«Bush ist ökologisch eine Minikrise»

Der US-Umweltexperte Christopher Flavin über Weltpolitik und Umweltschutz.

Von Peter Hossli

US-Präsident George W. Bushs Ausstieg aus dem Kyoto-Abkommen zur Verringerung der Treibhausgase hat das Verhältnis zwischen Europa und den USA getrübt. Bedroht ist ein sechsjähriger Prozess, bei dem am Schluss weltweit anerkannte Umweltschutzstandards in Kraft gesetzt werden sollten. Kann sich die Weltgemeinschaft am kommenden Umweltgipfel im Juli in Bonn nicht auf ein Weitermachen einigen, scheitert Kyoto. In den USA stiess die Umweltpolitik der neuen Regierung ebenfalls auf harsche Kritik. Etwa beim angesehenen amerikanischen Institut Worldwatch. Eben erst publiziert es das 300-Seiten starke Buch «Zur Lage der Welt 2001», die jährliche Bestandesaufnahme des ökologischen Zustands der Erde. Im CASH-Gespräch prophezeit Worldwatch-Präsident Christopher Flavin, Bush werde wegen seinen Entscheiden schweren politischen Schaden nehmen. Im Übrigen erhalte die Umweltbewegung starken Aufschwung. Leidtragende sei die US-Industrie, die die Entwicklung neuer Technologien verpasse.

Mister Flavin, warum verliert George W. Bush in vier Jahren die Wahlen?
Christopher Flavin: Gilt er dann noch als Anti-Umweltschützer, wird er an den Wahlurnen enrome Probleme bekunden. Umweltgegner, das zeigt der Trend der letzten paar Jahre, verlieren ständig an Stimmen. Links und in der Mitte.

Verlieren möchte Bush wohl kaum. Warum kippte er trotzdem etliche Umweltschutzverordnungen?
Flavin: Bush nahm ein Problem mit ins Weisse Haus: Er hat zuviele enge Freunde in der Schwerindustrie. Die setzen ihn nun unter Druck, die Umweltstandards von Bill Clinton umzustossen. Im Übrigen sind die rechtslastigen «think tanks» in Washington heute weit mächtiger als vor zehn Jahren. Sie treiben Bush in eine gefährliche Ecke, weitab vom Mainstream.

Sie können nicht so einflussreich sein, um die präsidiale Politik zu diktieren.
Flavin: Da täuschen Sie sich. Sie sind extrem einflussreich. Industrien wie Bergbau, Kohle und Öl haben bei den vergangenen Wahlen übermässig viel Geld an die republikanische Partei gespendet. In der Regel teilt die Wirtschaft ihre Spenden zwei. Heuer gab die Energiewirtschaft aber 90 Prozent an die Republikaner. Jetzt haben sie das Gefühl, Bush stünde ihn ihrer Schuld.

Wird Bush die Schulden begleichen?
Flavin: Mehr kann er ja gar nicht machen. Er hat sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, die ein US-Präsident hat.

Inzwischen bemüht sich Bush aber, auf die negativen Reaktionen mit Aktionen zu reagieren. Sind diese ernst zu nehmen?
Flavin: Es sind grösstenteils bedeutungslose PR-Manöver. Die Regierung hat aber erkannt, dass ihr das negative Umweltimage die Wahlen kosten könnte.

PR allein hilft der Umwelt wenig.
Flavin: Solange sich Bush damit in der Öffentlichkeit durchmogeln kann, wird er nichts Wirksames unternehmen.

In Europa hat man das Gefühl, Amerikaner sorgten sich nicht sonderlich um den Schutz der Umwelt.
Flavin: Falsch. Jüngste Meinungsumfragen zeigen das Gegenteil. Die Entscheide von Bush haben das amerikanische Interesse an der Umwelt massiv erhöht.

Amerikaner sorgen sich erst dann, wenn sie bedroht sind. Nicht gerade eine umweltfreundliche Haltung.
Flavin: Das stimmt schon. Als Clinton regierte, wars ziemlich ruhig. Jetzt, mit Bush als Präsident, verzeichnen Umweltschutzorganisationen aber erneut regen Zustrom.

Für Al Gore war Umweltschutz sehr wichtig. Nichtsdestotrotz hat er verloren.
Flavin: Es ging ja nicht bloss darum. Wären Themen im Vordergrund gestanden, hätte Gore gewonnen. Gores Umweltpositionen waren populärer als Bushs. Das bedeutet: Bush wurde nicht gewählt, um den Umweltfortschritt der letzten Jahre umzukehren. Bush äusserte sich während des Wahlkampfes ohnehin moderater. Hätte er den Leuten seine tatsächliche Umweltpolitik präsentiert, hätte er die Wahl verloren. Mit der Umkehr bei den Arsenwerten im Wasser, dem Umstoss des Kyoto-Protokolls, der CO2-Emissiongrenzwerten sowie der Freigabe grosser Waldflächen zur Abholzung gewinnt niemand eine Wahl.

Dann hat Bush die Wähler belogen?
Flavin: Bei Politikern muss man das Verb «lügen» vorsichtig einsetzen. Politiker verdrehen ihre Politik ständig. Ich sage: Bush hat die Öffentlichkeit irregeleitet.

