Von Peter Hossli
Auf dem Hund kommt keiner. Es bleibt beim Zungenkuss und bei der Streicheleinheit. Zur Kopulation tritt nur ein Menschenpaar an. Dennoch: Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl streift in seinem Dokumentarfilm «Tierische Liebe», der nun in Schweizer Kinos gelangt, Tabuzonen.
Seine fast zwei Stunden dauernde, umstrittene Wohnzimmerstudie handelt vom innigen Verhältnis zwischen Mensch und Tier – Hunden, Frettchen, Ratten und Hasen. Von der Suche nach Liebe. Zwei einsame Rentner retten eine Promenadenmischung vor dem ewigen Leben im Tierheim; ein nach Liebe dürstendes Callgirl schmust mit ihrem Husky im frisch gemachten Bett; ein 20-jähriger Obdachloser, der im Alter von drei Monaten in der Mülltonne gefunden wurde, onaniert im Beisein des Hundes; in Unterhose gekleidet, hört ein Arbeitsloser einer Telefonsex-Stimme zu – sein vierbeiniger Freund wälzt sich auf derselben Couch.
Den Herrchen und Frauchen in Seidls Film dienen die Tiere der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse: Zuneigung, Freude, Liebe. Mit einer Dogge anstelle des eigenen Kindes rauft sich ein Ehepaar auf dem Ehebett. Dem Hund erzählt eine allein gelassene Frau schluchzend vom Reissaus des «bösen, bösen Herrli».
Um Sodomie geht es im Dokumentarfilm von Ulrich Seidl, 45, allerdings nie. Seine mit enormer Tiefenschärfe aufgenommenen und brillant montierten Bilder ergeben eine präzise und höchst traurige österreichische Sozialstudie.
Seine Klientel fand Seidl auf den Strassen Wiens. Während Monaten sprach er Leute an, die mit ihren Tieren Gassi gingen, am Bahnhof rumstanden oder im Park ihre Hunde an der Leine führten. Zusätzlich suchte der Filmer in Zeitungsinseraten und mit Flugblättern Tierhalter, die gerne in einem Film mitmachen würden.
Bereit zum Seelenstriptease erklärten sich fast ausschliesslich Menschen aus der sozialen Unterschicht: Arbeitslose, Penner, eine Prostituierte, Pensionierte, Einsame. «Leute der so genannten Unterschicht sind eher bereit, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind», sagt Seidl.
Während Wochen traf sich der Regisseur mit seinen Darstellern, ass mit ihnen, besuchte ihre Wohnungen und beobachtete sie beim Umgang mit den Haustieren. Die Kamera surrte erst Monate später. Nun konnte Seidl wie ein Spielfilmregisseur walten. Er gab den Laiendarstellern konkrete Anweisungen, die alle befolgten. «Wenn ich einem sagte, er soll onanieren, war das für ihn die normalste Sache der Welt.»
Seit der Fertigstellung von «Tierischer Liebe» Ende 1995 zensieren Zensoren den Film. Der österreichische öffentlich-rechtliche Fernsehsender ORF weigert sich noch immer, Seidls «Machwerk» auszustrahlen. «Solange ich hier arbeite», beschied der ORF-Kulturchef dem Regisseur bei der Sichtung des Rohschnitts des vom ORF mitfinanzierten Films, «wird diese Sauerei nicht gezeigt.» Mit dem Vorwurf der Sodomie begründete die Wiener Trailerfirma Gewista die Verbannung des Vorfilms aus österreichischen Kinos. Die Zürcher Staatsanwaltschaft beschlagnahmte letzte Woche das Werbematerial, der Film wurde bislang nicht zensiert.
Seidl nimmt solche Anwürfe gelassen. Sie kamen bereits bei seinen früheren Filmen über Kleinwüchsige, über österreichische Männer, die Filipinas heirateten, oder über Zeitungsverkäufer. Der «Sozialpornograf» geschimpfte Filmer erkennt in seinen Kritikern Leute, die das von ihm gezeigte Milieu nicht kennen oder aber selbst dazu gehören. «Viele glauben, sie seien anders und besser als die Menschen, die ich zeige.»
Der deutsche Regisseur Werner Herzog protegierte Seidl, als ihn ganz Österreich verschmähte. Von ihm stammt der treffende Werbespruch zum Tierfilm: «Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.» Die Hölle ist die Einsamkeit der Menschen, die alle nach ein wenig Wärme Ausschau halten.