Von Peter Hossli
Amerika ist wie ein unendlich langer Traum. Möglich scheint hier alles. Jeder kann sich jederzeit überall neu erfinden.
Teena Brandon, eine junge Frau aus Lincoln, Nebraska, will ein Mann sein. Also schneidet sie das Haar kurz. Ein Paar Socken buchtet den flachen Schritt aus. Gespannte Bandagen verflachen die Brüste. Äusserlich reicht das bereits. Der Rest passiert im Kopf. Dort wird aus der hageren Teena der schlaksige Brandon. Niemand zweifelt an dessen sexueller Identität. Bis die Maskerade auffliegt. Zwei Kumpane fühlen sich betrogen. Sie vergewaltigen Brandon und töten ihn.
Eine wahre amerikanische Geschichte. In die Schweizer Kinos gelangt jetzt der dazugehörige Film, «Boys Don’t Cry», ein raues wie zärtliches Dokudrama mit wuchtiger Wirkung.
Produziert hats die New Yorker Produzentin Christine Vachon, 38, die seit Jahren das Label «Königin des unabhängigen Kinos» trägt. Das etwas abgestandene Image störe sie nicht. «Wer will nicht die Königin sein?», sagt sie, den ungekämmten Schopf hinter einem orangefarbenen iBook versteckend. Vachons Firma Killer Films belegt einen engen und dunklen Loft in Lower Manhattan. Nur beige Vorhänge verleihen dem mit Plakaten behängten Büro Privatsphäre. «Dass das Kino jemals unabhängig war, bezweifle ich aber», fügt sie an. Bei teuren wie billigen Filmen stamme das Geld von denselben Quellen. Berührungsängste mit Hollywood kennt sie nicht. «Ich will einfach nicht in Los Angeles leben», sagt die Ur-New-Yorkerin. «Wenn mir jemand ein gutes 100-Millionen-Dollar-Projekt anvertraut, dreh ich es sofort.» Unabhängiges Kino bedeute heute bloss noch längere und langweiligere Filme.
Wenn der amerikanische Traum zum Trauma wird
Sie selbst überrascht mit kontroversen Themen wie Transsexualität. «Boys Don’t Cry» wurde von den amerikanischen Medien gepriesen und mit Preisen überhäuft. Ist das prüde Land erwachsen geworden, oder erklärt die urtümliche Lust an sonderbarer Gewalt den Erfolg? «Der Grund für die Faszination ist tatsächlich uramerikanisch», sagt Vachon. «Uns ziehen Leute an, die sich entscheiden, plötzlich anders zu sein, die Lust verspüren, die Frontier zu erobern, und, wie einst die ersten Siedler, ihre Wurzeln zurücklassen. Die sich neu definieren.»
Das sei der amerikanische Traum. Für Brandon wurde er zum Trauma. Ein Gewaltakt schuf Klarheit. Zwei ihrer Freunde bewiesen sich, wer die echten Männer waren. Der getarnte Schwächling gehörte erniedrigt.
Einmal mehr: die klägliche Unfähigkeit amerikanischer Männer, mit sexueller Mehrdeutigkeit umzugehen? Vachon widerspricht. «Nicht typisch amerikanisch, typisch männlich» sei das Gebaren. Die tief verwurzelte Furcht vieler Männer vor vager Männlichkeit reiche bis in die griechische Mythologie zurück. Mit Amerika habe das genauso wenig zu tun wie die dargestellten proletarischen Verlierer im Hinterwäldlerstaat Nebraska. «In der Schweiz gibts ebenfalls viele furchtbar kleine Städte ohne Zukunft. Aus Langeweile passieren dort bestimmt dieselben Dummheiten wie hier zu Lande», sagt die Produzentin. Provokation ist Vachons Markenzeichen. Ebenso die totale Kontrolle, die sie angeblich über ihre Regisseure ausübe. «Es ist der Job jeder Produzentin, das Beste aus Filmern rauszuholen», sagt sie und gesteht: «Oft gegen deren Willen.» Mehrere Male habe sie die unerfahrene Regisseurin von «Boys Don’t Cry», Kimberly Peirce, in den Schnittraum zurückgeschickt. «Es half dem Film doch sehr.»
In Vachons noch von staatlichen Fördergeldern finanziertem Produktionserstling «Poison» liebten sich nackte Männer, in «Go Fish» lustvoll Frauen. Moralhüter fürchteten darob den raschen Zerfall der Sitten, bezahlt mit Steuern. Hohe Wellen warf 1995 die triste New Yorker Teenagerstudie «Kids». Minderjährige wetteifern darin, wer die meisten jungen Mädchen zu entjungfern vermag. An der Premierevorführung in Cannes bezichtigten sonst betuliche Cineasten die «Kids»-Macher lauthals und empört als Drecksäue. Später kratzte Vachon am Lack von Künstlerikone Andy Warhol («I Shot Andy Warhol») und verlegte in «Happiness» Pädophilie, gestörte Sexualität und Magersucht dorthin, wo all das dem Klischee gemäss hingehört: ins unerträgliche Suburbia am Stadtrand.
Man rätselt, warum die Täuschung nicht schon früher aufflog
Als Skandalfilmerin will Vachon dennoch nicht gelten. Für die Medien bewusst angeheizte Kontroversen hätten ihr zwar einst geholfen, ausgefallene Storys geschickt zu vermarkten und Tabus lukrativ zu brechen. «Inzwischen haben sich alle daran gewöhnt.» Erfolg im Kino lasse sich nun wieder wie eh und je ganz einfach erzeugen: «Gute Geschichten gut erzählen.»
Die Story von Teena Brandon ist eine hervorragende Geschichte. Kühn verkörpert die bis anhin kaum bekannte Fernsehschauspielerin Hilary Swank einen Burschen, der keine Frau mehr sein will. Dem glauben alle, weil ihm alle glauben wollen. Wenig wundert: Nach dem Mord rühmen etliche Frauen Brandon als tollen Liebhaber. Den besten, den sie je hatten.
Man rätselt, warum die Täuschung nicht schon früher aufflog. «Es geht eine unheimliche Kraft von dem aus, was jemand über sich selbst sagt», meint Vachon, die vor Drehstart während fünf Jahren über Transsexuelle recherchiert hatte. «Wenn Sie mir sagten, Sie seien eine Frau, wäre ich zuerst erstaunt. Bald gestände ich mir ein: Oh well, sie ist eckig, nicht rund, etwas grösser als manche Frau. Doch was solls, habe schon etliche Girls getroffen, die aussehen wie Sie.» Triftige Gründe, Unvorstellbares zu glauben, fänden sich in Amerika immer.
Ganz der Wahrheit entspricht auch «Boys Don’t Cry» aber doch nicht. Die einstige Geliebte von Brandon reichte Klage gegen Vachon ein, wegen angeblicher Verleumdung. Über Details verhandeln derzeit die Anwälte. Der Rechtsstreit zeuge nur vom anhaltenden Erfolg, sagt Vachon. «Solange man jemanden nicht verunglimpft, ist erlaubt, was funktioniert.»