Von Peter Hossli
Gehetzt wie ein Junkie, dessen Stoff gerade nicht aufzutreiben ist, streicht Esther Dyson durch den Terminal A des Flughafens Zürich-Kloten. Ihre Droge ist elektrischer Strom, das Ziel der Begierde eine Steckdose mit amerikanischer Buchse.
Bevor die scheinbar ruhelose Internet-Visionärin, die den ausgemergelten Körper in einen weiten Pullover hüllt, sich interviewen lässt, müssen die Akkus des tragbaren Computers aufgeladen werden. Schliesslich steht ein neun Stunden dauernder Flug nach New York an. Diesen gilt es mit Arbeit auszufüllen: E-Mails beantworten, Ideen über das Kommunikationszeitalter in festgeschriebene Gedankengänge umwandeln, anstehende Konferenzen vorbereiten.
Die “First Lady des Internets”, wie sie die deutsche “Zeit” nennt, muss sich sichtlich beherrschen. Keiner der Swissair-Angestellten kann ihr helfen.
Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Zeit ist kostbar im Leben von Esther Dyson, 44, der einzigen einflussreichen Frau einer ansonsten von Männern dominierten digitalen Welt. Ihr Buch “Release 2.0” erscheint am 29. Oktober gleichzeitig in Asien, Europa, Nord- und Südamerika. In 15 Sprachen.
Monatlich publiziert sie ihren vom britischen “Guardian” als “beste Publikation über Kommunikation” gepriesenen Newsletter “Release 1.0”. 1600 Abonnenten, alles führende Vertreter der Computer- und Informationsindustrie, lassen sich darin über mögliche Zukunftsszenarien aufklären. Wird heute ein neues Produkt entwickelt, steht am Anfang oft eine Vision von Esther Dyson.
Alljährlich organisiert sie das PC Forum, einen exquisiten Anlass, an dem Leute wie Microsoft-Chef Bill Gates, Apple-Gründer Steve Jobs oder IBM-Chef Louis Gerstner zu erahnen glauben, wie ihr Geschäft dereinst funktionieren wird. Diesen März nahmen in Tuscon, Arizona, 600 Leute teil: geballte Macht in Massanzügen, kontrolliert von einer zierlichen Frau, deren Antworten kurz, stets präzis und nie prätentiös sind: “Niemand hat das Recht, Geld zu verdienen”, sagt sie auf die Frage, ob man mit dem Internet reich werde.
Ihr Hauptinteresse gilt Osteuropa. Seit einigen Jahren hilft sie, in Russland, Polen und der Tschechischen Republik eine funktionstüchtige Soft- und Hardware-Industrie aufzubauen. In verschiedenen osteuropäischen Staaten amtet Dyson als Internet-Beraterin oder investiert, wie in Polen, in rasant wachsende Online-Dienste. Seit fünf Jahren organisiert sie dort ein profitables Hightech-Forum. 1993 fand es in Slowenien, wenige Kilometer neben den umkämpften Gebieten in Ex-Jugoslawien, statt. Westler bezahlten 2500, Ostler 1000 Dollar.
Zum “New Establishment”, den fünfzig einflussreichsten Personen der Kommunikationsbranche, rechnet das US-Magazin “Vanity Fair” Esther Dyson in seiner jüngsten Ausgabe. Regierungschefs in Grossbritannien, Ungarn und Norwegen ziehen sie regelmässig als Beraterin bei, allerdings in inoffizieller Mission. Auf Glamour oder Eigenmarketing legt die Frau, die einst nur “fast geheiratet hätte”, keinen Wert. “Es ist bestimmt schwierig, mit mir eine Beziehung zu leben”, sagt sie in einem Nebensatz.
Dann spricht sie wieder von der Welt im Netz.
Besonders geschätzt werde Dysons visionärer Blick, schrieb das US-Computermagazin “Wired”. Sie wisse heute schon, was morgen sein werde. Ihr allein wird etwa zugetraut, US-Präsident Bill Clinton zu überzeugen, dass er das Internet von allzu restriktiven Gesetzen verschonen muss.
Für viele ist Esther Dyson eine Legende. Einige halten sie sogar für die Erfinderin des Internets. Dyson, die beim Treffen am Flughafen dem Fotografen zu verstehen gibt, sie werde “äusserst ungern” abgelichtet, weil Worte, nicht Bilder von Bedeutung seien, wehrt ab: “Ich war die Erste, die das Potenzial des Internets erkannt hat, kreiert haben es andere.”
Einen grösseren Einblick in die digitale Welt als die nervöse Tochter einer Bernerin und eines Amerikaners hat gleichwohl niemand. Sie sitzt in einem Dutzend Verwaltungsräten führender US-Technologie-Firmen und -Organisationen. An fast jeder bedeutenden Konferenz hält sie Vorträge. Ihre merkwürdige Berufsmischung – sie ist Unternehmensberaterin, Netzaktivistin, Publizistin, Unternehmerin, Analytikerin und Denkerin – gedeiht prächtig in der merkwürdigen wie blühenden Internet-Welt.
