Kunst und Glamour

Das Filmfestival von Cannes feiert seine fünfzigste Ausgabe. Es blickt auf eine glänzende und ereignisreiche Geschichte zurück.

Von Peter Hossli

Fassungslos wischen sich die uniformierten Türsteher die Tränen aus dem Gesicht. Das Filmfestival von Cannes, die alljährliche und wichtigste Zusammenkunft der Kino-, Glitzer- und Glamourwelt, steht im Mai 1968 plötzlich still. Abbruch. Die Regisseure haben sich mit den aufmüpfigen Studenten in Paris und Frankreichs Arbeitern solidarisiert. Filme zeigen sie nicht mehr. Jurymitglieder treten ab. Verordnet haben dies die französischen Regisseure Jean-Luc Godard und François Truffaut.

Pariser Frühling an der Côte d’Azur.

Anhaben kann das Aufbegehren dem Festival wenig. Bereits im Frühling darauf stehen die einst fassungslosen Türsteher wieder am Eingang des Festivalpalais an der Croisetteund weisen in gewohnt französischer Unfreundlichkeit Journalisten, Kinobetreibern oder Regisseuren den Weg. Ohne Fliege kommt niemand rein.

Längst vergessen ist der damalige Stillstand, wenn das Filmfestival von Cannes ab nächster Woche während zwölf Tagen seine fünfzigste Ausgabe mit viel Pomp und Prominenz zelebriert.

Ein vergleichbares cineastisches Ereignis gibt es nicht.

Nirgendwo sonst treffen barbusige Strandschönheiten häufiger auf elegant gekleidete Männer und Frauen, die in schwarzen Stoffen über rote Teppiche gleiten und dann in dunklen Kinosälen verschwinden. Kein zweiter Ort beherbergt mehr Stars und Sternchen, schwer reiche Hollywoodproduzenten und mausarme europäische Jungfilmer, die hoffen, eben diesen Hollywoodproduzenten ihre europäischen Erstlinge zeigen zu können. Sylvester Stallone neben Madonna, philippinische Regisseure neben Wim Wenders.

Nirgendwo werden mehr Anekdoten über Leinwandlegenden erzählt. Robert Redford soll als 20-Jähriger am Strand geschlafen haben, um das Geschehen aus nächster Nähe verfolgen zu können. Gerard Dépardieu tat es ihm Jahre später gleich. John Wayne verschmähte angeblich das knoblauchgetränkte französische Essen. Und Jane Fonda soll sich an einer Pressekonferenz derart über die langsame und ungenaue Simultanübersetzung geärgert haben, dass sie ihre Antworten kurzerhand in Englisch und Französisch gab.

Kein Festival der Welt ist im gleichen Mass Schaufenster für höchste Kunst, Kommerz und Trash. Neben den alljährlichen Meisterwerken des Kinos, werden in Cannes heutzutage hauptsächlich billig produzierte Action-, Kung-Fu- oder Softpornofilme gezeigt. Und verkauft. Denn obwohl andere Filmmärkte, etwa in Los Angeles, Berlin oder Mailand, an Bedeutung, ergo Umsatz enorm zugelegt haben, ist Cannes noch immer das Mass aller wirtschaftlichen Dinge. Wer Geschäfte mit Filmen machen will, wickelt sie mit Vorteil in Cannes ab.

Neben Cannes hat wohl nur Hollywood mehr dazu beigetragen, dass das Kino die beliebteste Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts geworden ist.

Das älteste Filmfestival ist Cannes allerdings nicht. Bereits 1932 huldigte Venedig den bewegten Bildern, die eben erst sprechen gelernt hatten, mit einem Festival. Weil aber Mussolinis Faschisten und Hitlers Nazis den Lauf der Dinge an der Adria zunehmend bestimmten und sich 1938 weigerten, Jean Renoirs pazifistischen Film «La Grand Illusion» mit einem Preis auszuzeichnen, wandten sich die Franzosen und mit ihnen der Rest Europas von Venedig ab. Sie wollten ihren eigenen internationalen Kino-Treffpunkt schaffen.

Cannes am Mittelmeer gewann die Ausmarchung um den Veranstaltungsort gegen Biarritz am Atlantik. Im September 1939 sollte das Festival erstmals mit viel Prominenz stattfinden.

Es dauerte genau einen Tag. Obwohl Hollywood mit Stars wie Gary Cooper, Mae West oder Douglas Fairbanks Präsenz und Solidarität mit dem kriegsbedrohten Europa markierte, und der Miterfinder des Kinos Louis Lumière die Jury präsidierte, brachen die Verantwortlichen das Festival am Eröffnungstag, dem 1. September 1939, ab. Deutsche Soldaten waren gleichentags in Polen einmarschiert. Der Zweite Weltkrieg begann. An ein Filmfestival mochte niemand mehr denken.

Ein Jahr nach Kriegsende nahm Cannes einen zweiten Anlauf. 44 Filme aus 18 Ländern liefen im Wettbewerb. Viele machten die Schrecken des Krieges zum Thema. «Roma Città Aperta», Roberto Rossellinis noch vor Kriegsende gedrehtes Drama über eine Widerstandsgruppe in der besetzten Hauptstadt Italiens, gewann den Hauptpreis, der noch bis 1955 Grand Prix genannt und dann durch die Palme d’Or ersetzt wurde.

Vom Geschäft mit den auf Zelluloid gebannten Bildern sprachen in den vierziger und fünfziger Jahren in Cannes noch wenige. An die Côte d’Azur kamen die Leute, um einen Hauch von Brigitte Bardot, Sophia Loren und später Romy Schneider zu erhaschen.

