«Erfinden kann das wirklich keiner»

Zuerst lachte Al Gore erlöst, dann George W. Bush. Jetzt müssen beide weiterzittern, bis die Nachzählung in Florida beendet ist. Das Protokoll einer Wahlnacht mit skurrilen Zügen - und ohne Ergebnis.

Von Peter Hossli

«Guten Morgen, Amerika. Es ist Wahltag», weckt am Dienstag die gewohnt monotone Männerstimme von «National Public Radio», dem staatlichen Radiosender. «Morgen haben wir einen neuen Präsidenten. Noch ist ungewiss, wer gewinnt.» Endlich. Nach 18 Monaten Dauerwahlkampf und drei Milliarden ausgegebenen Kampagnendollar bestimmt Amerika die Zukunft nach Präsident Clinton.

Den Puls der fröhlichen und wirtschaftlich boomenden Nation kann man mancherorts fühlen. Etwa im Grand Central Terminal von New York. Hier liegen die Morgenblätter zuerst auf. «Jetzt seit Ihr dran!» und «Wählt einen!» titeln die Boulevardzeitungen. Zwei Millionen Menschen kommen am zentralen Bahnhof an, eher Konservative mit dem Zug von Suburbia, eher Liberale mittels Untergrundbahn von Brooklyn. Nur die Beamten fehlen, die haben frei. Auf den Treppen zu den Geleisen haben vor kurzem noch Hillary Clinton und Vizepräsident Al Gore Hände geschüttelt. Heute verteilt dort nur noch ein Unermüdlicher ein paar Zettel, auf denen er New York vor der First Lady warnt, die in den Senat möchte. Weg sind die Wahlplakate, abgereist die vielen Helferinnen.

«Vote Here», steht auf dem offiziellen Schild neben dem Wahllokal beim Bahnhof. «Wahlkampf ist nicht erlaubt.» Die Warteschlangen sind lang. Eine hohe Wahlbeteiligung prognostizieren die Beobachter schon am späten Morgen, höher als vor vier Jahren. «Ist das gut oder schlecht für Gore?» fragt ein eleganter Mittvierziger, der einen Jagdhund an der Leine führt. «Es wird ihm helfen», glaubt die Musiklehrerin Rebecca, die ihren Familiennamen nicht nennen mag. Aus taktischen Gründen wählt sie den Grünen Ralph Nader und hofft, ihre Stimme schade Gore nicht. «Das amerikanische Zweiparteiensystem ist überholt», sagt Rebecca, «deshalb gebe ich meine Stimme dem Aussenseiter. In New York ist das ungefährlich. Sonst ist eine Nader-Stimme eine Bush-Stimme.» New York ist Goreland. Und Clintonland. Hillary Clinton, glaubt Rebecca, schreibe heute Geschichte und werde als erste Präsidentengattin in den Kongress einziehen. «Dann wäre eine weitere Mutter vertreten. Mütter verstehen Probleme besser.» In der Schlange steht die 58-jährige Filmemacherin Holly Fisher, sie wählt demokratisch. Siegessicher ist sie nicht. «Gore hat eine miserable Kampagne geführt», sagt die Regisseurin. «Ich bin enttäuscht, dass er sich von Clinton distanziert hat.» Etliche Wählerinnen und Wähler diskutieren nach der Stimmabgabe, ausgelassen ist die Stimmung. Nichts von lähmender Langeweile, die angeblich über dem Land liegen soll. Kostenlos karren Taxis eine Gruppe Behinderte zum Wahllokal. «In den letzten Tagen hat mich das Wahlfieber gepackt», sagt eine weisshaarige Frau. Ihr hilft ein schwarzer Chauffeur in den Rollstuhl. Weil die schwerfällig anmutende Wahlmaschine versagt, muss sie den Zettel von Hand ausfüllen. Später berichten lokale Medien über besorgniserregendere Vorkommnisse: In Queens und Teilen von Brooklyn überwachen Polizisten den Urnengang – Schläger sollen Emigranten einschüchtern und an der Stimmabgabe hindern.

