Der Radiomann, die Lehrerin und der Bärtige

Der Schweizer Regisseur Christian Frei zeigt in seinem bewegenden Film «Miriam, Ricardo y Fidel» eine Trennung im schwierigen Alltag Kubas.

Von Peter Hossli

Christian Frei schiebt die Kassette in den japanischen Videorecorder, sagt ein paar Worte und hofft, der Strom falle nicht aus. In einer Privatwohnung im Zentrum Havannas zeigt Frei, 38, seinen Dokumentarfilm «Miriam, Ricardo y Fidel». Ein Schriftsteller, zwei Künstler und eine Cutterin verharren 90 Minuten gebannt vor dem Fernseher. Ihre Kommentare während der Vorführung bleiben verhalten. Erst nach Filmende diskutieren sie angeregt.

Dass ein Schweizer gleichzeitig kritisch und verständlich mit der kubanischen Revolution von damals und der kubanischen Realität von heute umspringen kann, hatten sie nicht erwartet. Vor der Wohnungstür aber warten weitere Gruppen, die den Film sehen möchten.

Die Privatvorführungen fanden im vergangenen Dezember in Kubas Hauptstadt statt. Weil die Verantwortlichen des Festivals von Havanna den Film ablehnten, organisierte der Regisseur zum selben Zeitpunkt private Vorstellungen. Nächste Woche nun gelangt «Miriam, Ricardo y Fidel» am Dokumentarfilmfestival in Nyon zu seiner richtigen Uraufführung. Der Film läuft dort im Wettbewerb. Am 23. Mai kommt er in die Kinos.

Christian Frei erzählt von einer Trennung. Miriam Martínez will mit ihrer Familie Kuba verlassen. Miami heisst das Ziel ihrer Träume. Die Lehrerin erträgt sowohl die politische Repression wie die wirtschaftliche Depression nicht mehr.

Ihr Vater Ricardo aber bleibt zurück. Er war Revolutionär und kämpfte vor vierzig Jahren an der Seite von Fidel Castro für ein freies Kuba. Noch immer glaubt er an den Sozialismus. Der baldige Abgang seiner Tochter ändert daran wenig.

Ohne falsche Romantik schildert Frei den Alltag in Havanna Mitte der neunziger Jahre. Seine Hauptfiguren sind nicht die Ikonen der Revolution – Fidel oder Che -, sondern Menschen, die täglich mit den Absurditäten Kubas zu leben haben. Statt einer verklärenden Che-Romantik, wie sie vor drei Jahren der Schweizer Dokumentarist Richard Dindo in seinem Film «Ernesto Che Guevara: Das bolivianische Tagebuch» ablieferte, schuf Frei eine sensible wie präzise Auseinandersetzung mit dem prekären wie komplexen Ist-Zustand der Karibikinsel.

Gelungen ist ihm dies mit einem dramaturgischen Kniff. Um die persönliche Vater-Tochter-Geschichte spannt Frei eine politische Mediengeschichte. Er stellt dem kubanischen Propagandasender Radio Rebelde den US-Propagandasender Radio Martí gegenüber, den Exilkubaner in Miami betreiben. Zusätzlich zeigt er den Líder Máximo Fidel Castro in ungewohnter wie entlarvender Pose: In einem CNN-Interview, das das kubanische Volk nie gesehen hat, antwortet er auf die Frage, was mit Kuba nach ihm passiere: «Das kümmert mich nicht. Ich bin dann ja tot.»

1958 zieht Ricardo Martínez, Radiojournalist und Vater der dreijährigen Miriam, in die Sierra Maestra, die östliche Bergkette Kubas. Dort bereiten Rebellen unter der Leitung des charismatischen Juristen Fidel Castro Ruz den Sturz des Diktators Fulgencio Batista vor. Ohne effiziente Propaganda, sind die Anführer überzeugt, geht das nicht. Ernesto «Che» Guevara betraut den Radiomann Ricardo mit dem Aufbau eines Senders. Unter seiner Leitung mobilisiert Radio Rebelde bald Tausende Kubanerinnen und Kubaner im Kampf gegen Batista, der das Land zum Spielkasino und Hurenhaus der USA werden liess. Nach dem Einzug Castros in Havanna am 8. Januar 1959 wird Radio Rebelde zum staatlichen Propagandasender. Ricardo bekommt einen Funktionärsposten und wird Chefredaktor des offiziellen Organs des Innenministeriums.

