John Horgan – «Es bleiben Bier und Sex»

«Alles ist erforscht», sagt Wissenschaftsjournalist John Horgan. Doch die Forscher glauben nicht an das Ende der Wissenschaft.

Von Peter Hossli

Der Wissenschaftsjournalist John Horgan vertritt in seinem Buch «An den Grenzen des Wissens» eine gewagte These: Die Wissenschaft habe ihre Grenzen erreicht. Biologen, Physiker und Chemiker hätten so erfolgreich geforscht, dass alles bekannt sei, was man beweisen könne. Übrig bleibe bloss noch Spekulation um nicht überprüfbare Theorien.

Zu seiner These kam Horgan nach Interviews mit einigen der angesehensten Wissenschaftler – und löste damit eine heftige Debatte aus. Wissenschaftler und Journalisten treten vehement gegen seine These an. Die Zeitschrift «Bild der Wissenschaft» kürte Horgans Werk zum besten Wissenschaftsbuch 1998 in der Kategorie «Zündstoff».

Horgan wurde vom US-Wissenschaftsmagazin «Scientific American» fristlos entlassen, weil sein Buch der Zeitschrift finanziell «schwer geschadet» habe. Horgan, verheiratet und Vater zweier Kinder, lebt im US-Bundesstaat New York.

Mister Horgan, in den kommenden fünf Jahren wird sich das neu erworbene Wissen der Menschheit verdreifachen. Wie können Sie da das Ende der Wissenschaft verkünden?
John Horgan: Dreimal nichts ergibt auch nichts.

Ihr Kollege John Maddox hat eben ein dickes Buch vorgelegt mit dem Titel «What Remains to Be Discovered». Maddox vertritt darin die Ansicht, die Wissenschaften stünden erst am Anfang. Ihre These vom Ende der Wissenschaften ist bereits widerlegt.
Horgan: Keineswegs. Maddox sagt, weil wir nichts gelernt haben, stünde uns noch viel bevor. Ich sage: wir haben ausgelernt. Es gibt nichts Bahnbrechendes mehr zu entdecken.

Maddox entgegnet, das Bewusstsein, der menschlichen Verstand, werde bald entschlüsselt.
Horgan: Das wird seit langem versucht. Die Wissenschaft hat aber enorme Probleme damit. Das bedeutet doch, dass man das Bewusstsein nicht erklären kann. Natürlich hoffe ich auf bessere Theorien in praktischen Angelegenheiten wie der Schizophrenie oder der Depression. Das Bewusstsein an sich bleibt aber ein ungelöstes Rätsel.

Was bis jetzt unlösbar ist für unlösbar zu erklären, ist eine reichlich simple Erklärung.
Horgan: Natürlich kann ich nicht abschliessend sagen: «Es ist unmöglich.» Ich kann aber die bisherige Bewusstseinforschung anschauen. Die ist ziemlich ärmlich. Zwar hat die Gehirnforschung einen enormen Datenberg angehäuft. Sichere Aussagen über den Verstand lassen sich aber keine machen. Fortschritt bei der Gehirnforschung ist Illusion.

Vom 21. Jahrhundert werden enorme wissenschaftliche Fortschritte erwartet. Sie sagen, es sei das Ende der Wissenschaften. Inwiefern?
Horgan: Wissenschaft im Sinn wirklich grosser Entdeckungen wird es nicht mehr geben. Grundlegende Theorien wie Darwins Evolution, die Urknalltheorie, Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenphysik werden nicht mehr entwickelt.

Die Genforschung findet doch fast täglich neue Gene, die für die eine oder andere Krankheit verantwortlich sind.
Horgan: Im Vergleich zur Entdeckung der Erbinformation DNS oder der Evolutionstheorie sind das minimale Fortschritte.

Die angewandte Forschung hätte genügend Aufgaben.
Horgan: Auch dort gibts etliche Grenzen. Nehmen wir Krebs. In den vergangenen fünfzig Jahren wurde enorm viel Zeit und Geld in die Krebsforschung investiert. Zwar verstehen wir die molekulare Biologie dieser Krankheit besser. Die Krebssterberate blieb aber absolut flach. Die Krebsforschung ist ein totaler Misserfolg.

Das kann nur ein Ungeduldiger sagen. Fünfzig Jahre Forschung ist eine kurze Zeit.
Horgan: Wenn Sie die Stunden und die Anzahl Forscher zusammenrechnen, die sich mit Krebs befasst haben, wird klar: Nichts ist gründlicher und mit mehr Geld erforscht als Krebs.