Mit dem Ausstieg der USA aus dem Kyoto-Protokoll hat er dem Bemühen, internationale Standards in Kraft zu setzen, einen schweren Schlag versetzt. Warum ist es schlecht, Kyoto nicht voranzutreiben?
Flavin: Wir arbeiteten sechs Jahr, um an diesen Punkt zu kommen. Wenn wir jetzt wieder vorne anfangen müssen, wirds sehr schwierig, 180 Länder von einer globalen Umweltpolitik zu überzeugen. Wir müssen unbedingt weitermachen.

Die amerikanische Umweltministerin hat Kyoto für tot erklärt.
Flavin: Allein kann die USA Kyoto nicht zur Strecke bringen. 55 ratifizierende Länder genügen, um das Protokoll in Kraft zu setzen. Wenn an der Bonner Umweltkonferenz im Juli entschieden wird, weiter zu verhandeln, überlebt Kyoto. Europa, Japan und Russland könnten das Protokoll durchaus alleine durchbringen. Das wäre eine ziemlich starke Front.

Die Solidarität unter diesen Ländern scheint aber eher fraglich.
Flavin: Bush hat Hervorragendes geleistet, sie in Sachen Umweltschutz zu vereinen. Besorgt sind wir nur wegen Japan. Die Japaner stellen sich ungern gegen die USA. Überdies sind sie stolz auf «ihr» Protokoll. Was der neue japanische Premierminister macht, ist ungewiss. Zumindest die Presse Japans ist Pro-Kyoto. Derzeit verhandeln EU-Minister mit japanischen Vertretern in Brüssel. Bis zum Bonner Treffen im Juli steht uns demnach ein dramatischer Kampf bevor.

Übt die USA Druck aus?
Flavin: Das liegt im Bereich der amerikanischen Möglichkeiten, wie das Treffen von Rio ja gezeigt hatte. Dort wechselten etliche Regierungen nach Druckversuchen auf Seiten der USA. Heute ists anders. Die Weltöffentlichkeit begnügt sich nicht mehr mit einem Nein. Sie erwartet von den USA einen Alternativvorschlag.

Das wäre aber gefährlich. Es würde das Amerika freundliche Japan von Kyoto abbringen und Europa spalten.
Flavin: Die jetzige US-Regierung ist nicht intelligent genug, um eine brauchbare Alternative zu Kyoto zustande zu bringen. Und die Rechte wird alles blockieren, das nur im Geringsten von Bedeutung ist.

Der «Economist» schreibt, die Emissionsziele von Kyoto seien für die USA schlicht zu strikt. Müsste man ihr nicht entgegenkommen?
Flavin: Diese Ziele sind doch der Kern des Abkommens. Wenn man sie eliminiert, ist das Abkommen tot.

Was schlagen Sie statt dessen vor?
Flavin: Der Rest der Welt soll ohne die USA voranschreiten.

Ein Alleingang ist illusorisch. Amerika verbrennt 20 Prozent der Energie und stösst ein Viertel aller Abgase in die Luft.
Flavin: Das stimmt. Es gibt aber bloss zwei Möglichkeiten: Entweder der Rest der Welt macht ohne USA weiter oder der Prozess bricht zusammen. Die USA wird den Austritt aus Kyoto noch bereuen. Sie verpasst enorme wirtschaftliche Möglichkeiten. Sie wird bei den neuen Technologien arg ins Hintertreffen geraten. Einige US-Industrien sind bereits nervös.

In der Regel bremsen Umweltschutzstandards die Wirtschaft. Amerika hat heute die weltweit stärkste Wirtschaft. Brauchen die Supermacht tatsächlich neue Wirtschaftsmöglichkeiten?
Flavin: Der Umweltschutz ist kein Feind des Wachstums. Kyoto würde bloss einen Rückgang veralteter Industrie bedeuten, dafür einen enormen Wachstumsschub für neue. Kreiert werden Jobs fürs 21. Jahrhundert. Diese neuen Industrien verfügen erst über geringe politische Macht. Die alten, aussterbenden Wirtschaftszweige sind politisch nach wie vor die mächtigen, obwohl ihre reale wirtschaftliche Macht am zerfallen ist.

Umweltschutz stimuliert die Wirtschaft kaum. Produkte werden teurer.
Flavin: Gute Umweltschutzpolitik stärkt die Wirtschaft. So profitiert die High-Tech-Industrie davon. Sie entwickelt zahlreiche neue Produkte. Aber ehrlich: Umweltpolitik hat keinen wirklich grossen Niederschlag auf die Wirtschaft, weder negativ noch positiv. Hat das Ende der Pferd-und-Wagen-Gesellschaft wirtschaftlich geschadet? Jene Leute, die Hufeisen schmiedeten, verloren ihre Stellen; die Autoindustrie gab ihnen neue. Heute ists nicht anders. Ein neues und umweltfreundliches Energiesystem wird neue Jobs schaffen.

