Der Preis für verschütteten Kaffee ist meist doch nicht so heiss

Die Amerikaner und ihre Anwälte gelten als prozesswütig. Aber längst nicht jede Klage trägt Milliarden ein. Die Amerikaner klagen vor Gericht, was das Zeug hält, und bekommen absurd hohe Summen zugesprochen. So zumindest wird die US-Justiz in der Schweiz wahrgenommen. Wie viel Geld wurde in den spektakulärsten Fällen der letzten Jahre wirklich gezahlt?

Von Peter Hossli

Filmkritiker David Manning versprach köstlichste Unterhaltung. Im mittelalterlichen Ritterdrama «A Knight’s Tale», so war in einem Zeitungsinserat zu lesen, besiege der «heisseste neue Star der Saison» böse Mächte. Bloss: Manning gibt es nicht, die Produktionsfirma Sony hat ihn frei erfunden. Weil kaum jemand über den Film schrieb, ergänzte Sony ihre Werbeanzeigen kurzerhand mit den ausgetüftelten Texten eines Phantoms.

Der inzwischen aufgeflogene Schwindel könnte Sony teuer zu stehen kommen. Zwei verärgerte Kinogänger in Kalifornien haben Anfang Juni im Namen der betrogenen Filmfreunde eine Sammelklage gegen Sony eingereicht. Gibt ihnen ein Gericht Recht, muss der Unterhaltungsriese sämtliche Gewinne zurückerstatten, die Sony mit den Filmen erzielte, die mit ersonnenen Manning-Zitaten beworben wurden. Ein bizarrer Sonderfall? Nein. Eigenverantwortung ist nun mal keine amerikanische Tugend. Um Recht hat sich allein das Gesetz zu kümmern. Dieses Rechtsverständnis geht auf die Ursprünge der Gründerzeit zurück. Weil die Neue Welt weder Monarchie noch Kirche als Autorität kannte, obliegt hier zu Lande allein dem Gesetz die richtende Rolle. Bereits 1832 bezeichnete der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville die USA nach einer Amerikareise als «Land der Anwälte und Richter».

Zuweilen schadenfroh berichten europäische Medien über das angeblich blockierte US-Rechtssystem. Legendär sind die so genannten Beinbruch-Anwälte – Juristen, die Opfern von Unfällen nachstellen, um bis zu einem Drittel deren Schadensumme zu kassieren. Geschworenengerichte würden astronomische Bussen aussprechen, heisst es, und jede Sammelklage ziehe eine Lawine zusätzlicher Rechtsverfahren nach sich und schade damit vor allem der Wirtschaft.

Wachsende Bevölkerungs-, sinkende Klägerzahlen

Allerdings: Das grosse Geld erhalten in den USA die wenigsten. In den meisten Fällen kommt es gar nie zu einem Prozess. Zwar muss eine schuldige Partei für die eigentlichen Schäden sowie für Kosten, die aus den Umständen eines Fehlverhaltens entstanden sind, aufkommen. Doch, wie Studien zeigen, verknurren die Geschworenen nur selten eine Firma oder eine Einzelperson zu hohen Zahlungen.

Ist das tatsächlich doch einmal der Fall, bleiben den beklagten Parteien weit reichende Berufungsmöglichkeiten, die sich nicht selten über ein Jahrzehnt oder länger hinziehen. Äusserst selten behalten Urteile der ersten Instanz ihre Gültigkeit. Geschickte Verteidiger blockieren die Gerichte mit Papierbergen. Im Übrigen nutzen besonnene Richter ihre Möglichkeit, übertriebene Verdikte emotional urteilender Geschworener umzustossen. Meist schmälern sie die Schadensumme.

«Gute Anwälte schlichten», sagt die New Yorker Juristin Ayako Nagano. Für beide Parteien ist es weitaus billiger, nicht vor Gericht zu zie- hen. In 62 Prozent der in grossen US-Städten eingereichten Schadenersatzklagen wird innert Jahresfrist geschlichtet, errechnete das National Center for State Courts (NCSC) in Virginia. Bei bloss 3,1 Prozent der Klagen wird prozessiert. 1996 sprachen die grössten 75 US-Gerichte insgesamt eine Schadensumme von bloss 3 Milliarden Dollar aus. Und eine unlängst veröffentlichte NCSC-Studie korrigiert auch die Klischeevorstellung der Klägernation USA. Obwohl die Bevölkerung der USA in den Neunzigerjahren um 13 Prozent zunahm, verringerten sich die Schadenersatzklagen gleichzeitig um 6 Prozent.

Was aus berühmten Klagen geworden ist

Abmagerungspille Fen-Phen
Der Fall: Eine Pille, die dünn macht, sollte den US-Pharmariesen American Home Products (AHP) reich machen. Ab Mitte der Neunzigerjahre verschrieben Ärzte Übergewichtigen die Pillenmixtur Fen-Phen. Das Medikament würde sowohl den Appetit zügeln als auch schneller Kalorien verbrennen. 1997 musste AHP die Pillen vom Markt nehmen – sie hatten bei Patienten die Herzklappen angegriffen. Die Folge waren Atemnot und Wasser im Gewebe.

