Von Peter Hossli
Morgens um halb sieben öffnet der Platzanweiser die Pforten des grössten Kinos in Tokio. Andächtig schreiten rund fünfhundert Männer, Frauen und Kinder auf die computerisierten Kassenhäuschen zu. Den japanischen Trickfilm «Princess Mononoke» wollen sie noch vor Arbeitsbeginn oder der frühen Physiklektion sehen.
Acht Vorstellungen des über zwei Stunden dauernden Films setzen die Kinobesitzer täglich an. Die enorme Nachfrage nach der Geschichte einer rührigen Prinzessin aus dem 14. Jahrhundert, die sich mit ihrem grauen Wolf gegen den Einfall der Städter wehrt, will befriedigt, die Kasse gefüllt werden. Fast pausenlos laufen in über vierhundert Kinos des Landes die Projektoren.
«Princess Mononoke» ist der grösste Erfolg von Japans Kinoindustrie.
Innert zweier Monate sahen rund zehn Millionen Menschen den gezeichneten Film. Mitte Oktober hat er aller Voraussicht nach die 137 Millionen eingespielten Dollar von Spielbergs «E. T.» übertroffen. Dann wird «Princess Mononoke» der kassenträchtigste Film sein, der jemals in Japan zu sehen war.
In Europa gelangt die «ökologische Fabel», wie das Magazin «Time» Regisseur Hayao Miyazakis Film umschrieb, im Frühling in die Kinos – dank US-Gigant Disney. Miyazaki, der oft als japanischer Walt Disney bezeichnet wird, verkaufte die ausländischen Rechte von «Princess Mononoke» an den weltweit zweitgrössten Unterhaltungskonzern.
Mit dem Vertrag endet ein erbitterter Rechtsstreit zwischen Disney und dem japanischen Verlagshaus Tokuma Shoten, zu dem Miyazakis Produktionsfirma Ghibli gehört. Dicke Ordner, gefüllt von Tokumas Anwälten, sollten Disney des Plagiierens überführen: «The Lion King», mit einem weltweiten Umsatz von 800 Millionen Dollar erfolgreichster Disney-Trickfilm, basiere auf dem Werk des japanischen Regisseurs Osamu Tezuka.
Nun ist der Streit beigelegt. Mit Miyazaki stösst ein in Japan äusserst beliebter Mann zum Mickey-Mouse-Konzern. Der 56-jährige, als Workaholic beschriebene Miyazaki inszenierte seit 1979 neun abendfüllende Animationsfilme. In Japan ist er so bekannt wie Walt Disney im Rest der Welt. Sein Werk besticht durch einen grafisch ausgefeilten, ausgesprochen dynamischen Zeichenstil, der im harten Kontrast zum technoiden Alltag Japans steht. Nie legt er die Kategorien Gut und Böse eindeutig fest.
Kein Zufall ist Disneys jetziger Einstieg ins Geschäft mit «Japanimation». Weltweit wächst die Fangemeinde so genannter Anime, japanischer Trickfilme, die aus «Mangas», den allwöchentlich in Millionenauflage gedruckten japanischen Comics, entstehen. In Europa und den USA gehen Animes in hohen Stückzahlen über die Ladentische. Als am Badener Animationsfilmfestival im September drei Animes auf der Leinwand gezeigt wurden, reisten Fans aus der ganzen Schweiz an. Bereits sind Merchandisingprodukte zu Trickfilmen wie dem apokalyptischen Drama «Ghost in the Shell» begehrte Sammlerobjekte.
Disney verspricht sich von den japanischen Filmen die Sicherung seines Quasimonopols im Bereich Animation. Zusätzlich bringt Disney acht von Miyazakis früheren Werken in den Handel.
Trotz Vertrag äusserte sich Miyazaki kürzlich in der «New York Times» abschätzig über Disneys Trickfilme: Die Filme seien «langweilig». Warum Disney nun Miyazakis Werk weltweit vermarkten möchte, ist dem undankbaren Künstler klar: «Es geht ihnen ums Geld. Zahlt sich die japanische Animation nicht aus, wird Disney sofort wieder aussteigen.»