Die angeschlagene Umwelt retten Sie damit längst nicht.
Flavin: Es braucht eine nachhaltige und hochentwickelte Politik mitsamt intelligenter Wirtschaft. Menschen wie Umwelt müssen gesunden. Wir habe ja noch andere Werte als das Geldverdienen. Im Übrigen brauchts weltweit robuste Gesellschaften. Die Lücke zwischen Arm und Reich muss verschwinden.

Passiert das, droht der Umweltkollaps. Fahren Milliarden Chinesen und Inder so häufig Auto wie die Amerikaner und Europäer, nimmt die Belastung massiv zu.
Flavin: Deshalb brauchts andere Ansätze. Das US-Transportsystem, das auf das Auto setzt, funktioniert global nicht.

Die Weltwirtschaft basiert grösstenteils auf der Automobilindustrie. Die werden Sie so leicht nicht los.
Flavin: Wenn man betrachtet, wie sehr sich unsere Gesellschaft während des zwanzigsten Jahrhunderts verändert hat, scheint vieles möglich.

Das Gegenteil passiert. Die Welt wird täglich amerikanischer. Wie wollen Sie das stoppen?
Flavin: Die Trends sind doch gemischt. Überall gibts Gegenbewegungen. Fahrgemeinschaften florieren. Kein landwirtschaftlicher Sektor wächst rascher als der organische. Windenergie wächst jährlich um 25 Prozent. Wer genau hinschaut, erkennt eine wirtschaftliche Revolution.

Die US-Wirtschaft hat gemischt reagiert auf Bushs Kyoto-Umfaller. Warum?
Flavin: Die meisten Firmen operieren multinational. Sie wollen nicht nach unterschiedlichen Standards produzieren. Sie begrüssen das Kyoto-Protokoll, weil es ihre Arbeit vereinfacht.

Bei Harmonisierungen passt man sich meist dem niedrigsten Standard an.
Flavin: Das wird einer der grossen Streitpunkte des 21. Jahrhunderts werden.

Viele Schweizer scheuen die EU, weil sie Angst haben, sie müssten sich aufs Niveau der EU senken.
Flavin: Die EU hat in den meisten Fällen die Standards erhöht. Im Umweltbereich erzeugt sie mehr Positives als Negatives.

In 34 Sprachen publizieren Sie alljährlich das Buch «Zur Lage der Welt». Wie gehts der Welt?
Flavin: Ökologisch stehts schlecht. Die Luftbelastung nimmt stark zu, ebenso die Treibhausgase. Unberührte Flächen verringern sich. Dieser Trend bereitet Sorgen. Gesellschaft und Wirtschaft sind vielversprechend. Etliche Länder haben ihre sozialen Umstände verbessert und die Armut vermindert, allerdings nicht in Afrika und Südasien. Die Industrie hat Enormes geleistet bei der Entwicklung nachhaltiger Technologien, etwa bei der Windkraft, der organischen Landwirtschaft, Recycling. Die Autoindustrie ist dem Wasserstoffantrieb ein beachtliches Stück näher gekommen.

Dann sind Sie optimistisch?
Flavin: Ja. Es braucht stets Krisen, um voranzukommen. Bush ist eine Minikrise. Die Reaktionen in den USA und anderen Teilen der Welt ermutigen mich sehr.

In ihrem Buch alarmieren Sie aber. Sie beklagen das Abschmelzen der Polkappen oder das Aussterben zahlreicher Amphibien. Wie kann da ein Land wie die USA einfach wegschauen?
Flavin: Amerika schaut nicht weg, nur der politische Leader. Dieser Präsident hat keine Ahnung, was die Öffentlichkeit denkt. Er weiss überhaupt sehr wenig, genau wie seine Regierungsmitglieder.

Sie treffen oft andere Regierungschefs. Sind die etwa besser informiert?
Flavin: Viele europäische Leader wissen weit besser Bescheid. Sie interessieren sich für Umweltpolitik, sogar rechtslastige Regierungen. Die Periode unter Helmut Kohl etwa war sehr substantiell.

Wer muss die Verantwortung übernehmen, Regierungen oder die Wirtschaft?
Flavin: Fortschritt gibts nur, wenn Regierungen und Wirtschaft zusammenarbeiten. Der Staat muss umweltfreundliche Gesetze schaffen und steuerliche Anreize für umweltfreundliche Technologien gewähren.

Sie sagen, die Führung der Welt müsse aufgeteilt werden. Seit dem Ende des Kalten Krieges folgen aber alle den USA.
Flavin: Die Welt ist vielfältiger als Sie denken. Die europäische Wirtschaft ist grösser als die amerikanische. Bald wird China die grösste Wirtschaft der Welt haben. Lateinamerika tritt vereinter auf denn je. Deshalb schlagen wir ein Konzept vor, dass die Balance der Gewalt neu regelt: E-9. Eine Gruppe, welche die G-8 verdrängt. Sie repräsentiert 67 Prozent der Bevölkerung, der wirtschaftlichen Produktion, der natürlichen Ressourcen und des CO2-Ausstosses.

Wer gehört dazu?
Flavin: Die USA, die EU, Russland, Japan, China, India, Brasilien, Indonesien sowie Südafrika.