Heute informiert sich seine Tochter bei Radio Martí. Hier, glaubt Miriam, erhalte sie akkuratere Informationen über Kuba und den Rest der Welt. Seit Beginn der achtziger Jahre fühlt sie sich zunehmend unwohl. Nach der Besetzung der peruanischen Botschaft 1980 durch Systemkritiker verstärkt Fidel Castro die Repression in seinem Land. An jeder Ecke lauern nun Spitzel. Miriam verliert ihren Job. Es wird bekannt, dass sie weg will.

Später, nach dem Berliner Mauerfall, setzt die ökonomische Krise ein. Die Sowjetunion und die anderen Ostblockstaaten stoppen ihre Unterstützung. Die US-Blockade bleibt bestehen. Und Nordkorea, der letzte Verbündete Kubas, hat selber nichts. Es mangelt nun an allem. Wenn Ricardo dienstags Miriam besucht, spielt Familiensinn zwar mit. Vornehmlich kommt er wegen des elektrischen Stroms. Dienstags wird in Ricardos Wohnquartier jeweils das Licht abgeschaltet. Miriam aber hat noch Strom. Hier kann Ricardo selbst nach Sonnenuntergang Bücher lesen.

Rund fünf Jahre hat Christian Frei an «Miriam, Ricardo y Fidel» gearbeitet. Mit seiner damaligen Partnerin reiste er 1991 ans Filmfestival in Havanna. Von Kuba wusste er wenig. Ein Cutter des kubanischen Fernsehens erzählte ihm von seiner Schwester, die das Land verlassen möchte und deren Vater viele Jahre bei Radio Rebelde gearbeit hatte. Frei, der bis dahin vornehmlich Auftragsfilme realisiert hatte, war sich sicher, eine Story für seinen ersten Langfilm gefunden zu haben.

Um in Kuba etwas zu erreichen, müsse man klandestin vorgehen, sagt der Filmer. Lange Zeit recherchiert er im Dunkeln. Nicht einmal die Schweizer Botschaft wusste von seinen Plänen.

Bei mehreren Reisen besucht er Miriams und Ricardos Familien. Während sie ihre Emigration vorbereitet und über das Projekt genau informiert ist, sagt Frei ihrem Vater bloss, er drehe einen Film über Radio Rebelde. «Ich musste mit Ricardo sehr vorsichtig sein», meint er. Im Laufe der Zeit wird der Regisseur zu einer Art Sohn des vormaligen Radiomachers.

Während der Recherchen lernt Frei in der Schweiz die Fotografin Damaris Betancourt kennen. Sie wird seine Frau und verschafft ihm Einblick in den kubanischen Alltag. Die Kubanerin hilft ihm, die nötigen Kontakte zu knüpfen.

Gänzlich unbehelligt können Frei und seine Frau nicht agieren. Sie recherchieren monatelang in Havanna. Dauernd begleitet sie eine Aufnahmeleiterin des staatlichen Kinoverbandes ICAIC. Deren Vater, erfährt der Regisseur später, ist Geheimpolizist. Jeder Schritt wird registriert. Drehen dürfen sie trotzdem. Vermutlich, weil Fidel Castro einwilligt. Frei lernt den Leiter des historischen Archivs des kubanischen Staatsrates kennen, der das private Videostudio von Castro verwaltet und als graue Eminenz gilt. Er hat Fidel wahrscheinlich vom Schweizer Dokumentarfilm überzeugt, glaubt Frei.

Die Dreharbeiten beginnen im März 1995. Dieses Jahr wird Miriam das Land verlassen dürfen. Staatliche Behinderungen widerfahren dem Filmteam nun keine mehr. Und Ricardo, für Frei lange Zeit ein Unsicherheitsfaktor, spielt ebenfalls mit. An jeden Dreh kommt er hervorragend vorbereitet. Seine Erklärungen zur kubanischen Revolution beginnen aber oft bei José Martí, dem Dichter und kubanischen Nationalhelden aus dem 19. Jahrhundert. Sie dauern Stunden und sind kaum ergiebig.

