«Das Internet fördert den Hass»

Die Psychologin Kathleen Heide ortet den Hort der Gewalt in der Familie, die nicht mehr funktioniert. So werden Massaker wie in Littleton möglich.

Interview: Peter Hossli

Frau Heide, warum töten in den USA Teenager Teenager?
Kathleen Heide: Die jugendlichen Mörder sind meist einsam, haben ein niedriges Selbstbewusstsein, sind Aussenseiter.

Um auf sich aufmerksam zu machen, schiessen sie wild drauflos?
Heide: Sie wollen den anderen zeigen, was sie draufhaben. Jugendliche Täter sehen sich oft als die eigentlichen Opfer.

In den vergangenen 18 Monaten kam es an sechs US-High-Schools zu Schiessereien. Ist das ein Zufall?
Heide: Nie zuvor gab es mehr Gewalt an US-Schulen. Der erschreckende Trend begann bereits Anfang der Neunzigerjahre. Littleton hat mich nicht überrascht.

Warum fallen Schüsse eher in den Vor- als in den Innenstädten?
Heide: In Städten gibt es mehr Toleranz. In den Vorstädten bekämpfen sich wenige Gruppierungen. Wer denen nicht angehört, driftet ins Abseits. Viele Kids langweilen sich dort. Sie sind entwurzelt und oftmals unfähig, mit schwierigen Gefühlen differenziert umzugehen.

Warum nahm die Zahl jugendlicher Killer denn so drastisch zu?
Heide: Mehr noch stieg die Anzahl misshandelter Kinder. Missbrauchte Jugendliche tendieren zu Gewalt. Zugleich ist eine Abnahme elterlicher Betreuung festzustellen. Kinder und Jugendliche verbringen mehr Zeit denn je alleine. Frauen ziehen ihre Kinder ohne Väter auf. Sie sind ökonomisch gezwungen, sofort nach der Geburt wieder zu arbeiten. Die Familie als soziale Struktur löst sich auf – oder sie ist selbst Hort der Gewalt.

Die Wirtschaft läuft hervorragend. Gleichwohl wächst die Gewalt?
Heide: Das Wirtschaftswachstum trügt. Es gibt heute mehr Kinder, die in Armut aufwachsen als je zuvor. Gleichzeitig zelebrieren die Medien die Konsumgesellschaft, an der alle um jeden Preis teilhaben sollen – wenns sein muss mit Waffen.

Fehlt es an Richtlinien?
Heide: Vielen Kindern, vor allem den Buben, mangelt es an positiven männlichen Vorbildern. US-Väter sind allzu selten da.

Hier zu Lande übernehmen doch traditionell Helden aus Politik oder Sport die Rolle moralischer Autoritäten.
Heide: Diese Helden sind uns abhanden gekommen. Amerika leidet an einer akuten Führungskrise. Politiker gelten als korrupt oder – wie im Fall von Clinton – unglaubwürdig. Sie können machen, was sie wollen – ohne jegliche Konsequenzen. Sportler verdienen enorm viel, konsumieren Drogen, schlagen ihre Frauen.

Sind die Medien mitschuldig?
Heide: Nie zuvor kamen Jugendliche mit mehr Gewalt in Kontakt. 60 Prozent der Fernsehsendungen, Kinofilme oder Videospiele feiern Mörder. Töten ist meist das einzige Ziel der fiktiven Figuren.

Dann ist Hollywood schuld?
Heide: Kinder sehen immer mehr reale Morde in ihren Quartieren. Zudem lautet das Credo in den USA: Gewalt wird am besten mit Gewalt beantwortet.

Woher stammen die Waffen?
Heide: Eine Waffe zu erstehen ist einfach. Oft genügt ein Führerschein. Jugendliche werden überdies von der Waffenorganisation National Riffle Association direkt angeworben. Statistiken zeigen: Mit der höheren Verfügbarkeit von Waffen nahm die Mordrate unter Kindern zu.

Erschreckend ist die Beliebtheit von Neonazi-Organisationen.
Heide: Neonazi-Gruppierungen ködern Jugendliche sehr aggressiv. Die entwurzelten Kids suchen nach Identität. Es ist einfacher zu hassen und zu zerstören als Beziehungen aufzubauen. Wenn es einem schlecht geht, ist es einfach, Schwarze oder Schwule verantwortlich zu machen.

Wo fanden die Schüler Littletons Adolf Hitlers Schriften?
Heide: Im Internet. Dieses Medium fördert die Isolation und den Hass. Dank dem Internet können Weisse in Colorado Schwarze hassen – obwohl sie nie mit Schwarzen in Kontakt kommen.

US-Präsident Clinton bewilligte nach der Tragödie in Littleton 17 Millionen Dollar für bewaffnete Polizisten.
Heide: Gewalt kann man nicht mit Gewalt bekämpfen.

Was schlagen Sie vor?
Heide: Innere Kontrolle. Wir kennen die Gründe der Gewalt, unternehmen jedoch nichts. Symptome müssen ernst genommen, der Zugang zu Waffen verhindert werden. Heutige Jugendliche brauchen mehr Betreuung. Denn sie sind grösserem Stress und sozialem Druck ausgesetzt als alle Generationen zuvor.