Von Peter Hossli
New York. Die Stadt am Hudson River stinkt und lärmt, ist hässlich, bitterkalt im Winter und mörderisch heiss im Sommer. Masslos die Preise, unerträglich das Gedränge. Woanders leben, das möchte Harold Ross trotzdem nicht, schrieb der Chefredaktor am 21. Februar 1925 in der Erstausgabe eines noch obskuren Magazins mit forschem Namen: “The New Yorker”. Selbstverliebter Sarkasmus und snobistische Nabelschau waren sein Programm, vom gezeichneten Dandy mitsamt Monokel und rosa Schmetterling auf dem legendären ersten Titel bis zum urbanen Klatsch und den fidelen Gedichten auf 32 Seiten, die 15 Cents kosteten.
“Publizistisches Wunder”
Vor 75 Jahren entstand in Manhattan eine journalistische wie literarische Besonderheit, gemacht von Alleswissern für Alleswisser, die das eigene Maulheldentum stets lustvoll verulkten. Ein Magazin geistiger Superlative, mit begründet von schillernden Figuren wie der flamboyanten Autorin Dorothy Parker und dem stilsicheren Zeichner Al Hirschfeld.
Zur “genialsten Hervorbringung seit der Erfindung der mobilen Druckpresse” erhob einst der TA etwas vollmundig das Kult-Journal. Die NZZ spricht von einem “publizistischen Wunder”: ein Wochenmagazin mit “höchstem intellektuellem Anspruch”. Das “berühmteste Magazin Amerikas”, huldigt “Newsweek”. In mancher schweizerischen Redaktionsstube, an die der “New Yorker” allwöchentlich per Eilkurier zugestellt wird, verschwindet das heiss geliebte Blatt oft sofort – geklaut von dreisten Connaisseurs. Unverwüstlich überstrahlt es noch heute den grassierenden Sauglattismus der Spassgesellschaft beidseits des Atlantiks. Wer den “New Yorker” liest, liest. Zwanzig Seiten pro Artikel sind die Regel, Fotos die Ausnahme. Das von Gründer Ross verfochtene Ideal eines “humor- und gehaltvollen Magazins jenseits abgeschmackter Gags” verwirklichen brillante Cartoons. Abgesehen von der “Talk of the Town”-Sektion und blendend abgefassten Kulturkritiken ist Aktualität nebensächlich. Monatelang können die Autoren an gehaltvollen Texten drehen. Bezahlt wird nie zu knapp – bis zu 200 000 Dollar pro Artikel, geht in Journalistenkreisen das atemberaubende Gerücht. Nur Feinstes gelangt ins Blatt. Gut neunzig Prozent aller US-Autoren sollen Absagebriefe des “New Yorker” horten. Aufs Jubiläum publizierte dessen Verlag in zwei Anthologien ausgesuchte Porträts und Stadtgeschichten. Die beiden Bücher lesen sich wie ein “Who’s Who” der naseweisen US-Literatur des 20. Jahrhunderts: Salinger. Parker. Bellow. Updike. Roth. Sontag. White. Singer.
Ihre treffsichere Schreibe und ihr guter Geschmack machten den “New Yorker” zum Muss der gebildeten Mittelklasse Amerikas. Das Magazin, schrieb der Kritiker John Leonard Mitte Siebziger, gebe deren Eigenart so treffend wieder wie “saubere Fingernägel, der Uni-Abschluss, das Bankkonto und gute Absichten.”
Schreiber und Gaukler
Bei der Gründung des “New Yorkers” floss reichlich Schnaps. Zigarettenqualm stieg. Die düstere Hotelbar im Algonquin auf der 44. Strasse diente in den “Roaring Twenties” vorlauten Schreibern und Gauklern als Treff. Erst der aufbrausende Kriegsreporter Ross hielt den wilden Haufen zusammen und presste aus den Nüchternen prickelnde Artikel und Kurzgeschichten.
Weitaus prägender lenkte dessen Nachfolger William Shawn das Magazin. Als Redaktor boxte er 1946 die kühne Idee durch, eine ganze Ausgabe einer 31 347 Worte umfassenden Hiroshima-Reportage zu widmen. Nach Ross’ Tod erbte Shawn den Chefposten. Er blieb 35 Jahre. Als “einer der bedeutendsten Männer der Medienbranche” adelte ihn US-Autor Tom Wolfe. Der arbeitssüchtige Shawn entdeckte Talente wie J. D. Salinger oder schickte Hannah Arendt nach Israel zum Eichmann-Prozess. Truman Capote liess er in “In Cold Blood” ebenso fesselnd wie abstossend die Vollstreckung eines Todesurteils beschreiben. Woody Allen erfand in Kurzgeschichten sein Alter Ego, den New York liebenden Neurotiker.