Es gibt andere Problemfelder, die keineswegs gelöst sind. Dereinst geht uns etwa die Energie aus.
Horgan: Auch hier versagt die angewandte Forschung. Seit den vierziger Jahren hoffen Nuklearphysiker, mittels Kernfusion Energie zu gewinnen – bis anhin ohne nennenswerte Resultate. Es wurden schon Milliarden aufgeworfen, um die Kernfusion zu verwirklichen. Man ist genauso weit davon entfernt wie am Ende des Zweiten Weltkrieges. Inzwischen werden weltweit Kernfusionsprogramme eingestellt. Ehrliche Physiker geben zu: Die Kernfusion lässt sich real nie umsetzen.

Wie können Sie so sicher sein?
Horgan: Die technischen Probleme sind enorm. Hinzu kommen politische und wirtschaftliche Hürden. Fusionskraftwerke sind nicht billiger als die Alternativen.
Geben Sie den Forschern doch etwas Zeit.
Horgan: Es gibt Gebiete, wo Zeit nichts hilft.

Damit schliessen Sie das Element der Überraschung aus. Etliche bahnbrechende Theorien kamen zufällig zustande.
Horgan: Das war vor hundert Jahren richtig. Damals wussten wir noch wenig. Heute wissen wir viel. Die Kontinente sind vermessen, die Berge bestiegen, die Flüssen befahren und die Tierarten beschrieben. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass wir Dinosaurier auf einer einsamen Insel finden. Atlantis bleibt unentdeckt, genauso Lebewesen ohne DNS-System. Weil wir bereits so viel wissen, werden uns die Hauptgebiete der Wissenschaft – Physik oder Chemie – kaum mehr überraschen.

Jede Generation scheint zu glauben, sie wisse alles. Neue ist Ihr Argument also nicht.
Horgan: Falsch. Vor hundert Jahren debattierten die Physiker etwa darüber, ob alle Dinge aus Atomen bestünden. Heute ist alles klar.

Dem stimmen nur wenige Wissenschaftler zu.
Horgan: Viele wollen nicht wahrhaben, dass das Zeitalter der grossen Entdeckungen vorbei ist. Die jetzt lebenden Menschen lebten stets im Bewusstsein, Wissen wachse. Technologien wurden in dieser Zeit stets besser. Es fällt allen schwer, Grenzen zu akzeptieren.

Sollen wir darüber Trauern? Oder sollen wir übers Erreichte glücklich sein?
Horgan: Entdeckung ist etwas vom Schönsten überhaupt. Es hat der Menschheit stets Sinn gegeben. Die intellektuelle Herausforderung macht Spass. Dass das nun enden könnte, irritiert.

Trifft das für jedes wissenschaftliche Gebiet zu?
Horgan: Nehmen wir die Teilchenphysik. Da gibts die Superstringtheorie, die Chaostheorie oder die Komplexitätstheorie. Diese Theorie sind leer. Sie können nie überprüft werden und bringen uns demnach nichts. Die gescheitesten Menschen forschen an neuen Dimensionen bezüglich Raum und Zeit – und verlieren total den Bezug zur Realität. Kommt hinzu, dass die über Teilchen sprechen, die so klein sind, dass es einen Teilchenbeschleuniger von der Grösse der gesamten Milchstrasse bräuchte, um sie zu erkennen. Das ist ein Witz. Solche Wissenschaft nenne ich ironische Wissenschaft. Sie sind Fiktion, nicht Science.

Warum wird solche Wissenschaft denn betrieben?
Horgan: Die Wissenschaftler sind verzweifelt. Sie wissen nicht mehr, was sie erforschen sollen.

Die Wissenschaft wird zum Selbstzweck?
Horgan: Heute werden etliche Theorien aufgestellt, die mit Sicherheit nie beweisen werden können. Wissenschaft ist wie Theologie. Man wird auch nie wissen, ob Gott existiert.

Worin unterscheiden sich denn die «harten» Wissenschaften – Physik oder Chemie – noch von den «weichen» Wissenschaften – Philosophie oder Literaturkritik?
Horgan: Die beiden nähern sich an. Die Wissenschaft startete als Philosophie, als lustvolle Spekulation über Unbekanntes. Dann wurden einzelne Theorien bestätigt. Es entstand ein enormes Verständnis der Realität. Jetzt, nach dem einige Wissenschaften sehr erfolgreich waren, gehen sie zurück zur Philosophie, zur reinen Spekulation, die nie bestätigt werden kann. Einige der neuen Theorien sind faszinierend, etwa jene der parallelen Universen. Nur: Wir können sie nie beweisen.