Über seine abreisewillige Tochter, Hoffnungen in die Revolution und seine spätere Enttäuschung spricht Ricardo ungern. Christian Frei reist mit dem Radiomann in die Sierra Maestra. Packesel tragen die Kameras und einen Generator fürs Licht. In den Bergen besuchen sie die Holzhütte, von wo aus die ersten Stimmen des Rebellensenders in den Äther gingen. Hier erst beginnt sich Ricardo zu öffnen.

Zum Höhepunkt des Films wird die Abschiedsszene. Vor laufender Kamera umarmen sich Miriam und Ricardo ein letztes Mal. Auf dem Motorrad braust die Tochter davon. Dieser melodramatische Schluss war Ricardos Idee, erzählt Frei. «Eine Abschiedsszene auf dem Flughafen erschien ihm zu banal.»

In den USA wird Miriam von Familienmitgliedern und Bekannten empfangen, die schon lange in Miami leben. Das Paradies ist Florida aber nicht. Miriams Kinder, die oftmals bis frühmorgens in den sicheren Strassen Havannas unterwegs waren, trauen sich abends nicht mehr fort. Während Monaten verbarrikadiert sich die Familie im Haus, das an einer der vielen Strassen liegt, die keine Namen, sondern Nummern haben. Miriam vermisst die Besuche ihres Vaters.

Nur der Supermarkt lindert vorübergehend den Schmerz des Heimwehs. Binnen dreier Monate hat Miriam dreissig Kilogramm zugelegt.

Der Wellenkrieg

Seit Jahren wehrt sich Fidel Castro gegen amerikanische Medien.

TV Martí vergifte die Kinder Kubas, sagte Fidel Castro 1990 zum Start des Fernsehsenders, den Exilkubaner von Miami aus betreiben. «Sie wollen sie dem Schmutz der Pornografie aussetzen.» George Bush, der den Sender als damaliger US-Präsident einweihte, holte zum Gegenschlag aus: «Castro wird TV Martí nicht überleben.»

Die USA und Kuba führen einen Krieg der Wellen. Nach der Kuba-Krise von 1961 verhängte die USA eine Wirtschaftsblockade gegen den Karibikstaat. Kuba wiederum zensiert seither ausländische und vor allem amerikanische Medien. Um das kubanische Volk mit Informationen zu beliefern, gründete 1985 ein ehemaliger Radiomann aus Havanna in Florida mit US-amerikanischer Unterstützung den Sender Radio Martí. Mit grossem Erfolg. Angeblich hat der Sender in Kuba eine Einschaltquote von achtzig Prozent. Castro wiederum versucht mit Störsendern den Empfang von Radio Martí zu unterbinden.

Seit Beginn der neunziger Jahre berieselt ein zeppelinartiger Fesselballon, der vor den Florida Keys 3000 Meter in den Himmel steigt, Kuba mit Fernsehsignalen. Empfangen werden können die Sendungen nur selten. Fidel Castro hat Hunderte von Störsendern in der Region von Havanna aufgestellt.

Frischer Wind
1995 übernahmen der Radiojournalist Jean Perret als neuer Direktor und Gabriella Bussmann das traditionsreiche, aber etwas verstaubte Dokumentarfilmfestival von Nyon. In dreijähriger Arbeit ist es ihnen gelungen, ein vielfältiges und attraktives Publikumsfestival aufzubauen. «Visions du Réel», wie sich der Dokumentarfilm-Anlass nun nennt, findet vom 21. bis 27. April in Nyon statt. Gezeigt werden gegen 100 Dokumentarfilme aus 19 Ländern. Im Zentrum steht der internationale Wettbewerb. Daneben stellt der deutschfranzösische Kultursender Arte eine Auswahl seiner Dokumentarfilme vor. Dem kanadischen Regisseur Mike Hoolboom ist eine Werkschau gewidmet. Eine spezielle Schweizer Plattform entfällt; es gab zu wenig Anmeldungen.