Von Peter Hossli (Text) und Markus Bertschi (Fotos)
Aimee Mullins, 24, kam ohne Schienbeinknochen zur Welt. Die Folge der schweren Behinderung: Die Füsse konnten selbst das Gewicht eines Babykörpers nicht tragen. Ein Jahr nach der Geburt entschieden sich die Ärzte, beide Beine unterhalb der Knie zu amputieren. Prothesen, so die damalige Überlegung, würden ihr das Gehen später ermöglichen.
Mittlerweile rennt niemand mit künstlichen Beinen schneller als Aimee Mullins. An den olympischen Spielen in Atlanta 1996 lief die damals 20-jährige Amerikanerin die 100 Meter in weniger als sechzehn Sekunden. Der Weltrekord hat heute noch Bestand, genauso die Bestmarke über 200 Meter. Erneut Furore machte die Tochter von irischen Einwanderern zwei Jahre später in London – als gut bezahltes Model. Der britische Designer Alexander McQueen liess Mullins auf dem Laufsteg seine fürs französische Modehaus Givenchy entworfene Kollektion vorführen; das behinderte Model trug handgeschnitzte Holzstiefel. Prompt schrie die Modebranche auf, die Medien waren entsetzt. Eine «Gratwanderung zwischen Schock und Schick» wollte die «Süddeutsche Zeitung» gesehen haben. Von «Ausbeutung» schrieb der «Figaro». Der deutsche Modemacher Wolfgang Joop nannte den Auftritt von Aimee Mullins in einem NZZ-Gespräch «ein Bild verletzter Endzeitromantik, das Harte kombiniert mit dem Zarten». Die Konkurrenz, etwa aus dem Hause Yves Saint-Laurent, tat McQueen als «Voyeuer und Provokateur» ab. Mullins trug die bizarre Schau den Supermodelstatus ein.
Mit der Presse redete sie hernach lange nicht. Erfolgreich verhinderte sies, zur 2-Minuten-Feel-Good-Story der Abendnachrichten zu werden. Sie war gut beraten, der einladenden Klischeegeschichte – herziges behindertes Mädchen, das rasch rennt und als Model entzückt – auszuweichen. Statt dessen entwickelte sie Experimentalfilme, trat an Designkonferenzen auf und inspirierte etliche Künstler, für sie Prothesen zu entwerfen. «Es sind Leute, die begreifen, das eine Prothese nicht einfach ein Stück Metall ist, sondern etwas Schönes, das jemandem das Gehen ermöglicht», sagt Mullins, eine eloquente, smarte und selbstsichere Frau. Sie witzelt, Körperlänge sowie Schuhgrösse selbst bestimmt zu haben. «Wenn ich die Behindertenwitze vorwegnehme, verstummen die anderen.»
Mullins gründete eine Stiftung für Handikapierte und fordert gängige Schönheitsideale heraus. «Unvollständige Körper können genauso schön sein», sagt sie, in einem Gartencafé in New York sitzend. Die schlicht auftretende Mullins erzählt vom abgeschlossen Diplomatie-Studium in Washington und schwärmt von Bill Clinton. «Der Präsident ist umwerfend», sagt sie. Mullins traf ihn nach den olympischen Spielen im Weissen Haus sowie zwei Jahre später, während dessen Amtenthebungsverfahrens. «Er erinnerte sich an jedes Wort, das wir beim ersten Treffen wechselten.» Wenn sie könnte, würde sie ihn erneut wählen, sagt Mullins, die den US-Wahlkampf genau verfolgt. «Ich wähle links der Mitte.»
Ebt die Modelkarriere dereinst ab, will Mullins zum Film. Unlängst sprach sie bei Steven Spielberg vor – und bekam den Part. Später fiel die Rolle allerdings den Drehbuchüberarbeitungen zum Opfer. Wählerisch bleibe sie trotzdem. Eben schlug sie die Hauptrolle in einer kruden Behindertenkomödie aus. «Stereotypsieren lasse ich mich nicht», sagt sie. «Ich suche Klasse und Integrität.»
Was treibt sie an? «Ich will mich nicht langweilen», sagt Aimee Mullins.
Aimee Mullins, Sie sind ein hochbezahltes Topmodel und rennen allen davon. Was bereitet ihnen Freude?
Aimee Mullins: Nächste Woche fliege ich nach London und hole mir neue Beine ab. Damit kann ich Stöckelschuhe tragen.
