Von Peter Hossli
Echte Revolutionen beginnen meist mit Getöse auf der Strasse. Die Revolution, von der hier die Rede ist, startet leise am Rande einer tosenden Autobahn. Einen Steinwurf vom Highway 101 entfernt, der sich als achtspurige Schnur durchs Silicon Valley zieht, erfinden einige Tüftler den Computer-Desktop neu. Sie meinen es ernst mit dem Umsturz. «Wenn ich der Chef von Microsoft wäre, würde ich zittern», sagt Bart Decrem. Bald, prophezeit der Belgier, könnte das Riesenreich von Bill Gates nämlich einstürzen, ohne dass es die Kartellbehörden zerschlagen.
Gemeinsam mit vier ehemaligen Pionieren des Computerherstellers Apple gründete Decrem vergangenen Herbst im kalifornischen Palo Alto die Softwarefirma Eazel. Deren Ziel ist es, über das von Hackern entwickelte Betriebssystem Linux eine benutzerfreundliche Oberfläche zu legen. Diese soll das extrem komplizierte Linux-System einfacher, robuster und schneller kontrollierbar machen als Windows von Gates oder das Desktop von Apple.
Seit 1984 habe sich die Steuerungssoftware von Computern nur wenig verändert, geschweige denn verbessert, klagt Andy Hertzfeld, 46, ein kleiner, etwas rundlich gewordener Mann in zerknitterten Jeans. Auf seiner Visitenkarte steht, seinem spassigen Naturell entsprechend, «Software Wizard», Programmzauberer. Vor bald 20 Jahren programmierte Hertzfeld das bahnbrechende Betriebssystem für den Macintosh von Apple.
Den Softwaregiganten solls an den Kragen gehen
Microsoft kopierte später den Mac und beherrscht seither den Markt. «Jetzt zerschlagen wir die Umklammerung der Softwaregiganten», sagt Hertzfeld. Ohne ihn beim Namen zu nennen, denkt er an Bill Gates – für manche Programmierer der Inbegriff des Bösen. So hängt im steril eingerichteten Grossraumbüro von Eazel ein braunes Poster. Darauf walzt ein Riesenpinguin die Microsoft-Zentrale platt. Der Pinguin «Tux» ist das Wappentier von Linux – einem Betriebssystem, das vor einem Jahr in PC-Anwenderkreisen noch kaum bekannt war und das heute die Investoren an der Wallstreet entzückt.
Dabei existiert Linux schon lange. Seit 15 Jahren bastelt eine verschworene Gemeinde an alternativen Betriebssystemen, die wie Windows auf PC laufen, aber komplett losgelöst von Microsoft funktionieren. Die Kommune nennt sich Open Source Community. Nichts wird verheimlicht. Jedes Stück Software entsteht im Kollektiv. Lustvoll schreiben tausende von Hackern gleichzeitig an ständig neuen Fassungen. «Copyright» gilt als Fluchwort.
1991 veröffentlichte der damals 21-jährige Finne Linus Torvalds eine erste brauchbare Version der auf dem Hightech-System Unix basierenden PC-Software. Er taufte sie Linux. Im Unterschied zu den Programmen von Microsoft und Apple stand der Quellcode von Beginn an allen offen. Inzwischen lässt sich Linux kostenlos vom Internet auf die Festplatte laden. Es läuft auf allen erdenklichen Computern, ist stabil und kann auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten werden. Bis jetzt schafften das aber nur technisch Versierte. Abgesehen von den leistungsstarken Servern, bei denen Linux bereits einen stattlichen Marktanteil von 30 Prozent hält, läuft das Gratissystem daher erst auf sehr wenigen Heimcomputern.
Das wollen die einstigen Mac-Erfinder ändern. Sie glauben an einem Wendepunkt zu stehen, der die gesamte Computerindustrie verändern wird – wie einst der erste PC. «Was derzeit mit und um Linux herum passiert, ist geradezu magisch», schwärmt der Eazel-Pressesprecher. Als ob die Beatles nach langer kreativer Pause noch einmal gemeinsam ein Konzert gäben, würden bei Eazel vier eingefleischte Apple-Leute gegen das als «bürgerlich» verschriene Windows auftrumpfen.
Das zentrale Anliegen ist die einfache Handhabung
Was Apple nie gelang – ein übergreifender Erfolg dank qualitati- ver Überlegenheit -, will Eazel nun verwirklichen. Die Abkürzung im Firmennamen steht für «easy Linux» und ist klarer Leitgedanke der Firma. «Nichts ist uns so wichtig wie die einfache Handhabung», sagt Decrem. Die Chancen auf Erfolg stehen nicht schlecht. Dafür bürgt das Personal. So gilt Hertzfeld als einer der weltweit originellsten Programmierer. Und Eazel kann sich über das Engagement von Designerin Susan Kare glücklich schätzen. Sie hat die eingängigen Logos und Piktogramme der ursprünglichen Apple-Plattform gestaltet. Jetzt entwirft sie ein Erscheinungsbild, «das griffiger und verständlicher aussieht als alles Bisherige». Das noch geheime Äussere beschreibt Decrem als «innovativen Desktop».
