Von Peter Hossli
Nach dreistündiger, mit Details zu Pobacke, Penis und Pinkelpraxis gespickter Anhörung entschied die Jugendrichterin Marilyn Leonard ohne Emotion: Eintreten. Die vorgebrachten «wahrscheinlichen Gründe» reichten ihr, der doppelten Anklage gegen Raoul Wüthrich stattzugeben – morgen Montag kommt es zur formellen Anklageerhebung. Die Verteidigung des elfjährigen Knaben wird auf «nicht schuldig» plädieren.
Verurteilt das Gericht Raoul, erwartet ihn eine Strafe von maximal zwei Jahren. Dass der US-Schweizer diese Strafe ambulant in der Schweiz verbüssen darf, ist unwahrscheinlich. Zuerst müsse das Umfeld der Familie Wüthrich genauer überprüft werden; es gebe hinreichende Zweifel, dass dieses kindergerecht sei, sagt Pam Russell, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Von einer gross angelegten Untersuchung, die gegen die Familie laufe, habe die Öffentlichkeit nichts mitbekommen. Details? «Kein Kommentar.» Ein Zeuge der Anklage will belegen können, Raouls Eltern Beverly und Andreas Wüthrich hätten im Beisein ihrer vier Kinder Pornos geguckt. «Trifft dies zu», sagt Ankläger Hal Sargent, «erachten wir die Familie als ungeeignetes Umfeld.» Der Bub müsste zur Behandlung in den USA bleiben.
Auch der Pressesprecher der Schweizer Botschaft in Washington, Manuel Sager, relativiert Medienberichte, wonach eine Therapie in der Schweiz so gut wie feststehe. «Es wäre verfrüht, zum gegenwärtigen Zeitpunkt von konkreten Schritten hinsichtlich einer Überführung Raouls zu sprechen.» Dies sei Gegenstand der Anwälte und der Strafuntersuchungsbehörden. «In diese Verhandlungen können wir nicht direkt eingreifen.»
Raoul sei nicht nur Sexualdelinquent, sondern auch ein Pyromane
Nachbarin und Kronzeugin Laura Mehmert beschreibt die Kinder am Donnerstag vor Gericht als «lost children», als Kummerkinder. Sexuelle Übergriffe von Raoul auf Sophia will sie bereits im August 1998 beobachtet haben. Ausserdem habe die von der Richterin als «glaubwürdig» eingestufte Zeugin an Raouls Körper und Beinen Verbrennungen gesehen. Die Beobachtung bestärkt Ankläger Sargents Beschuldigung, Raoul sei nicht nur als Sexualdelinquent, sondern auch als Pyromane aufgefallen. Vor der Verhaftung im August gestand Raoul einem Sozialarbeiter, er habe die Schwester sexuell berührt. Nach genauer Prüfung der Umstände schloss die Behörde: Sophia wird ungenügend geschützt, die Eltern negieren die Missbrauchsvorwürfe. Gemäss der Kinderpsychologin der University of Colorado, Gail Ryan, ist sexueller Missbrauch zwischen einem Elfjährigen und einer Fünfährigen sehr wohl möglich. Wenn bei einer sexuellen Handlung ein grosser Altersunterschied, ein Unterschied hinsichtlich dem Wissen über Sex oder die Anwendung von Gewalt vorliegt, ists laut Gesetz Ausbeutung. Klage eine Fünfjährige über Schmerzen, die ihr jemand im Intimbereich zufüge, müsse das «sehr ernst» genommen werden. Die Eltern sollens auf die leichte Schulter genommen haben – obwohl sie vom Sozialamt informiert worden waren. «Hätten wir gespürt, dass die Eltern ihre Tochter vor Übergriffen schützen und Therapiemöglichkeiten für Raoul ins Auge fassen», sagt Staatsanwalt Sargent, «wäre der Bub nie verhaftet worden.»
Die fluchtartige Abreise der Eltern erschwert und verzögert den juristisch streng formalistischen Fortgang, was ebenfalls gegen eine baldige Abreise Raouls spricht. Trotzdem kommen seine Eltern nicht zurück. Angeblich würden sie verhaftet, und die Kinder würden ihnen weggenommen. Anklagepunkte gegen Andreas oder Beverly Wüthrich liegen jedoch noch keine vor. «Die Eltern können ein- und ausreisen, wann immer sie wollen», sagt Sprecherin Russell.