Höchstens zwei Filme pro Tag sehen – und Zeit haben, darüber zu sprechen. Ein paar wenige Journalisten verfassten ihre Artikel auf mechanischen Schreibmaschinen und verschickten sie per Post. Zwei Tage dauerte es, bis die «New York Times» den Festivalbericht ihres Korrespondenten erhielt und am dritten Tag veröffentlichte.

In seinen frühen Jahren diente das Festival hauptsächlich der zeitlichen Verschiebung der «hors saison». Zahlreich wollte man die Touristen auch noch im September nach Cannes holen. Hier gab es Gregory Peck, Gina Lollobrigida, Spencer Tracy oder Leslie Caron auf einmal zu bewundern.

Nachdem der monegassische Prinz Rainier 1953 die US-Schauspielerin Grace Kelly geehelicht hatte und das britische Starlet Simone Sylva ein Jahr später vor knipsenden Fotografen an einer Pressekonferenz barbusig neben den Filmbösewicht Robert Mitchum getreten war, fand Cannes endlich sein Erfolg versprechendes Image: Glamour, gepaart mit diskretem Sex.

Eine neue Generation internationaler Filmemacher machte von sich reden: Ingmar Bergman, Fellini, Antonioni. Und Filme aus Mexiko, Japan, England und natürlich aus Amerika wurden gezeigt.

Manchmal schwappt in Cannes auch eine gänzlich neue Kinowelle über. 1959 zeigte der vormalige Filmkritiker Jean-Luc Godard «A bout de souffle» mit dem jungen Belmondo und der umwerfenden Jean Seberg in den Hauptrollen. Der Film durchbrach fast sämtliche Regeln des Kinos. Godard schnitt, wo man nicht schneiden darf, unterbrach seine Handlung, wo man weitererzählen sollte. Vom Publikum wurde der Regisseur in Cannes gleichermassen beschimpft und gefeiert. Heute gelten er und sein Film als Auslöser der französischen Nouvelle Vague.

Neben der Kunst bestimmte in den fünfziger und sechziger Jahren zunehmend die Politik das Festival. Jahrelang prägte der Kalte Krieg die warme Frühlingsluft an der Côte d’Azur. Die sechste Flotte der US-Marine legte regelmässig im Hafen von Cannes an. Amerika wollte Stärke zeigen. Sowjetische Regisseure, begleitet von sowjetischen Funktionären, nutzten die Anwesenheit der Weltpresse, um den Kommunismus zu preisen. Ihren grössten Erfolg feierten sie 1958. Die Theaterverfilmung «Wenn die Kraniche ziehen» von Michail Kalatosow gewann die Goldene Palme. Die Sowjets feierten den Preis wie eine olympische Goldmedaille.

In den sechziger und siebziger Jahren aber begann die Wirtschaft die Politik zu verdrängen. Zwar entdeckte man auch damals noch immer Neues – auf die Nouvelle Vague aus Frankreich folgten Novo Cinema aus Brasilien oder das neue tschechische Kino aus Prag -, zunehmend drängte sich aber das Business in den Vordergrund, dominiert von den Amerikanern. Sie entdeckten, dass sie ihre Filme nicht unbedingt in den Hauptsektionen des Festivals zeigen mussten, um von der Presse wahrgenommen zu werden. Da die Jury das ungeliebte Hollywood im Wettbewerb meist nicht auszeichnete, mieteten die US-Verleiher Kinos hinter der Croisette. Dort zeigten sie ihre Filme. Zusätzlich veranstalteten sie Pressegespräche mit werbewirksamen Stars.

Das Festival neben dem Festival ist nun genauso wichtig wie das Festival.

Weil ständig mehr hauptberufliche Kinoliebhaber nach Cannes kommen, hat es inzwischen keinen Platz mehr fürs Publikum. Filme können nur noch Akkreditierte sehen – Journalisten, Verleiher, Produzenten. Cannes ist jetzt primär eine Industriemesse, die Handelsware Kunst aus Licht und Schatten. Vornehmlich Rohstoff fürs Abendprogramm der Fernsehanstalten.

Das Publikum kann nur noch hinter hohen Abschrankungen hoffen, wenigstens Lichtblicke der in die Ferne gerückten Breitleinwandwelt aufzuschnappen.

Die totale Amerikanisierung brachten die achtziger und neunziger Jahre. Steven Spielbergs Sciencefiction-Film «E.T.» erlebte eine 10-Minuten-Ovation. Hollywood lässt sich Plakatsäulen, rauschende Feste und sogar herbeigeschaffte Originalrequisiten inzwischen mehrere Millionen Dollar kosten. Wird für einen aufwendigen Film aus der Traumfabrik geworben, spricht man in Cannes von einer amerikanischen Invasion.

Trotzdem ist das Verhältnis zwischen Franzosen und Amerikanern harmonisch geblieben. Schliesslich trägt die US-Präsenz wesentlich zum Florieren des Festivals bei. Es stört auch niemanden, dass amerikanische Filme nun häufiger als die anderen Preise gewinnen. So genannte US-Independents prägen jetzt das Festival. Steven Soderbergs «Sex, Lies, and Videotape», David Lynchs «Wild at Heart» und Joel Coens «Barton Fink» holten zwischen 1989 und 1991 jeweils die Palme d’Or.

Drei Jahre später veränderte erneut ein Amerikaner das Festival von Cannes grundlegend. Quentin Tarantinos brillant verschachtelte Gangsterkomödie «Pulp Fiction» wurde als bester Film ausgezeichnet und spielte in der Folge weltweit über 200 Millionen Dollar ein. Seither hofft tout Cannes und damit die gesamte Filmindustrie jedes Jahr auf den neuen Tarantino.