Wir wissen doch erst, dass der Urknall vor rund 4,5 Milliarden Jahren statt fand. Warum das passierte, bleibt unbekannt.
Horgan: Es gibt keine mathematische Formel, die sagt, wir werden das nie wissen. Mein Verstand und die Physik sagen mir aber, der Ursprung des Universums wird stets verborgen bleiben. Es gibt keine Zeitmaschinen und wir können nicht über die Grenzen des Universums hinweg schauen.

Sie argumentieren wie ein ironischer Wissenschaftler – einer ohne Beweise.
Horgan: Vielleicht finden wir einen Weg, dereinst schneller als das Licht zu reisen oder uns unsterblich zu machen.

Nehmen wir die Evolution. Sie begann vor rund 1,5 Millionen Jahren. Warum, ist unbekannt.
Horgan: Der Ursprung des Lebens ist nach dem Ursprung des Universums das zweite grosse Mysterium. Wie die Urknalltheorie reicht die Evolution nicht aus, die Fragen zu beantworten. Darwin und die Gentechnologie können nicht erklären, wie und warum Leben entstanden ist. Wir müssen akzeptieren: Die Frage ist unlösbar.

Vielleicht kann man sie erklären, wenn Leben auf anderen Planeten entdeckt wird.
Horgan: Wir wissen nichts über ausserirdisches Leben – obwohl so viele Wissenschaftler stets sagen, sie werden welches finden.

Der erste Mensch flog erst 1961 ins Weltall. Lange hat man noch nicht gesucht. Bald sind Marsreisen möglich.
Horgan: Um den nahe gelegensten Stern im nächsten Sonnensystem zu finden, müsste man 3000 Jahre lang reisen. Dorthin kommt man nur in Sciencefiction-Filmen. Die Menschheit wird in diesem Sonnensystem bleiben. Es tut mir leid.

Sie nehmen all jenen den Glauben, die auf Ausserirdische hoffen.
Horgan: Es könnte sein, dass die zu uns kommen. Wir werden sie jedoch nicht besuchen. Fast nur Physiker glauben an ausserirdisches Leben. Biologen zweifeln daran. Sie realisieren die Komplexität menschlichen Lebens. Auf der Erde gabs während drei Milliarden Jahren ausschliesslich bakterielle Lebensformen. Erst dann wurde es interessant. Das hätte nie passieren müssen.

Menschen wollen wissen. Das Sterben nach Entdeckung ist eine der wichtigsten Triebkräfte unseres Daseins. Sie verkünden das Ende des Sinns für Leben. Was bleibt den Menschen noch?
Horgan: Zum Beispiel Bier und Sex.

Weil wir alles wissen, können wir uns getrost der Lust hingeben?
Horgan: Es gibt noch Kunst oder Philosophie. Natürlich fehlt diesen Dingen die Klarheit der Wissenschaften. Kann man sagen, ob James Joyce besser ist als Shakespeare? Das ist Geschmacksache. Wir können aber beweisen, dass die Urknalltheorie präziser ist als talmudische Kosmologie.

Zur Quantenphysik gehört das Element der Unendlichkeit. Ein abschliessende Theorie ist sie also nicht.
Horgan: Quantenmechanik beschreibt Mikronome, elektrischer Magnetismus und nukleare Kräfte, dann gibt es die Relativitätstheorie, die die Gravitation beschreibt. Physiker sind sehr anal veranlagt. Sie wollen alles mit einer einzigen kleinen mathematischen Formel erklären. Das wäre zwar gut, aber es braucht den gigantischen Teilchenbeschleuniger. Vielleicht ist es gar nicht nötig, alles in eine einzige Formel zu stecken. Noch immer lassen sich viele Dinge mit Newtons Mechaniktheorie erklären. Die Physiker sollten versuchen, ohne abschliessende Theorie zu leben.

Neue Theorien entstanden stets aus bereits bekannten. Ohne Newton wäre Einstein kaum möglich gewesen. Auf Einstein könnte ein anderer folgen.
Horgan: Es könnte sein. Quantenmechanik und Relativitätstheorie erklären aber jedes zugängliche physikalische Phänomen. Die Theorie sind ausserordentlich erfolgreich. Ungelöst bleiben bloss gedankliche Experimente, etwa, wie waren die Bedingungen im ersten Bruchteil des Urknalls? Wie fühlt sich ein Schwarzes Loch an? Hierfür gibts Theorien, jedeoch keine Experimente. Die reale Welt lässt sich aber erklären.