Ähnlich einem Hollywoodagenten, der Regisseure, Produzenten und Schauspieler in der richtigen Kombination zu erfolgreichen Filmprojekten vereinigt, agiert Dyson im Silicon Valley als geschickte Verkupplerin. Sie führt Softwareentwickler, Hardwarehersteller und Designer mit möglichen Investoren zusammen.
Zusätzlich an Einfluss gewinnen wird Dyson, wenn Ende Monat ihr Buch “Release 2.0. Die Internet-Gesellschaft” erscheint. Darin entwirft die an der Eliteuniversität Harvard ausgebildete Ökonomin in leicht verständlicher Sprache ausgeklügelte Theorien darüber, was die digitale Kommunikation und das weltumspannende Datennetz alles umkrempeln werden.
Dyson nimmt dem Internet den Mythos, schreibt über mögliche Formen der Regulierung und orakelt über die Folgen einer noch vernetzteren Welt. Ohne das Netz zu verherrlichen. “Ich könnte sehr wohl ohne Internet leben. Das habe ich fast vierzig Jahre meines Lebens getan.”
Lange bevor sie die ersten Sätze geschrieben hatte, sorgte Dysons Buchprojekt für Aufsehen. In den USA kaufte der New Yorker Verlag Broadway Books die Rechte an “Release 2.0” für über eine Million Dollar, eine Summe, die ansonsten Bestsellerautoren wie Michael Crichton oder John Grisham für Bücher ohne Manuskript einstreichen.
Darum Dysons Gedanken in Deutsch verlegen zu können, bewarben sich im vergangenen Jahr 110 Verlage. Das Rennen machte der Münchner Verlag Droemer Knaur. Über Zahlen mag der Verlag nicht sprechen. Dyson habe aber eine “sehr hohe Summe” bekommen, sagt die Pressefrau.
Das Internet sei “ein Medium der Verschwörung”, sagt Dyson, die drei vollgestopfte Jutetaschen mit ausgerissenen Zeitungsartikeln mit sich trägt. “Alles Artikel, die ich noch nicht habe lesen können.” Die Intellektuelle erinnert an eine 68er-Radikale und zugleich an eine “Bag-Lady”, eine Obdachlose, die ihre Utensilien, in Taschen verstaut, ständig mit sich führt, vermutlich aus Angst, jemand könnte sie ihr wegnehmen.
Aufs Äussere legt sie kaum Wert. In ihrem Büro, wo ein grosses Schild mit der Aufschrift “Barfuss verboten” hängt, trägt sie selten Schuhe oder Socken. Zu Hause, in der Nähe des New Yorker Washington Square, stehen kaum Möbel. Ein Telefon fehlt. Sie meidet Business-Anzüge, trägt Jeans und weite Gratis-T-Shirts, meist bedruckt mit Logos von Computerfirmen. New York sei ihr Schlaf- und Arbeitsplatz. “Ich kenne kaum jemanden in Manhattan.” Das Sozialleben finde in Europa statt, sagt die Vielreiserin, die nicht Auto fahren kann, aber häufiger zwischen Moskau und New York pendelt als mit der Subway von Down- nach Uptown fährt. Freunde trifft sie im Silicon Valley oder in Budapest. Europa liegt der Halbschweizerin. Sie spricht Russisch, Deutsch und Französisch.
Lose Zettel prägen das Erscheinungsbild ihres Büros an der Fifth Avenue unweit ihrer Wohnung. Oft finde sie unter Papierbergen verblichene Ausgaben des Magazins “Computerworld”, einen Badeanzug oder eine Socke, die sie nie benutzt habe, einen Scheck von 1987, den sie nie zur Bank brachte.
Dabei war Esther Dyson schon früh fasziniert von Geld und Reichtum. Als 12-Jährige, während eines Englandaufenthaltes, holte sie Informationen ein, welche Bank wie viel Zins zahle.
Ihre Hauptthesen drehen sich ums Geldverdienen, sind provozierend und stellen die gängigen Formen des Wirtschaftens grundsätzlich in Frage. “Heute ist die Welt geprägt von Big Business, Big Media und Big Government.” Das Internet aber dezentralisiere alles. Jeder nehme nun am Markt teil. Für Inhalte, die per Internet verteilt werden, “kann man daher nie und nimmer Geld verlangen”.
Reich werde, wer dank Internet Kosten senke oder Produkte und Dienstleistungen für das Web anbiete. Verlange jemand Geld, würden die Besucherzahlen einer Site sofort auf null sinken.
