«Das Filmgeschäft ist ein simples Business»

Der mächtigste Mann der Unterhaltungsindustrie, spricht über Oscar-Filme, Zensur, Marketing, Globalisierung und über das europäische Kino

Von Peter Hossli

Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy ermordet. Jack Valenti, heute 76, war in der präsidialen Wagenkolonne mitgefahren. Wenige Stunden nach Kennedys Tod flog er mit dem Präsidentenflugzeug Air Force One nach Washington und wurde von Lyndon B. Johnson zu dessen persönlichem Berater ernannt. Als Regisseur Oliver Stone 1991 den Anschlag auf Kennedy verfilmte, warf im Valenti Ungenauigkeit vor: «Ich war dort, Stone nicht», sagte er.

Valenti ist eine illustre Persönlichkeit. Im Zweiten Weltkrieg flog er schwere Kampfbomber über Europa. Nach Kriegsende gründete er die Werbeagentur Weekly & Valenti 1955 traf er Lyndon B. Johnson, damals Mehrheitsführer des US-Senats. Johnson engagierte die Agentur von Valenti, um seine politische Karriere in Schwung zu bringen. 1960 trug Valenti Wesentliches zum Wahlerfolg der demokratischen Partei bei.

1966 verliess er seinen Posten im Weissen Haus. Seither präsidiert er die Motion Pictures Association of America (MPAA). Gegründet 1922, repräsentiert die MPAA die sieben grossen Hollywood-Studios und somit die wichtigsten Produzenten von Kinofilmen, Fernsehsendungen und Videos.

Während der Stummfilmzeit verteidigte die MPAA die Studios gegen Anwürfe, das Kino verrohe die Sitten. Heute legt die MPAA die Alterskategorien fest. Vorab bemüht sich Valenti um den weltweiten, zensurfreien Vertrieb von US-Filmen.

Mister Valenti, Sie sind Präsident der Motion Pictures Association of America (MPAA) und gelten als einflussreichste Person der Unterhaltungsindustrie. Was ist Ihre Aufgabe?
Jack Valenti: Die MPAA setzt sich aus den sieben grossen Hollywood-Studios zusammen, den grössten Produzenten von Kinofilmen und Fernsehprogrammen. Als deren Präsident sorge ich dafür, dass US-Produkte weltweit unzensiert und ohne Behinderung gezeigt werden können.

Sie sind die Zensurbehörde Hollywoods und behindern die Freiheit von US-Filmen. Jüngstes Beispiel war das Verbot des “Larry Flynt”-Plakats.
Valenti: Von Zensur kann keine Rede sein. Ein Produzent muss sich der freiwilligen Alterseinstufung seines Filmes nicht unterwerfen. Will er aber eingestuft werden, stimmt er auch der Begutachtung des gesamten Werbematerials zu. Das ist freiwillig und wird nicht von der Regierung diktiert. Zensur gibt es in den Vereinigten Staatern keine.

Wer sich nicht beteiligt, bekommt kein Rating. Ohne Rating läuft das Geschäft nicht. Nach dem Plakat-Verbot folgte ein geschäftsschädigender Skandal.
Valenti: Geschäftsschädigend? Niemand geht wegen eines Werbeplakats ins Kino. Das ist das absurd. Lächerlich. Ein kleines Poster, drei mal zwei Fuss gross, entscheidet nicht über Erfolg oder Misserfolg.

Die grossen Studios sind bei den Nominationen für die Oscars dieses Jahres schlecht weggekommen. Nur gerade eine Hollywood-Produktion wurde in der Kategorie “bester Film” nominiert.
Valenti: Das stimmt nicht. Alle Firmen, deren Filme nominiert wurden, gehören so genannten Majors, den grossen Hollywood-Studios. Miramax gehört zu Disney, Searchlight gehört zu Fox.

Dann gibt es das unabhängige US-Kinos gar nicht?
Valenti: Unabhängiges Kino bedeutet Filme mit einem geringen Budget, sagen wir weniger als zehn Millionen Dollar.

Das Branchenmagazin “Variety” warf der Filmindustrie aber vor, sie sei nur noch aufs Geldmachen aus und kümmere sich nicht um die Kunst.
Valenti: Sie reden von Kunst. Was soll denn Kunst sein? Was ist gute Kunst, was ist schlechte Kunst? Das entscheiden nur die Augen des Publikums.