Kommerz und Leserstudien verachtete Shawn. Er drucke nie, was ohnehin schon alle wussten. “Man muss mit Stoffen überraschen, von denen die Leser nicht ahnen, dass sie sich dafür interessieren”, hiess seine Losung. Verleger duldete Shawn auf der Redaktion nicht. Gleichzeitig bestand er darauf, Anzeigen abzuschmettern. Werbung für WC-Papier, Südafrikaferien, Tabak, Unterwäsche sowie Ramschläden untersagte er. Diese verkniffene Moral erhielt 1998 einen Knick: “New Yorker”-Autorin Lillian Ross gestand ein vierzig Jahre dauerndes Verhältnis mit dem Familienvater ein.
Steigende Auflagen – und Verluste
Bis Mitte der Achtzigerjahre verdiente der “New Yorker” kräftig Geld. Werber schätzten die gebildete und vermögende Leserschaft. 1985 übernahm überraschend der Zeitschriftenmulti Condé Nast für 142 Millionen Dollar das zunehmend von bunten Mode- und Lifestyleblättern bedrängte Traditionsblatt. Seither gehts kommerziell bergab. Zwar verdoppelte sich die Auflage dank Werbung auf heute 844 000 Exemplare. Die Erträge brachen ein, nachdem die Inseratenzahl massiv erhöht und die Abonnementspreise stark reduziert wurden. Branchenschätzungen gehen von 120 Millionen Dollar Verlust bei dem Verkauf aus. “Kein Kommentar”, sagt dazu die Pressesprecherin des Magazins.
Unerwartet hoben die Condé-Nast-Strategen 1992 das britische Wunderkind Tina Brown auf den redaktionellen Chefsessel. Brown, zuvor bei “Vanity Fair”, führte das Heft ins Zentrum des gehobenen Mainstreams. Sie liebkoste die Stars, feierte rauschende Feste und führte das Undenkbare ein: Fotografie. Statt kultivierte Vorstädter anzusprechen, setzte sie auf Schock. Für Radio-Miesepeter Howard Stern oder eine Profi-Sadistin schaufelte sie Seiten frei. Der neue “New Yorker” unter Trendsetterin Brown hatte nun alles, was in den Neunzigern zum Erfolgsrezept bunter Postillen erklärt wurde: Superstars und Megamodels.
Vom Glamour zur Politik
Kritiker mäkelten, die Britin zerstöre das Heft, betrüge das unverwechselbare Erbe von Ross und Shawn. Was sie für druckreif befand, hätte genauso gut im seichten “Harper’s Bazar” erscheinen können. Weg der Hauch der exquisiten Exklusivität. Statt über Kindheitserlebnisse in Pakistan berichten zu lassen, lenkte sie das Interesse auf die drei unbestrittenen Machtzentren der USA: New York, Washington und Los Angeles. Der etwas angestaubte, nun hauptsächlich in Suburbia gelesene “New Yorker” war wieder in aller Munde. Nörgler und Traditionalisten jaulten auf. Die Entertainer frohlockten. Nur sechs Jahre nach Amtsantritt zog Brown weiter, zu Disney, und gründete die Lifestyle-Gazette “Talk”.
Ein Aufschrei folgte, wie üblich: Geht der Chef des “New Yorker”, steht die Stadt Kopf. Ross starb 1952, New York trauerte. 1987 warfen die neuen Besitzer den 80-jährigen Shawn raus. New York schäumte, das Personal drohte mit Streik und zeigte Nachfolger Robert Gottlieb die kalte Schulter. Als Tina Brown freiwillig den journalistischen Olymp gegen triviale Niederungen tauschte, fiel Manhattan zuerst in Trance, dann in Hyperaktivität. “Time” füllte sechs Seiten. Die “New York Times” berichtete, leitartikelte, spekulierte. In Wirtschaftsblättern wurde hoch-, im Feuilleton abgerechnet. Erlösung brachte der neue Chefredaktor David Remnick. Ein Generalist, der für ein Buch über Lenin den Pulitzer-Preis erhalten hatte. Bei ihm sind wieder die Schreiber und Zeichner die Stars. Er dehnte den Kritikteil kräftig aus, verzichtet fast gänzlich auf Glamour und gibt dem Politischen vermehrt Gewicht. Genüsslich beobachtet wird etwa die erbittert geführte Ausmarchung um den frei werdenden New Yorker Senatssitz zwischen First Lady Hillary Clinton und dem Bürgermeister Rudolph Giuliani.
Remnick scheint den Spagat zwischen Lokal- und Globaljournalismus zu meistern. New York und die USA haben klar Priorität. “Wöchentlich besser” mache der neue Chef das alte Blatt, lobte kürzlich die oft nörgelnde “New York Times”.
Brutales Ungetüm
Wo Shawn aufhörte, knüpft er an und druckt mit Vorliebe Unverhofftes. Vor ein paar Wochen etwa die Geschichte des Rom-Korrespondenten. Dessen E-Mail verschwand im Nirgendwo, worauf er höchst anregend den verschlungenen Pfad einer elektronischen Nachricht beschrieb. Und packend zerlegte unlängst eine junge Schriftstellerin den wohl abgestandensten Mythos der Welt. Sie schildert, wie sie hoffnungsvoll im Moloch der unbegrenzten Möglichkeiten ankam – und es eben nicht schaffte. Allzu oft ist New York schlicht ein brutales Ungetüm.