Wie Schnappschüsse eine Freundschaft zerstören

Henri Cartier-Bresson und David Douglas Duncan, zwei Altmeister der Fotografie, geraten sich in die Haare.

Von Peter Hossli

Der 92-jährige Henri Cartier-Bresson, gemäss New York Times der «berühmteste lebende Fotograf», ist wütend. Sein ebenfalls illustrer Kollege, der 85-jährige Fotograf David Douglas Duncan, hat ihn fotografiert. Um Erlaubnis fragte er nie. Obendrein liess Duncan den Schwarzweissfilm, auf den er Cartier-Bressons selten abgelichtetes Gesicht bannte, entwickeln und versammelte sämtliche Fotos in einem dünnen Bildband.

Duncans Buch «‹Faceless›. The Most Famous Photographer in the World» ist nun in Amerika erschienen. Darüber entbrennt ein wüster Zwist zwischen zwei angesehenen älteren Künstlern. Eine über Jahre andauernde Freundschaft ist zerbrochen – und ein Strauss moralischer, rechtlicher wie künstlerischer Fragen will geklärt sein: Welche Grenzen muss ein Künstler einhalten, welche darf ein Künstlerobjekt setzen? Wer besitzt in welchem Land ein Recht aufs eigene Bild, wer nicht? Was ist professionelle Qualität, was amateurhafter Unfug? Wo endet Freundschaft?

Die Geschichte beginnt im Frühling 2000. David Friend, Redaktor beim amerikanischen Magazin Vanity Fair, will über grosse alte Fotografen einen Artikel schreiben. Dazu sollen grosse alte Fotografen ihre Kollegen fotografieren. Friend heuert den Magnum-Mitgründer Henri Cartier-Bresson an, um David Douglas Duncan zu porträtieren. Die beiden Freunde, kennen sich seit 51 Jahren.

«Duncan ist ein Gigant», sagt Friend, «der Einzige, der im Zweiten Weltkrieg, in Korea und Vietnam hervorragend fotografierte.» 1956 durfte er sich als erster Fotograf im Kreml umsehen. Ein zufälliges Treffen mit Nikita Chruschtschow öffnete ihm das sowjetische Machtzentrum.

Per Telefon aus Tokio schildert Duncan nun, wie es zum Zank kam. Auf den 25. Mai 2000 lädt Cartier-Bresson seinen jüngeren, seit 40 Jahren in der Nähe von Cannes lebenden Kollegen nach Paris ein. Er lichtet ihn vor dem Pariser Picasso-Museum ab. Nachher erfrischen sich die beiden älteren Herren gemeinsam mit Duncans Gattin Sheila im Gartencafé des Museums. Sheila macht ein paar Farbfotos von beiden. Dann spannt Duncan einen Schwarzweissfilm in die Pentax-Kamera. Er knipst und knipst immer wieder, bis in fünf Minuten sämtliche Bilder belichtet sind. Im Sucher erstarrt 39-mal Cartier-Bresson, mal mit, mal ohne seine Leica, mal schaut er zur Seite, mal verdeckt er das Gesicht.

Anonymität als unschätzbares Gut

Ein Gesicht, das nur wenige kennen. Wie kaum ein anderer Fotograf hütet Cartier-Bresson sein Antlitz. Anonymität sei ein unschätzbares Gut, erzählte er vor Jahren der New York Times. «Allein das komplette Verschwinden machte es mir möglich, genau zu beobachten.» Bloss 43 öffentliche Bilder soll es von ihm geben, die Hälfte davon gemacht von seiner Frau, der Fotografin Martine Franck. Genau wie Duncan jetzt, liebt er den überraschenden Schnappschuss, das heimliche Bild aus der Hinterhand. In einem Fernsehinterview mit dem US-Sender PBS beschreibt der Franzose unlängst seine Technik als «genau zielen, schnell abdrücken und rasch verduften». Ein BBC-Kritiker preist dessen «unerreichte Fähigkeit, jemanden natürlich und nicht in Pose abzulichten». Sein stilprägendes Buch trägt den Titel «The Decisive Moment», der massgebende Augenblick. Keiner findet den präziser als Henri Cartier-Bresson.

Umso wichtiger sei es, solche Momente vom grossen Meister selbst zu publizieren, begründet Duncan das spontane Buchprojekt. «Mir geht es einzig darum, einen grossen Fotografen, den ich bewundere, zu ehren. In diesem Buch steckt viel Liebe für Henri.» Alle Einkünfte, die er damit verdiene, stifte er Fotografieschülern. Ursprünglich dachte er nicht an eine Publikation. Erst als er den entwickelten Film sieht, glaubt er an den grossen Wurf. Tags darauf zeigt er die Kontaktabzüge Cartier-Bresson. «Die sind nur für den Privatgebrauch», bescheidet ihn der Franzose.