Mike Boich, auch er ein Ur-Apple-Mitglied, kontrolliert die Finanzen. Zur Gruppe gehört auch der eins- tige Apple-Software-Ingenieur Guy Tribble, der nach seinem Abgang mit Apple-Gründer Steve Jobs die Firma Next aufgebaut hat. Tribble quittierte Anfang des Jahres einen hoch dotierten Entwicklerjob bei Sun, weil er an Eazels Zukunft glaubt.
Ende August will die kühne Truppe eine erste Version vorstellen. Bislang ist «Nautilus», so der Name des Filemanagers für das Gemeinschafts-Desktop-Projekt «Gnome», abgeschirmt worden, als handelte es sich um ein neues Waffensystem des Pentagons. So viel ist aber durchgesickert: Dateien sollen ganz intuitiv, ohne irgendwelche Ordner verwaltet werden können. Bewegt man den Mauspfeil etwa über eine MP3-Musikdatei, wird der Song automatisch angespielt, ohne dass ein Programm gestartet werden müsste.
Zwar gibt es bereits ausgereifte grafische Oberflächen für Linux. Nautilus aber soll die Branche umkrempeln. Selbst Nutzer, die sich mit Computern überhaupt nicht auskennen, könnten zwischen mehr als zwei Systemen wählen. Wenn erst einmal genügend Alltags-Anwenderprogramme für Linux auf dem Markt sind und die bisher kompromisslos auf Windows oder Mac ausgerichteten Peripheriegeräte Linux-kompatibel werden, dürften sich die Hersteller der flinken Rechner gegen das kostspielige Windows und für das kostenlose Linux entscheiden. Decrem spricht vom «ersten Schritt zum freien Softwaremarkt».
Eazel durchlöchert das Microsoft-Geschäftsmodell
Doch mit Gratisprodukten lässt sich kein Geld verdienen. Gehen die Überzeugungstäter über diesen Punkt einfach hinweg? «Keineswegs», sagt Hertzfeld. «Nur wer Gewinne erzielt, überlebt.» Gewinne sollen Dienstleistungen bringen, offeriert per Internet. Die Kundschaft muss nur zahlen, wenn sie technische Unterstützung braucht. Gegen Gebühr hilft Eazel bei der Verwaltung der Festplatte, behebt Probleme, rettet Daten, organisiert Dokumente und verknüpft Computer – eine verwegene Idee, die das Geschäftsmodell von Microsoft durchlöchert und der neuen Strategie des Redmonder Giganten vorgreift. Derzeit zahlen Computerbauer wie Dell oder Compaq jährlich hunderte von Millionen Dollar Lizenzgebühren an Microsoft, um deren Betriebssystem installieren zu dürfen. Für jedes Update schicken die Nutzer Schecks an Microsoft.
Linux ist hingegen gratis. Schon bald könnten die Rechnerfirmen auf Windows verzichten und stattdessen die Eazel-Version von Linux anbieten. Hertzfeld glaubt, das Gratisbetriebssystem werde die Dominanz einer einzigen Firma ausschliessen. «Software muss allen gehören, jeder muss sie entwickeln, jeder freien Zugang haben.» Linux – das ist Sozialismus für Halbleiter, verbunden mit einem ausgeklügelten Plan, Gewinne zu erzielen.
Dennoch geht in Redmond, dem Hauptsitz von Microsoft, die Angst noch nicht um. «Wir sind gewappnet», versichert Windows-Entwickler Oubrey Edwards. Der technische Vorsprung von Microsoft sei enorm und könne nicht so schnell wettgemacht werden. Vier bis sechs Jahre dauere es, bis Linux die Benützung komplexer Anwendersoftware ermögliche. Derzeit fehle es an Alltagsprogrammen. Hier liegt tatsächlich die Achillesferse, denn noch kontrolliert Microsoft das Geschäft mit Anwendersoftware. Allerdings schrumpft die Lücke: Sun hat beispielsweise mit der Bürosuite StarOffice ein komplettes Paket von Linux-Programmen veröffentlicht, die denen von Microsoft im Funktionsumfang in nichts nachstehen – und auch das ist kostenlos.
Gerüchten gemäss soll Gates’ Softwareschmiede bereits eine Linux-Version des Windows-Office entwickeln. Doch Edwards dementiert: «Wir sehen keinen Grund, Office für Linux zu veröffentlichen.» Es mangle Linux an Erfolgschancen.
Die Computerveteranen sehen Eazel als zweite Chance. Einige hatten sich mit ihren Millionen längst zur Ruhe gesetzt. «Ich bin älter und weiser geworden», sagt Hertzfeld, «dennoch fühle ich mich jünger denn je.» Bis 1998 befand sich der Multimillionär in Frühpension. Die Industrie, die ihn fasziniert und reich gemacht hatte, langweilte ihn. Das «Festival der Gier», wie er die sagenhafte Dotcom-Euphorie bezeichnet hatte, widerte ihn genauso an wie die totale Kontrolle der Software-Industrie. «Microsoft schien die Türen für immer geschlossen zu haben», sagt Hertzfeld, doch dann entdeckte er die offene Linux-Kultur. «Es war eine Berufung. Glauben Sie mir, wir werden das Business-Modell von Gates wegputzen.»