Sie kamen ohne Schienbein zur Welt und tragen seit Kindesbeinen Prothesen. Was kosten künstliche Glieder?
Mullins: Etwa 16000 Dollar das Paar. Für robuste Sportfüsse zahl ich 50000 Dollar.
Wer bezahlt, die Krankenkasse?
Mullins: Ich lasse mir die Beine vom britischen Hersteller sponsoren.
Aus was bestehen sie?
Mullins: Innen aus Metall, aussen aus Silikon. Auf den neuen Beinen wirken sogar die meisten Selbstbräuner. Rasieren muss ich meine Unterschenkel übrigens nie.
Wie viele Paare besitzen Sie?
Mullins: Sieben, jeweils für unterschiedliche Absatzhöhen. In New York nutzen sie sich schnell ab; sie halten höchstens zwei Jahre. Besonders mag ich die Rennbeine. Damit schreite ich den Stadtasphalt schnell und aggressiv ab. Jetzt will ich noch Stiefel, die übers Knie reichen. Dann trag ich beim Tanzen Mini-Röcke.
Als was empfinden Sie die künstlichen Beine, als Kleidungsstück?
Mullins: Sie sind ein Teil meines Körpers. Ich spüre sie. Gerade jetzt kralle ich unterm Tisch die grossen Zehen. Sie jucken.
Im Oktober starten in Sydney die olympischen Behindertenspiele. Sie halten zwei Sprint-Weltrekorde. Über welche Distanzen treten Sie heuer an?
Mullins: Ich fahre gar nicht erst hin. Wie schon in Atlanta müsste ich in Australien erneut gegen Armamputierte rennen; da habe ich keine Chance. Für reguläre Rennen verlangt das IOK in jeder Kategorie sechs Sportlerinnen. Ich bin die einzige.
Geben Sie den Sport jetzt auf?
Mullins: Nein. Bei Team-Triathlos werde ich die Velostrecken absolvieren. Vielleicht laufe ich einen Marathon, obwohl das einer Everest-Besteigung entspräche.
Was treibt Sie an, Ihren behinderten Körper derart zu schinden?
Mullins: Habe mich schon immer als Athletin und Kämpfernatur gefühlt. Die körperliche Anstrengung setzt mir aber zu. Amputierte brauchen pro Bein vierzig Prozent mehr Sauerstoff und doppelt so viel Energie wie Gesunde. Weil mir die Waden fehlen, landen beim Rennen zudem alle harten Schläge auf den Knien.
Der britische Designer Alexander McQueen liess sie vor zwei Jahren über den Laufsteg gehen. Es folgte ein Aufschrei. Wie fühlt man sich, wenn man für einen Skandal missbraucht wird?
Mullins: Ihre Frage ist beleidigend. Sie sagen damit, dass alle Behinderten manipulativ und dumm, gesunde Designer aber bösartig und geldgierg seien. Lange vor McQueen habe ich gesellschaftliche Schönheitskonzepte kritisch hinterfragt.
McQueen nutzte Sie aus, um auf Roben aufmerksam zu machen. Sie mussten für seinen simplen Hype herhalten.
Mullins: Hatten Sie nie das Gefühl, ich missbrauche McQueen, um meine Botschaft in die Welt zu trompeten? Immerhin gelangs mir, mit zwei künstlichen Beinen zum Star des wichtigsten Modeereignisses des Jahres zu werden. Dann erhielt ich noch ein exquisites Paar Holzstiefel. Es gibt positive wie negative Ausbeutung.
Welchem Prinzip folgen Sie?
Mullins: Gebrauche was du hast, um zu bekommen was du willst. Ich bekam alles.
Viele hielten die damalige Schau für eine genau kalkulierte Kontroverse.
Mullins: Es gab keine Kontroverse. Niemand wusste, dass mir die Beine fehlen. Erst als mich am nächsten Tag ein Journalist nach den hölzernen Stiefel befragte, brach die Lawine los. Schlimm war eine Geschichte im «Figaro». Alle Fakten, sogar das Bild, waren falsch. Ein Journalist, der die Schau nicht sah, schrieb über das «arme behinderte Mädchen, das ausgenutzt wird, bla, bla, bla». Der Artikel war rein politisch motiviert. Die Franzosen könnens nicht leiden, wenn ein Brite ein klassisches französisches Modehaus leitet. Ich wurde zum Opfer des uralten Zwists zwischen England und Frankreich. Dann verbreitete AP die «Figaro»-Aussagen global; der Skandal war perfekt.