Probleme gibt es keine?
Valenti: Viele junge US-Filmer verachten das Publikum. In ihren Augen sind die Zuschauer – ob Deutsche, Schweizer oder Amerikaner – eine Gruppe unkultivierter Doofköpfe. Wenn ein Film Erfolg hat, sagen sie: “Das ist schlechte Kunst.” Denen antworte ich: Das ist elitär und skandalös. Ich respektiere das Publikum und achte Leute, die ins Kino gehen, lesen oder Musik hören.

Entscheiden nicht die Kritiker darüber, was gute Kunst ist?
Valenti: Bestimmt nicht. Es sind Leute, die Präsidenten oder Minister wählen oder dafür sorgen, dass die Wirtschaft wächst.

Was ist denn ein guter Film?
Valenti: Was das Publikum für einen guten Film hält. Wer ist schon gescheit genug, um zu behaupten: “Ich kann beurteilen, was Kunst ist”? Wissen Sie, wie ich grossartige Kunst beschreibe?

Nein.
Valenti: Grossartige Kunst ist jene Kunst, die während der längsten Zeitdauer als grossartig eingestuft wird. Warum lebt Shakespeares Werk noch immer?

Weil es grossartige Kunst ist.
Valenti: Nein. Das Publikum liebt Shakespeare. Und das Publikum kann von ihm nicht genug bekommen. Das heisst: Wenn man gute Kunst definieren möchte, muss man zwei Dinge einbeziehen. Shakespeare wird seit 450 Jahren als Kunst betrachtet. Und er hat seit 450 Jahren ein begeistertes Publikum.

Shakespeare war ein Europäer. Das europäische Kino sucht verzweifelt nach einem Publikum. Sind europäische Filme demnach schlecht?
Valenti: Ich stehe nicht auf den Champs-Élysées und dränge die Leute in US-Filme. Das ist die Entscheidung der Franzosen. Dieselben Franzosen, die den Präsidenten wählen, wählen die Filme, die sie sehen wollen.

Die Franzosen sagen aber, die Amerikaner zerstörten mit ihren Marketingbudgets das europäische Kino.
Valenti: Wissen Sie, was Marketing bewirkt? Es bringt die Zuschauer am ersten Wochenende ins Kino. Nachher ist es nur noch Mundpropaganda. Marketing allein führte noch nie zum Grosserfolg. Ist der Film schlecht, kann man eine Milliarde ins Marketing stecken – es geht niemand hin.

In einem Interview sagte der finnische Hollywood-Regisseur Renny Harlin, es könne kein grosser Film ohne Product-Placement von McDonald’s oder Coca-Cola verkauft werden.
Valenti: Mister Harlin hat unrecht. Nehmen wir “Jerry Maguire”. Darin hat es kein Product-Placement. Der Film ist sehr erfolgreich. Als “E.T.” in die Kinos kam, gab es kein “E.T.”-Merchandising. Film und Merchandising sind etwas anderes. Funktioniert der Film nicht, verkauft sich auch das Merchandising nicht.

Dennoch: Ohne Werbegeld bleibt Erfolg aus.
Valenti: Falsch. Es gibt viele Legenden zur Unterhaltungsbranche. Dabei ist das Showbusiness ein simples Geschäft: Wenn man Filme dreht, die viele Leute sehen wollen, hat man Erfolg. Wenn man Filme dreht, die niemand sehen will, hat man Probleme. Einfach, nicht?

Jeder kann Erfolg haben?
Valenti: Wenn er das Talent dazu hat. Ich geben Ihnen ein Beispiel: Vor drei Jahren schrieb ich einen Roman. Er hiess “Protect and Defend”. Das Buch verkauft sich schlecht. Warum? Bestimmt nicht, weil der Verlag ein schlechtes Marketingkonzept hatte. Es verkaufte sich nicht gut, weil, ehrlich gesagt, mein Roman nicht so gut war.
Filmer sind Geschichtenerzähler. Wer eine gute Geschichte in einer aufregenden Art erzählen kann, hat Erfolg. Wer langweilt, scheitert. Ist das ein Mysterium? Nein.