Mittlerweile blickt das Fernsehen ins Land hinaus. Bis Mittag wählen die Hauptakteure. «Ich gewinne bestimmt», sagt Vizepräsident Al Gore in Nashville. Im blauen Sportsjackett wählt der Texaner George W. Bush. Er sagt nichts und wirkt nervöser als sonst. Der übliche Siegesdaumen bleibt unten, das breite Grinsen unterdrückt er. Einen matten Schlussspurt habe Bush hingelegt, sagen noch am Wahltag die Politauguren. Ein anderer prominenter Wähler wirkt entspannter: Bill Clinton – zum ersten Mal seit 26 Jahren steht sein Name auf keinem Wahlzettel. Am Wahlhäuschen, das einer Latrine ähnelt, lässt er seiner Gattin den Vorzug. Nicht er, Hillary strahlt ins Blitzlicht der Fotografen. In New York, weiss sie, siegen an diesem milden Herbsttag die Demokraten.

Im Fernsehen gerät die lange Nacht zur emotionalen Achterbahn. Keiner der beiden Kandidaten erhält ein klares Mandat. Zuerst führt Bush, dann Gore, bald wieder Bush. Lange nach Mitternacht hat weder Gore noch Bush einen klaren Vorsprung. Entscheidend ist, wie vorausgesagt, der Ausgang in Florida. Wer im Orangen- und Seniorenstaat siegt, gewinnt. Zu früh schreiben die Medien Florida dem Vizepräsidenten zu. Gore darf sich als Sieger fühlen. Doch die Prognose ist falsch, CNN und CBS blamieren sich. Um zwei Uhr zwanzig bestätigen Stimmenzähler, dass Bush Florida und damit das Land hauchdünn gewinnen könnte. CNN erklärt Bush zum Sieger – bis zwei Stunden darauf eine neue Auszählung in Florida nötig wird, zu knapp ist die Wahl ausgefallen. Gore, der Bush bereits gratuliert hat, ruft erneut an und nimmt die Gratulation zurück. CNN blamiert sich ein zweites Mal. «Das ist die aufregendste Nacht in der Geschichte Amerikas», sagt Regisseur Rob Reiner. «Erfinden kann das wirklich kein Drehbuchautor.» Früh morgens verbreiten sich sogar Gerüchte, es liege ein Wahlbetrug vor.

Offen bleibt die knappste Ausmarchung überhaupt. Dem unglaublichen Wechselbad ging ein teurer, eher lustloser Wahlkampf voraus. Keiner der Kandidaten begeisterte. Beiden fehlte die Vision. Weder Bush noch Gore machten glaubhaft, warum sie die USA lenken wollen. Bushs Botschaft war einzig ein ungebremster Optimismus ohne Inhalte. Ansonsten überraschte er bestenfalls mit grammatikalischen Verfehlungen und geografischen Verwechslungen. Vize Al Gore, ein talentierter und in- tegrer Politiker, hörte zu sehr auf ängstliche Berater, die ihn zum Themenroboter trimmten. Unaufhörlich sprach er detailversessen von Pensions- und Krankenkassen, von Steuern und Defiziten. Auf der Strecke blieben grosse Ideen; damit schaffte einst Bill Clinton den Sprung ins höchste Amt im Land. Al Gore fehlte der Mut, den beliebten Präsidenten in den Wahlkampf einzuspannen – sein grösster Fehler. Als er trompetete, er sei «sein eigener Mann», koppelte er sich von den Erfolgen der letzten Jahre ab.

Die Erfolge Bill Clintons verhalfen Hillary Clinton in New York zu einem fabelhaften Sieg. Gewinnt Bush, gilt der neue Politstar als wahrscheinliche Präsidentschaftskandidatin in vier Jahren. Die Zukunft nach Clinton heisst Clinton.