Der Skandal half Ihnen doch enorm und machte Sie weltweit berühmt.
Mullins: Alle profitierten. Nur die Presse nicht. Die Berichterstattung über die McQueen-Schau war eine Beleidigung für alle, die sich Journalisten nennen.
Was haben Sie daraus gelernt?
Mullins: Mein Agent reduzierte die Presseauftritte auf ein Minimum. Ich schwieg ein Jahr. Zudem legte ich mir eine dickere Haut und ein Aufnahmegerät zu; an allen Interviewterminen ist es dabei. Das flösst vielen Angst ein. Journalisten sind oft unsicher, deshalb schreiben sie Dreck. Sie sollten besser den Job wechseln. Ich mag das Fernsehen – es kann nur Aussagen senden, die man tatsächlich macht.
Schock gehört zur Modeindustrie wie Nadel und Faden. Bennetton wirbt seit Jahren so. Waren Sie zu naiv?
Mullins: Die Bennetton-Kampagne mit den Todeskandidaten war abscheulich.
Warum ist das schlimmer als eine Laufstegnummer mit Behinderten?
Mullins: Bennetton benutzt eine politische Aussage, um Kleider zu verkaufen. Mit dem Bennetton-Logo auf dem Plakat setzen sich die Modemacher selbst in die Todeszelle. Auf dem Laufsteg löse ich aber eine Debatte über Schönheitsideale aus. Das banale wie triviale Medium Mode offeriert mir dazu ein globales Forum.
Wie definieren Sie Schönheit?
Mullins: Strahlende Spiritualität, die ausschliesslich von Innen her leuchtet.
Wen finden Sie schön?
Mullins: Paul Newman, seit er siebzig ist.
Was unterscheidet Sie von anderen Models?
Mullins: Ich habe eine Vergangenheit. Die meisten erfolgreichen Models stehen vor der Kamera seit sie vierzehn sind. Ich begann mit 22 – bereits auf höchstem Niveau. Mir sagte nie einer, ich sei zu fett oder ich müsse mir den Kopf rasieren, um trendy zu wirken. Stets wurde ich mit einem eigenständigen Charakter assoziiert. Viele Models sind bloss Kleiderbügel.
Sie werden ständig in Verbindung gebracht mit ihrer schwerer Behinderung, sind ein Topmodel, weil Ihnen die Beine fehlen. Wäre es nicht einfacher, ein gut bezahlter Kleiderbügel zu sein?
Mullins: Manchmal wünsche ich mir das schon. Nach der McQueen-Schau habe ich versucht, als gewöhnliches Model zu arbeiten. Niemand mochte mich fotografieren, ohne zu erwähnen, wer ich bin.
Es reduziert sich alles aufs Bein?
Mullins: Obwohl 75 Prozent der Modeljobs von der Taille aufwärts sind. Etliche Models sagen mir, sie würden dafür töten, um nicht bloss als hübsches Gesicht und perfekt gebauter Kleiderbügel zu gelten.
Dann spüren Sie deren Neid?
Mullins: Nicht mal die notorischen Models, die dauernd ihre Kolleginnen niedermachen, werfen mir Schlamm nach.
Etwa aus falschem Mitleid?
Mullins: Es ist Respekt für meine Arbeit.
Im vergangenen Jahr wählte sie das Magazin «People» zu einer der 50 schönsten Personen der Welt. Erstaunt?
Mullins: Jugendliche, die mit ihrem Äussern zu kämpfen haben, haute das glatt um. Mir verlieh die Wahl Glaubwürdigkeit für Auftritte, bei denen ich über alternative Schönheitsideale spreche.
Haute es Sie um, auf derselben Ebene wie Michelle Pfeiffer, Ricky Martin und Gwyneth Paltrow zu posieren?
Mullins: Ich lag am Boden. Vor allem, weil «People» ein biederes Mainstreamheft ist, das in Kansas Käuferinnen finden muss. An diesem Magazin ist nichts kreativ oder provokant. «People» katapultierte meinen Stellenwert enorm. Plötzlich drehte ich zusammen mit Kate Moss und Andie McDowell L‘Oréal-TV-Spots.
Hatten Sie bis dahin manchmal das Gefühl, unvollständig zu sein?
