«Ich erdolchte ihn, öffnete die Tür und ging»

«Confessions», Geständnisse von Verbrechern, ist der neue, makabre Hit im US-Reality-TV.

Von Peter Hossli

Obacht, televisionäres Europa. Amerika läuft euch gerade den Rang ab. Nach fast zweijähriger Agonie – US-Sender kopieren per se alles aus Europa: die Millionärsschau, den grossen Bruder im Container, Robinsone auf tropischen Inseln – sind es nun wieder die amerikanischen TV-Produzenten, die der nimmersatten Unterhaltungsgesellschaft den Weg weisen, und zwar mit der strittigen Sendung «Confessions», Geständnisse, derweilen auf dem US-Gerichtssender Court TV zu sehen.

Realer war Fernsehen noch nie. Auf wackligen, von Untersuchungsbehörden aufgenommenen Videobildern gestehen veritable Mörder und Vergewaltiger ihre Verbrechen. Detailliert und von grellem Neonlicht beleuchtet, schildern sie den Tathergang und was sie angeblich dabei empfunden haben. «Ich erdolchte ihn, öffnete die Tür und ging», sagt einer, kaltblütig in die Kamera starrend. «Ich schlug sie ins Genick. Sie fiel einfach um», gesteht ein anderer, ein New Yorker, der vor zwei Jahren seine Schweizer Freundin erschlagen hat. «Es war gar nie meine Absicht, die Frau zu töten. Ich wollte nur was essen, Geld, um Essen zu kaufen, verstehst du, Mann», sagt ein dritter, der eine Ärztin vergewaltigte und tötete. «Was haben Sie dabei empfunden?», fragt eine Frauenstimme aus dem Off. «Angst. Dann tat ich, was ich tun musste.» «Was haben Sie getan?» «Das Schrecklichste.»

Sperren die TV-Macher von «Big Brother» lediglich Freiwillige während ein paar Wochen ein, so bleiben die meisten Protagonisten von «Confessions» den Rest ihres Lebens hinter Gittern. Es sei denn, der elektrische Stuhl oder die Todesspritze setze dem Gefängnisaufenthalt ein jähes Ende.

Wie erwartet – und von den «Confessions»-Machern erhofft – löste die Tough Show in den USA heftige Debatten aus. Inwiefern ist die Privatsphäre von Kriminellen zu schützen? Wird hier auf dem Rücken von Opfern Geld verdient? Ist im hart umkämpften Quotenkrieg jedes Mittel erlaubt? Fragen dieser Art wurden öffentlich diskutiert. In ein «Allzeittief» gefallen sei das amerikanische Fernsehen, schrieb ein Stadtrat von Los Angeles an den Besitzer von Court TV, den Medienriesen Time Warner. «Newsweek» bezeichnete «Confessions» als «ekelerregendste und ausbeuterischste Fernsehsendung des Jahrhunderts». Und schlicht «zum Kotzen» fanden die Medienkritiker der New Yorker Zeitung «Newsday» die neue Sendung.

Auch Juristen meldeten sich zu Wort, weil sie die Persönlichkeitsrechte der Geständigen verletzt sehen. Schliesslich hätte niemand die Täter um Erlaubnis gebeten. Das sei auch nicht nötig gewesen, konterte der New Yorker Staatsanwalt Robert Morgenthau. Er hatte die gefilmten Geständnisse einem Freund bei Court TV übergeben. Seiner Meinung nach «darf das Fernsehen alles zeigen, was für die Öffentlichkeit freigegeben ist». Denn Gerichtsverhandlungen sowie polizeiliche Befragungen, die später als Beweismaterial dienen, dürfen in den USA jederzeit von jedermann eingesehen werden.

Bald schon könnte es so tönen: «Herzlich willkommen zur Exekution»

Am wenigsten von den Angriffen irritieren lässt sich «Confessions»-Schöpfer Eric Nadler. Er pries die Sendung als «Drama mit beachtlichem Erziehungswert». Kritik nehme er sich aber zu Herzen, räumte er immerhin ein. Und als es hiess, die fernsehgerecht montierten Geständnisse seien zu wenig eingebettet, liess er die dreisten, halbstündigen Mordgeschichten von Juristinnen und Strafverfolgern kommentieren.

Auch wenn Reality-TV mit «Confessions» eine neue Stufe erreicht hat: Medial aufbereitete Verbrechen und Justizdramen halten Amerika seit jeher in Atem. Die Entführung und Tötung des eineinhalb Jahre alten Sohnes von Ozean-Flieger Charles Lindbergh 1932 gilt als die erste globale Massenmediengeschichte. Serienmördern wie Charles Manson oder David Berkowitz huldigen etliche Bücher und Filme. Der so genannte Unabomber Theodore Kaczynski, der 18 Jahre lang unerkannt von einer Waldhütte aus Briefbomben verschickte, geniesst bei Umweltschützern Kultstatus.

Doch Auslöser der jüngeren Gerichts-TV-Welle war der Ex-Footballstar O. J. Simpson. Er wurde 1994 angeklagt, seine Frau und deren Liebhaber ermordet zu haben. Die Nation ergötzte sich während Monaten am live übertragenen Gerichtshofdrama von Los Angeles. Simpsons Freispruch im Oktober 1995 verfolgten 80 Millionen Fernsehzuschauer. Kurz danach wurde Court TV gegründet. Seither befriedigen sechs nachmittägliche Gerichtssendung die Lust am Urteil.

Nicht in der Gewaltverherrlichung, in der «tief verwurzelten amerikanischen Faszination für das Recht» sieht die Berkeley-Professorin für Rhetorik, Carol J. Clover, den Gefallen am Verbrechen. Clover verfasst derzeit ein Buch über Gerichtsfilme. Wie nichts sonst präge das Tribunal Bewusstsein und Alltag der USA, sagt die Professorin. Weil die neue Welt weder Monarchie noch Kirche als Autorität kannte, obliege allein dem Gesetz die richtende Rolle.

Neu ist Clovers These freilich nicht. Bereits 1832 bezeichnete der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville Amerika als «Land der Anwälte und Richter». Im Gegensatz zum europäischen Justizwesen urteilt in den USA eine Laienjury. Es obsiegt, wer ihr die glaubhaftere, also bessere Geschichte vorträgt. «Alle amerikanischen Erzählformen gründen auf diesem Prozedere», sagt Clover. Umso schmaler ist der Grat zwischen Fiktion und Realität. Und Klarheit schaffen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten allein die Richter – ob im richtigen Leben oder am Bildschirm.

Was aber folgt auf die grausigen TV-Geständnisse? Sorgen bald echte Hinrichtungen für hohe Quoten? Bisher hatten Kameras zwar keinen Zugang zu Gaskammern. Nur der Henker und zwölf Zeugen wohnen dem Spektakel bei. Unlängst aber bot ein Todeskandidat in Texas via Internet seine sechs ihm zustehenden Eintrittskarten feil. Herzlich willkommen zur Exekution.