Was daraus wurde: Von den 6 Millionen Personen, die Fen-Phen nahmen, klagten 11’000. Im Oktober 1999 einigte man sich auf einen Vergleich: AHP werde während 15 Jahren insgesamt 3,75 Milliarden Dollar Schadenersatz zahlen. Einige Anwälte der Opfer legten Berufung ein. Im August 2000 bestätigte ein bundesstaatliches Gericht die Summe. Vorbei ist die Sammelklage, der mittlerweile über 200’000 Leute beigetreten sind, noch lange nicht. 45’000 Betroffene beschreiten eigene Wege. In Oregon sprach ein Richter zwei Opfern 29,2 Millionen Dollar zu – AHP legte Berufung ein. Man einigte sich, ohne die Summe zu nennen. AHP liess unlängst verlauten, man lege noch mehr Geld zur Seite. Derzeit streiten auch noch die Anwälte über ihre Honorare und blockieren damit die Auszahlung.

Heisser McDonald’s-Kaffee
Der Fall: Eine Milliarde Becher Kaffee schenkt der Hamburgerriese McDonald’s jährlich aus. Das braune Getränk wird jeweils extrem heiss serviert. Der Kunde, verlangt das McDonald’s-Manual, müsse einen Kaffee von mindestens 82 Grad Celsius erhalten. Das wusste Stella Liebeck nicht, als sie 1992 in Albuquerque, New Mexico, in einem Drive-in-McDonald’s für 49 Cents einen Becher Kaffee kaufte. Als die 79-Jährige den Deckel abnahm, um Milch und Zucker zuzufügen, leerte sie sich den Kaffee über Schoss, Oberschenkel und Gesäss. Liebeck erlitt Verbrennungen dritten Grades und verklagte McDonald’s, weil das Produkt schadhaft – zu heiss – sei.

Was daraus wurde: Ein Gericht verurteilte McDonald’s zu einer Zahlung in der Höhe von 2,9 Millionen Dollar, 200’000 für Schadenersatz und 2,7 Millionen Dollar für Wiedergutmachung. Ein Berufungsrichter reduzierte die Wiedergutmachung auf 640’000 Dollar. Peinlich für die Schnellimbisskette – sie kannte das Problem. Mehr als 700 Leute hatten sich schon früher über den allzu heissen Kaffee beklagt. In einzelnen Fällen hatte man sich aussergerichtlich geeinigt. Der oft belächelte Fall deckte ein echtes Gefahrenpotenzial auf – seither sind alle amerikanischen Kaffeebecher mit der Aufschrift «Achtung, heiss» versehen.

Tabakindustrie
Der Fall: Rauchen ist gefährlich, das weiss längst jedes Kind. Nur: Das habe die Tabakindustrie lange Zeit verheimlicht, argumentieren Anwälte amerikanischer Bundesstaaten sowie der US-Regierung. Die Zigarettenindustrie müsse für die gesundheitlichen Schäden aufkommen, die sie angerichtet habe. Diese Argumentationskette führte zu einem schier endlosen Wirrwarr an Klagen – Einzelpersonen, Sammelklagen sowie Zivilprozesse, die die US-Regierung anstrengt. Über einen besonders dramatischen Aspekt drehte Hollywood 1999 den packenden Thriller «The Insider».

Was daraus wurde: 1998 einigten sich die 50 Bundesstaaten und die amerikanischen Tabakfirmen auf eine Zahlung von 206 Milliarden Dollar während 25 Jahren. In einem anderen, derzeit aktuellen Fall zeichnet sich ebenfalls eine Einigung ab. 1999 verklagte die US-Regierung unter Präsident Bill Clinton die Tabakindustrie auf 20 Milliarden Dollar Schadenersatz – Gesundheitskosten für rauchende Angestellte des Staates. Vorletzte Woche sagte Staatsanwalt John Ashcroft, die neue Regierung unter George W. Bush werde sich mit den Zigarettenfabrikanten wohl aussergerichtlich einigen. Antiraucherorganisationen reagierten prompt. Sie bezeichneten eine mögliche Einigung als «Dankeschön der republikanischen Regierung». Die Tabakindustrie hätte der republikanischen Partei 6,4 Millionen Dollar an die jüngsten Wahlkampfkosten bezahlt.

«Exxon Valdez»
Der Fall: 1989 havarierte der Tanker «Exxon Valdez» vor der Küste Alaskas. 11 Millionen Fass Öl flossen aus und verdreckten 1800 Kilometer Küste.

Was daraus wurde: 1994 verurteilte ein Geschworenengericht in einem Zivilprozess die Firma Exxon Mobil Corporation zu einer Zahlung von insgesamt 5,3 Milliarden Dollar – 300 Millionen Schadenersatz sowie 5 Milliarden Dollar Wiedergutmachung für die rund 30’000 Betroffenen.