Mullins: Ich bins nach wie vor. Alle sind unvollständig. Oft vergleiche ich mein Handicap mit Cindy Crawfords Muttermal. Als sie anfing, wurde ihr Leberfleck wegretouchiert. Heute ists ihr Markenzeichen. Cindy und ich sind Supermodels, weil wir etwas haben, das anderen fehlt – das Aussehen und die Haltung.
Die Modeindustrie bevorzugt in der Regel Frauen, die aufs Maul hocken.
Mullins: Derzeit wandelt sich die Industrie. Komplexe Charaktere und smartere Frauen sind wieder vermehrt gefragt.
Trotzdem hören viele Models mit 26 auf und stehen vor dem Nichts.
Mullins: Die sind selber schuld. Models verdienen reichlich Geld und hätten Zeit, es in eine gute Ausbildung zu investieren.
Im vergangenen Jahr schockte der britische TV-Sender BBC die Branche mit Enthüllungen über prekäre Arbeitsbedinungen in der Modeindustrie. Erleben Sie das Geschäft ebenso brutal?
Mullins: Will nicht klagen. Für ein 14-jähriges Mädchen, das 3000 Kilometer entfernt von den Eltern lebt, ists aber bestimmt hart. Zu verurteilen sind nicht die Agenten sondern die Eltern. Es schickt ja auch niemand sein Kind alleine zur Fabrikarbeit. Öfters reisen jetzt Mütter mit.
BBC berichtete über Drogenkonsum und sexuelle Ausbeutung.
Mullins: Klar gibts Drogen – genauso viele wie an der Wall Street oder im Mediengeschäft. Wo Geld fliesst, werden Drogen konsumiert. Manchen Models dienen sie als Krücke. Es ist ein einsamer Job. Ausserdem müssen die Frauen krasse Demütigungen einstecken und werden ständig von schleimigen, drittklassigen Fotografen angemacht. Das kommt in anderen Industrie genauso häufig vor. Die Medien kritisieren uns nur deshalb härter, weil wir im Rampenlicht stehen.
Werden Models ausgebeutet?
Mullins: Wir wissen, auf was wir uns einlassen. Allerdings halten die Agenturen selten, was sie versprechen. Jedes Model hört früh, es würde dereinst zum Supermodel erkoren; die Chancen, die Lotterie zu gewinnen, sind weit grösser. Am Tag, nachdem das schönste Mädchen der Welt die Agentur betrat, kommt bereits das nächste schönste Mädchen vorbei.
Wer schaffts als Model?
Mullins: Frauen, die wissen, wer sie sind. Die Kamera sieht jede Unsicherheit.
Wo entsteht aufregende Mode?
Mullins: In London. Europa ist momentan progressiver als die USA. Dort werden unterschiedliche Schönheitsvorstellungen akzeptiert, gehen Designer echte Risiken ein, entsteht Kunst. Das grosse Geld kriegt man in New York. Deshalb holen sich viele Models den Ruf in Europa – und zocken dann hier ab. In den USA hätte ichs nie auf den Laufsteg geschafft.
Weil Amerika hauptsächlich politisch korrekt denkt?
Mullins: Ja. Überdies mangelts an Visionen. Extravagante US-Designer werden erst dann wahrgenommen, wenn es sie nicht mehr gibt. Heute vermissen alle die wilden Flausen von Isaac Mizrahi. Als der noch entwarf, wurde er belächelt. In England wäre Mizrahi ein Star geworden.
Sie sagen, sie wollten zum Film. Was antworten Sie einem Regisseur, der mit Ihnen Nacktszenen drehen will?
Mullins: Wenn das Projekt stimmt, mach ichs. Warum soll ich nicht sexy sein?
Wie stehts mit Nacktfotos?.
Mullins: Wenn der Fotograf und die Umstände stimmen? Klar. Damit kann ich die Debatte darüber, was ein schöner Körper ist, auf eine noch komplexere und bestimmt provokatantere Ebene heben.
Sie werden so zum Sexobjekt.
Mullins: Alle sind sexuelle Objekte. Wer damit Probleme bekundet, verleugnet einen zentralen Teil des Menschseins. Mir ist dieser Aspekt wichtig. Mein Körper ist nicht weniger sexy weil die Beine fehlen.
In wiefern sind Sie sexy?
Mullins: Ich weiss wer ich bin, und ich fühle mich wirklich wohl in meiner Haut.