Später sendet Duncan Cartier-Bresson die gestalteten Buchseiten. Von den 39 Bildern verwendet er 37. Die Reaktion ist knapp und vernichtend. Cartier-Bresson hält die Fotos für «bestenfalls mittelmässig» und bittet Duncan erneut, sie keinesfalls zu veröffentlichen. So rasch gibt der Gescholtene nicht auf. In einem zweiten Brief schmeichelt er, das Buch zeige «einen aussergewöhnlichen Mann in erstaunlicher Tiefe – kühl, distanziert, neugierig, irritiert, tagträumend, hochnäsig, gelangweilt, gütig, professionell, mystisch, nobel, liebend». Cartier-Bresson lehnt ab. Stattdessen wird er, erzählt Sheila Duncan, «wahnsinnig wie eine Hornisse».

Wer hat das Recht am Bild?

Kein Verleger will das Buch drucken. Zahlreiche winken ab, weil, sagt Duncan, «Cartier-Bresson alle anrief und drohte, sie würden nie mehr ein Bild von ihm veröffentlichen». Schliesslich langt der kleine, feine französische Fotografie- und Kunstverlag Assouline zu.

Seither versucht der gekränkte Franzose, das Buch mittels gerichtlicher Verfügung zu stoppen. In Frankreich mit Erfolg. In Amerika, wo freie Meinungsäusserung höher bewertet wird als das Recht auf Privatsphäre, blitzt er ab. «Warum sollte er das Buch verhindern dürfen?», fragt Dorothée Walliser, Sprecherin der amerikanischen Assouline-Filiale in New York. «Keines der Bilder zeigt Cartier-Bresson in despektierlicher Weise. Es ist gute Fotografie.» In Amerika besitze der Fotograf das Recht am Bild. Wochenlang hätten Cartier-Bressons Anwälte protestiert. «Als er realisierte, dass er hier chancenlos ist, kam keine Post mehr», sagt Walliser. Die Startauflage umfasst 20 000 Stück. In Europa sei das Buch blockiert, sagt sie, weil Cartier-Bresson Franzose sei. «Er hat dort viele Freunde.»

Anrufe der Weltwoche beantwortet Cartier-Bresson nicht. Der New York Times beschied er, seine Wut gegen das Buch hätte nichts mit Eitelkeit oder dem angeblichen Monopolanspruch seiner Gattin auf Cartier-Bresson-Porträts zu tun. «‹Faceless› ist schlicht ein schlechtes Buch», sagt er. «Absolut uninteressant, mittelmässig, eine plumpe Serie von Schnappschüssen.» Es seien Bilder, die entstehen, wann immer eine Kamera funktioniere. Kein einziges echtes Porträt, hinter den Bildern fehle das Auge. Duncan, so Cartier-Bresson, habe einen einzigen Film verwendet und jedes Bild drucken lassen. «Warum hat er nicht ausgewählt?»

Duncan hingegen hält sein Buch für «wichtiger als das Ego von Henri Cartier-Bresson». Stimmt ihn nicht traurig, dass die langjährige Freundschaft an einem Fünf-Minuten-Projekt zerbricht? «Henri ist kein Freund mehr. Er glaubt, ich sei ein furchtbarer Mann.» Trotzdem seufzt er. «Natürlich hoffe ich unsere Freundschaft wieder hinzukriegen. Henris heftige Reaktion ist unfair.» Cartier-Bresson habe ja stets gewusst, dass er fotografiert werde. «Wir sassen einander gegenüber. Er sah genau, was geschah.»

Duncan, der über zwanzig Bücher veröffentlicht hat, glaubt, mit «Faceless» Fotografie-geschichte zu schreiben. «Bis anhin hat niemand in fünf Minuten ein ganzes Buch geschafft.» Ob es künstlerischen Ansprüchen genüge, überlasse er der Kritik. «Es ist kein gutes Buch geworden», sagt Vanity Fair-Journalist David Friend. Er vermutet hinter dem Streit «dumme Machospiele». Vor Jahren sei es in Arles zu einem bizarren Zwischenfall gekommen. Ein junger Fotograf wollte Cartier-Bresson ablichten. Der flippte aus. Dun-can wollte seinen Freund beruhigen: «Zier dich nicht.» Cartier-Bresson erzürnte, nahm den Spazierstock und zielte in Duncans Auge. «Dafür rächt sich Duncan jetzt», sagt Friend. «Es ist so komisch wie tragisch.»