Von Peter Hossli
Die Türen blieben verschlossen. Breitschultrige Männer versperrten dem Publikum des Filmfestivals Locarno den Zugang zum allabendlichen Treffpunkt im «Grand Hotel». Hinter Glasscheiben feierte Freitag nachts vergangener Woche Direktor Marco Müller mit ausgesuchten Gästen Bernardo Bertolucci. Stunden zuvor wurde der italienische Regisseur («Ultimo Tango a Parigi») auf der Piazza Grande mit einem Leoparden für sein Gesamtwerk geehrt.
Bezahlt hatte das Fest die Cinecittà, das traditionsreiche Römer Filmstudio. Anwesend waren die Notablen der Kulturwelt Italiens. Auch sonst steht Italien im Mittelpunkt des diesjährigen Festivals. Bertolucci zeigt drei seiner Filme. Regisseur Marco Bellocchio amtet als Jurypräsident. Drei italienische Produktionen laufen auf der Piazza Grande, drei versuchen den Wettbewerb zu gewinnen. Bis kurz vor Festivalbeginn glaubte man zudem, Walter Veltroni, Müllers Freund, italienischer Kulturminister und neben Ministerpräsident Romano Prodi Nummer zwei Italiens, würde Locarno einen Besuch abstatten.
Zufall ist das nicht. Der Römer Müller unternimmt dieses Jahr alles, um die Aufmerksamkeit der italienischen Politik- und Kulturwelt auf sich zu ziehen. Mit einem klaren Ziel: Venedig. Auf den Posten in Locarno, den er seit 1992 besetzt, soll endlich die Direktorenstelle beim prestigeträchtigeren Festival am Lido folgen. Obwohl Müller solche Gerüchte stets dementierte, wich er nie von diesem Plan ab.
«Marco will nach Venedig, seit dem Tag, an dem er in Locarno angefangen hat», sagt die Pressechefin der grössten italienischen Verleihfirma Medusa, Margherita Pedranzini. Leute, die nahe mit Müller zusammenarbeiten, vermuten, dass er vielleicht noch diesen Herbst seinen Rücktritt gibt. So deutete der Tessiner Federico Jolli, Mitglied des Locarneser Organisationskomitees, Müllers Einladung an Kulturminister Veltroni als Versuch des Direktors, sein Interesse an Venedig anzumelden. Veltroni sagte aber kurzfristig ab. Er weilt in den Ferien.
Abhängig ist Müller von der Politik. Diesen Herbst entscheidet das italienische Parlament über eine Neuordnung der Biennale, der venezianischen Kunstausstellung, zu der auch das dortige Festival gehört. Sollte das Gesetz angenommen werden, müsste der jetzige Direktor Felice Laudadio nach nur einem Jahr wieder abtreten; er wurde noch unter den alten Regelungen und nur interimistisch für die Durchführung eines einzigen Festivals gewählt.
Als dessen Nachfolger sind drei Leute im Gespräch: Müller, die «La Repubblica»-Filmjournalistin Irene Bignardi und als Aussenseiter Alberto Barbera, der das Filmfestival in Turin erfolgreich leitet.
Chancen habe Müller, wenn das Gesetz durchkomme, sagt ein guter Kenner der italienischen Verhältnisse. Schliesslich sei Locarno unter Müller zu einem der sechs wichtigen internationalen Treffpunkte der Filmbranche geworden. Er sei jung und eigenwillig genug für den Posten in Venedig. Müllers grösster Nachteil: Es fehlt ihm das dringend nötige Beziehungsnetz. Die komplexe Parteienlandschaft Italiens ist ihm zu wenig vertraut.
Und wer folgt auf Müller, wenn er im Herbst wirklich geht? Kenner der Locarneser Verhältnisse wünschen sich Alberto Barbera, der in Turin ein kleines, aber hervorragend organisiertes Festival leitet. Er könnte im Tessin die dringend notwendige Entspannung der allgemeinen Atmosphäre herbeiführen, die Müller mit seinen oft konfusen Entscheidungen und Schaumschlägereien «vergiftet» habe, wie eine Tessinerin berichtet. Und man hofft, ein neuer Direktor gebe der von Müller praktisch entmachteten Programmkommission wieder mehr Mitsprache bei der Filmauswahl.