Ihre Ärzte vermuten, die Einnahme von Antibiotika zu Beginn der Schwangerschaft hätte zur Behinderung geführt. Sind sie wütend auf ihre Mutter?
Mullins: Als sie die Medikamente einnahm, wusste sie nichts von der Schwangerschaft. Es gibt nur eine Art, meine Behinderung zu akzeptieren, ohne wahnsinnig zu werden: Es war der Wille Gottes.
Als Kind haben Sie sich damit wohl kaum so einfach abgefunden.
Mullins: Natürlich weinte ich oft, fühlte mich genauso erbärmlich wie das dicke Mädchen oder der unsportliche Knabe. Dann habe ich realisiert, dass alle irgendwie behindert sind, und dass eine Behinderung ein enormes Potenzial darstellt.
Wie verlief ihre Pubertät?
Mullins: Es gibt doch niemanden, der die Pubertät glücklich durchlebt. Ich bedauerte, keine Miniröcke tragen zu können.
Wie reagierten die Burschen?
Mullins: Mit Jungs kam ich immer bestens zurecht. Nur: Keiner wollte mich zur Freundin. Ich gehörte nie in diese Kategorie. Mein erster Freund wusste zuerst nichts von meinen Beinen. Später war die Eifersucht meiner Freunde meist ein grösseres Problem als die Beinestümpfe.
Sind Sie in einer Beziehung?
Mullins: Derzeit schaue ich mich um.
Sie sind die schnellste Behinderte der Welt, haben die Universität mit Topnoten abgeschlossen und arbeiten als Model. Warum sind Sie erfolgreich?
Mullins: Hinter meinen Ideen steckt Substanz. Von führenden Persönlichkeiten aus Politik, Design und Unterhaltung habe ich früh viel gelernt. Mir gelingts ausserdem, schnell die Balance zwischen Rampenlicht und Rückzug zu finden.
Sind Sie ambitioniert?
Mullins: Ja. Ambitionen sind doch gut. Was ich verabscheue ist Rücksichtslosigkeit. Schon als Kind wusste ich, dass ich mich nie mit einem öden Bürojob abfinden werde. Finanzieller Erfolg kommt, wenn man etwas gerne gut macht. Leute schätzen Qualität – und bezahlen dafür.
Sind Ihre Freunde eifersüchtig?
Mullins: Sie sagen, «Aimee du kannst dich glücklich schätzen». Glück ist nur umgesetzte Vorbereitung. Wenn du weisst, was du willst, klappts. Es ist ein Klischee, aber: Nur wer nicht aufgibt, hat Erfolg. Wer ausruht, stagniert. Man muss das Leben meisseln. Sonst passiert nichts.
Das tönt nach amerikanischem Traum. Was halten Sie von Amerika?
Mullins: Es ist das schönste Experiment, das die Menschheit je gewagt hat. Alle können hierher kommen und etwas Neues aufbauen. Es spielt keine Rolle, woher jemand kommt, sondern wohin jemand will. Der Engländerin Kate Moss wird immer vorgeworfen, sie stamme aus irgendeinem ärmlichen Vorort. Hier spielt das keine Rolle.
Wie schön für sie!
Die Reaktionen gegen den Runway von Aimee what? finde ich sicherlich übertrieben, genauso westlich-dumm allerdings die dazugehörige Etablierung als Supermodel. Man sieht einfach daran, dass vor allem ihre Geschichte schick ist, schick wirkt, schick verkleidet werden kann – in ihrem Fall sogar mit in Paris entworfenen Prothesen, mit denen sie Stöckelschuhe tragen kann. Halleluja…
Sie schöpft aus einem Füllhorn, das durch Menschen, die sich schick-tun gefüllt wird. Großartig? Wahre Größe? Echte Charakterstärke? Eher Opportunismus. Gegen den ich erstmal nichts haben kann – ist er doch uns allen zu eigen.
Wahrhaftig würde ich sie allerdings nennen, wenn sie ihren finanziellen Überschuss denen zugute kommen lassen würde, die immer noch “einbeinig” ihr Dasein fristen – aus Kriegs-, oder sonstigen Gründen und nicht das Glück hatten in eine Realität hineingeboren zu werden, in der gelangweilte reiche Gönner oder einigermaßen Verrückte Designer für etwas Abwechslung gern eine Karriere “lancieren”.