»
Nasir Satchi, Pakistani, arbeitet auf einem Parkplatz. Lebt seit 14 Jahren in New York
«Ich arbeite in Chinatown und habe die Explosionen gesehen. Es ist schrecklich. Ich bin aus Pakistan und lebe seit 14 Jahren in New York. Der Anschlag ist eine Tragödie für Amerika, so etwas darf einfach nicht passieren. Meine Gedanken und Gebete gelten den Opfern. New York ohne die Twin Towers? Das ist unvorstellbar. New York ist nicht mehr dasselbe. Von überall her konnte man die Türme sehen. Nun sind sie verschwunden. Dieser Tag ist eine riesige Tragödie für New York.»
Dan Peretz, Rechtsstudent
«Jemand stürmte in unser Klassenzimmer und schrie, wir sollten herauskommen. Wir rannten auf die 5. Avenue und starrten auf die brennenden Türme. Als die Twin Towers in sich zusammenfielen, ging ein Schrei durch die Menge. Dann war es totenstill. Es macht micht wütend, dass dies hier in den USA geschehen kann. Ich dachte immer, Amerika sei sicher. Wir geben mehr als 30 Milliarden pro Jahr für Sicherheit aus, und jetzt das. Unglaublich, dass in einem Tag vier Flugzeuge entführt wurden. Die wussten, was sie taten. Nur wir hatten keine Ahnung. Es war wie im Film “Independence Day”.»
Sandra Peretz, Mutter, Sozialarbeiterin
«Ich arbeite in Downtown Manhattan, gleich neben dem World Trade Center. Als ich aus der Subway stieg, sah ich Leute in die Luft starren. Viele meiner Arbeitskollegen arbeiten in der Gegend, ich habe keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Es ist surreal, das ist das Einzige, was ich im Moment sagen kann. Unfassbar. Gleichzeitig bin ich verblüfft, wie solidarisch und hilfsbereit die New-Yorkerinnen und New-Yorker sind. Alle versuchen, wieder auf die Beine zu kommen und anderen dabei zu helfen.»