Von Peter Hossli
Der kleine Junge wollte wieder einmal Doktor spielen. Auf dem Schulhof der Primarschule in Macon, im südlichen US-Bundesstaat Georgia, nahm der Zehnjährige die gleichaltrige LaShonda Davis an der Hand und schlug vor: «Lass uns Sex machen.» Als sie nicht wollte, griff er dem Mädchen unter die Bluse, dann in die Hose.
Verstört und weinend eilte LaShonda nach Hause. Ihrer Mutter, Aurelia Davis, sagte sie, sie werde seit Monaten von G.F. bedroht, wüst beschimpft und oft gewaltsam an den intimsten Stellen berührt. Die Mutter beklagte sich im Spätwinter 1993 beim Rektor der Primarschule. Der sagte bloss: «LaShonda ist die Einzige, die sich an unserer Schule über so etwas beschwert. Kinder in diesem Alter sind halt so.» Unternommen wurde von Seiten der Schule her nichts.
Nachdem Aurelia Davis einen Zettel mit einer Selbstmorddrohung ihrer Tochter fand, verklagte sie die Schule auf Grund eines Gesetzes, das sexuelle Ausbeutung an staatlich geförderten Schulen untersagt. Die Klage wurde mit der Begründung abgeschmettert, das Gesetz befasse sich bloss mit der Nötigung von Schülern durch Lehrer. Davis zog den Fall weiter bis an den Supreme Court. Letzte Woche hörten sich die obersten Richter der USA ihre Klage an. Im Juli wird der Fall entschieden.
Der Prozess bewegt die USA. Während das Interesse an Präsident Bill Clintons Sexgeschichten spürbar abgeflaut ist, blicken Eltern, Schulvorsteher und Gesetzeshüter gespannt auf einen juristischen Nebenschauplatz in Washington. Der Fall «Davis vs. Monroe School Board of Education» dürfte zum «letzten wichtigen Prozess des Jahrhunderts werden», schreibt die «Washington Post». Ein Fall, der den US-Schulalltag grundlegend umkrempeln könnte. Die Richter müssen sich fragen, ob frühkindliches sexuelles Interesse gesetzlich zu verbieten sei; wo die Linie zwischen Gewalt und Spiel liegt; wer bei Kindern in sexuellen Dingen das Sagen hat: die Eltern, die Lehrer oder aber die Richter.
Die Anwälte der Schule argumentieren, die 1972 verabschiedete Gesetzesgrundlage zur sexuellen Belästigung an Schulen betreffe bloss das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülerinnen. Hier gehe es jedoch um zwei gleichaltrige Kinder, die «einander hänseln, der Junge etwas aggressiver als das Mädchen».
Die Frauenorganisation National Women’s Law Center wie auch die Rechtsabteilung der Regierung Clinton sind anderer Meinung. Es brauche eine gesetzliche Grundlage, mit der dem Missbrauch auf dem Pausenplatz Einhalt geboten werden könne. «Unsere Schulen sind Ausbildungslager für künftige sexuelle Ausbeuter», schreibt die Frauenorganisation Now, «die Knaben werden nicht bestraft, während die Mädchen lernen, dass es zu einer Frau gehört, erniedrigt zu werden.»
Tatsächlich sind verbale und körperliche Übergriffe an der Tagesordnung. In einer Umfrage gaben 85 Prozent der Mädchen und 76 Prozent der Knaben an, sie seien mindestens schon einmal belästigt oder gar sexuell missbraucht worden. Überraschend: Bloss in zwanzig Prozent der Fälle machten sich Lehrer an ihren Schutzbefohlenen zu schaffen, ansonsten überschritten andere Kameraden gewaltsam Grenzen.
Bekommt Davis Recht, müssten etliche öffentliche Schulen bald Bankrott anmelden, sagen die Verteidiger. Ausserdem würde ein gesetzlich verankerter Verhaltenscode Eltern wie Lehrer bei der Kindererziehung entmündigen. Rapid zunehmen dürften Fälle wie jener des Fünftklässlers, der vor zwei Jahren von der Schule verbannt wurde – er küsste seine Kameradin auf die Wange.