Microsoft-Besitzer Bill Gates bezeichnete sie vor zwei Jahren wegen dieser Thesen als “Sozialistin”, die Privatbesitz enteignen wolle. Heute verschenkt niemand häufiger Software als Gates.
Dyson glaubt sogar, dass man in Zukunft den Konsumenten etwas bezahlen werde, damit sie die im Übermass vorhandenen Inhalte überhaupt lesen. “Ich erhalte täglich mehrere hundert E-Mails. Bald schon werden mir kommerzielle Absender einen Dollar überweisen, damit ich ihre Nachricht auch anschaue.”
Geld verdiene nur, “wer originell ist”, sagt Dyson. Auf ihrer Web-Site publiziert sie kostenlos Auszüge des Newsletter. Dadurch wird sie bekannt, was wiederum den Verkauf des gesamten Newsletter und die Teilnehmerzahl ihres PC Forums ankurbele. “Richtig reich machen mich meine Vortragstouren oder mein Buch.”
Dyson ist süchtig nach Arbeit – und nach Bewegung. Jeden Morgen steht sie um halb fünf auf. Dann schwimmt sie drei Meilen, am Stück. In Moskau wie in New York ist sie Mitglied von Fitnessklubs mit Hanteln und einem 24 Stunden geöffneten Pool. Auf Reisen meidet sie Hotels, zu deren Ausstattung kein Schwimmbad gehört. An Öffnungszeiten hält sie sich nie. Sie scheut keinen Streit mit Hotelmanagern, die ihr das morgendliche Bad verweigern. Oft tropft ihr Haar noch, wenn sie ans Rednerpult tritt.
Leistung stand in Dysons Familie stets im Mittelpunkt. Vater Freeman Dyson war Astrophysikprofessor an der renommierten Universität Princeton. Mutter Verena Huber-Dyson doktorierte an der ETH Zürich in Mathematik. Nachtessen fanden oft im Kreis von Nobelpreisträgern statt.
Mit zwei begann Esther in ganzen Sätzen zu sprechen, mit 14 Russisch zu lernen, mit 16 Jahren wurde sie in Harvard zum Studium zugelassen. Für das Wirtschaftsmagazin “Forbes” schrieb sie bereits während ihres Studiums Artikel über das Börsengeschehen, mit 30 quittierte Dyson den Journalismus. Nun verdiente sie ihr Geld als Aktienanalytikerin und bewertete Titel von Hightech-Firmen. Keiner war besser als Dyson.
In den siebziger Jahren war sie nach einem Japanbesuch überzeugt, japanische Hardware, nicht Software, bedrohe Amerikas Computerindustrie. Von den Artikeln, die sie darüber publizierte, rührt ihr Ruf als smarte Visionärin. Japanische Computer surren heute weltweit, japanische Programme laufen keine.
Seither verarbeitet Dyson Informationen. Sie lese jeden Brief, der ihr Büro erreicht. Gehe sie Skilaufen, studiere sie auf dem Schlepplift ausgerissene Zeitungsartikel.
Berüchtigt ist sie bei Fluggesellschaften. Eine Viertelstunde länger als üblich müsse die Putzequipe jeweils ihren von Zeitungen, Magazinen und Zetteln übersäten Erstklassfauteuil reinigen.
“Gates bekämpfen”
Die Inhalte im Netz dürfen nie monopolisiert werden, sagt Esther Dyson.
Frau Dyson, Sie feiern das Internet als Medium der Vielfalt. Dabei wird es zunehmend vom Monopolisten Bill Gates kontrolliert.
Esther Dyson: Das ist falsch. Gates kontrolliert mit seinen Programmen zunehmend das Betriebssystem, nicht die Inhalte des Internets.
Die Kontrolle der Software führt doch automatisch zur Kontrolle des Mediums.
Dyson: Beginnt Gates damit, die Inhalte des Internets zu kontrollieren, werde ich ihn mit allen Mitteln bekämpfen.
Wie?
Dyson: Ich gehe zum Justizministerium und werde ihn als Monopolisten verklagen.
Bill Gates bezeichnete Sie als Sozialistin, weil sie forderten, man müsse Software gratis über das Internet abgeben.
Dyson: Er hat mich falsch verstanden. Ich sagte nur, Konsumenten werden nicht bereit sein, für Inhalte im Internet Geld zu bezahlen.
Warum nicht?
Dyson: Weil der Konkurrenzkampf zu gross ist und das Internet die Märkte dezentralisiert. Man kann von überall her jederzeit Informationen erhalten.
Dann ist es unmöglich, im Internet Geld zu machen.
Dyson: Niemand hat eine Garantie, Geld zu verdienen. Man verdient nicht im, sondern mit dem Internet. Indem man dank Internet Kosten senkt, für Produkte wirbt oder reale Produkte verkauft. Bill Gates hat das sehr genau verstanden. Und er hat von mir gelernt. Seine Programme sind jetzt gratis erhältlich.