Wie sich die Wissenschaft entwickeln?
Horgan: Physik, die dominante Wissenschaft dieses Jahrhunderts, nimmt ein Ende. Teilchenphysik wird aussterben. Es braucht sie nicht mehr. Die Wissenschaft der Zukunft ist Biologie. Innerhalb der Biologie ist es bestimmt die Gehirnforschung. Da liegt ein enormes Potenzial.

Dann stimmt ihre These doch nicht.
Horgan: Im Gegenteil. In einem neuen Buch werde ich zeigen, dass etwa der Hype um die Gentechnologie nicht den tatsächlichen Ergebnissen entspricht. Täglich hört man vom neuen Gen für Homosexualität, für Schizophrenie oder für Depression. Keine dieser Entdeckungen ist je bestätigt worden. Man hört nie, dass es sechs andere Studien gibt, die die neuen Gene nicht orten konnten. Den Leuten wird das Gefühl vermittelt, sie lebten in einer fortschrittlichen Zeit.

Die Wissenschaftler geben vor, sie entdecken, um die finanzielle Unterstützung zu sichern?
Horgan: Das sagen Zyniker. Die Wissenschaftler bemühen sich aber tatsächlich, Durchbrüche zu erzielen. Mediziner und Biologen wollen Krankheiten heilen.

Dann sind Sie optimistischer in diesen Gebieten?
Horgan: Ich möchte glauben, Krebs werde geheilt. Fortschritte sehe ich keine. Meine Mutter, meine Schwiegermutter und mein Bruder starben an Krebs. Mein Bruder starb, nachdem er sich von einer der gehypten «Heilmethode für Krebs» behandeln liess. Wissenschaftler müssten ehrlicher werden und zugeben: «Wir kommen nicht voran.»

Welche Forschung sollte an Universitäten betrieben werden?
Horgan: Die Universitäten sollten weniger Physik und mehr Biologie im angewandten Bereich betreiben.

Das bedeutet, dass die Industrie die Wissenschaft bezahlt und steuert?
Horgan: Klar. Und das wird den Hype um die Wissenschaft zusätzlich verstärken. Inzwischen hat etwa die biologische Psychologie den alten Freud abgelöst. Statt zum Psychiater zu gehen, nimmt man Prozac, die angebliche Wunderdroge. Studien zeigen aber: Prozac ist nicht besser als die alten Anti-Depressiva und Anti-Depressiva sind nicht wirkungsvoller als Therapien.

Die Pharmaindustrie zeigt zunehmend, was Wissenschaft ist?
Horgan: Umso wichtiger wären kritische Wissenschaftsjournalisten. Leider sind die meisten bloss fasziniert vom Entdecken. Sie hinterfragen zu wenig. Kultur- oder Sportjournalismus ist weiter entwickelt als Wissenschaftsjournalismus – obwohl Sport nicht wirklich wichtig ist.

Warum haben Sie den «Scientific American» verlassen, ein führendes US-Wissenschaftsmagazin?
Horgan: Die haben mich rausgeworfen. Mein Buch war denen zu kritisch. Leute im Verlag meinten, ich schade dem Magazin finanziell.

Wie reagierten Wissenschaftler auf Ihr Buch?
Horgan: Oft harsch. Einer meinte, mein Buch ziehe den Schluss, wir müssten alle Kinder umbringen. Während der Vergabe des Nobelpreises hielt der Physikgewinner eine Rede, in der er mich verdammte. Im Privatgespräch beim Abendessen kam er zu mir und sagte: «Eigentlich stimme ich ihnen in vielen Punkten zu. Ich kann das nur nicht öffentlich sagen.»

Können wir die grossen Fragen, wer wir sind und woher wir kommen, demnach nur mit Gott beantworten?
Horgan: Ich bin keine religiöse Person. Mein Buch war aber populär bei Schöpfungstheoretikern. Weil ich sage, wir kommen nicht weiter, sagten die, die Antwort habe Gott. Ich bin der Meinung, es bleiben ungeklärte Mysterien. Was wiederum gut ist. Angst würde es mir machen, wenn wir tatsächlich eine einzige Theorie hätten, die so komplexe Wesen wie Menschen oder das Universum erklären würde.

Die Wissenschaft endet. Dafür boomen Religionen und der Aberglaube?
Horgan: Das hat nie aufgehört. Die Mehrheit der Amerikaner glaubt nach wie vor an Religion, Astrologie, UFOs oder sonstigen Schwachsinn.

Fünfzig Prozent der Wissenschaftler glauben an Gott.
Horgan: Was wiederum die Unfähigkeit der Wissenschaft aufzeigt, abschliessende Fragen zu finden.