Das Filmgeschäft funktioniert heute global. Da ist es doch nötig, dass mehr und globaler geworben wird.
Valenti: Wenn Sie nach Kuala Lumpur oder nach Santiago de Chile gehen, werden Sie niemanden finden, der sich für die Globalisierung der Filmbranche interessiert. Dort leben Leute, die sich fragen: “Welchen guten Film können wir uns heute Abend anschauen?” Sie werden nicht sagen: “Schauen wir uns einen Film einer global agierenden Firma an.” Sie werden nicht sagen: “Gehen wir in einen spanischen, in einen deutschen oder einen amerikanischen Film.” Sie wollen einen guten Film sehen, basta. Wer denkt an Globalisierung? Nur Branchenleute. Das ist ein elitärer Ausdruck. Kinozuschauern bedeutet er nichts.

US-Firmen bedrängen das andere Kino mit hohen Budgets.
Valenti: Das Budget hat nichts mit der Qualität eines Films zu tun. Der grösste Teil des Budgets sind die Gagen der Stars. Auf der Leinwand sieht man davon nichts. Ein Film ist gut, wenn er gut ist.

Welche Zutaten machen denn einen guten Film aus?
Valenti: Story. Story. Story.

Die Unterhaltung ist der beliebteste Exportartikel Amerikas. Werden Sie von der US-Regierung dafür belohnt?
Valenti: Ich unternehme alles, um die Regierung aus dem Unterhaltungsgeschäft herauszuhalten. Clinton und der Kongress sollen sich um ihre Aufgaben kümmern, wir erledigen unsere.

Sagen Sie das dem Präsidenten, wenn Sie mit ihm Golf spielen?
Valenti: Spricht man mit Clinton während des Golfspiels übers Geschäft, wird er sauer. Aber der Präsident weiss, dass US-Filme beliebt sind. Und er weiss, dass wir seine Hilfe nicht brauchen.

Der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang wirft Ihnen vor, das europäische Kino zu zerstören.
Valenti: Ich ass gestern mit ihm. Jack Lang versteht, dass französische Filme, die von einem französischen Publikum gemocht werden, auch gesehen werden.

Als Lang noch Minister war, warf er Ihnen Kulturimperialismus vor.
Valenti: Wenn ich Lang gewesen wäre, hätte ich genau dasselbe getan. Als Kulturminister musste er die Interessen seines Landes verteidigen. Hätte er das nicht getan, mein Respekt für ihn wäre gesunken.

Die Statistik zeigt: US-Filme drängen europäische Filme weiter zurück.
Valenti: Nehmen wir Deutschland. Was hier passiert, ist sehr lehrreich. Deutsche Filme und deutsche Fernsehprogramme finden ein immer grösseres Publikum. Das deutsche Fernsehen ist das populärste Fernsehen in Deutschland. Im Kino passiert etwas Ähnliches: Heute haben deutsche Filme wieder einen Marktanteil von 16 Prozent.

Warum? Es werden Filme gedreht, die die Deutschen sehen wollen.
Es sind banale Komödien.
Valenti: Das ist elitär. An der Spitze der aktuellen deutschen Kino-Hitparade stehen drei deutsche Filme.

Verliehen werden die Filme von amerikanischen Firmen. Einer der drei Filme wurde sogar mit Geld einer amerikanischen Firma produziert.
Valenti: Wer hat ihn gedreht? Wer hat das Drehbuch geschrieben? Wer agiert in den Hauptrollen? Es sind alles Deutsche. Es ist doch gut, wenn amerikanische Firmen europäische Filme finanzieren.

Das nationale Kino stirbt.
Valenti: Gegenfrage – aus welchem Land stammt dieser Film: Drehbuchautor und Regisseur sind aus England, der Hauptdarsteller ist ein Ägypter, er basiert auf einem russischen Roman, produziert von einem Italiener, vertrieben von einer amerikanischen Firma? Es ist “Doktor Schiwago”, kaum einem nationalen Kino zuzuordnen. Ein toller Film ist es trotzdem geworden.

US-Firmen haben angefangen, europäische Filme in Europa zu verleihen. Werden Sie jetzt auch das Verleihgeschäft übernehmen?
Valenti: Gegenfrage: Warum gibt es keine paneuropäische Verleihfirma? Es wäre eine der Lösungen für die Probleme des europäischen Films. Heute muss sich ein Filmemacher mit einem deutschen, einem britischen, einem französischen Verleiher herumschlagen. Übernimmt eine amerikanische Firma den Verleih, bleibt alles bei derselben Firma.

Sie verderben das Geschäft.
Valenti: Sie verurteilen uns für etwas, das wir nicht kontrollieren können. Ich sage den Europäern schon lange: Statt um den amerikanischen Markt müsst ihr euch um Europa kümmern. Die Franzosen haben nur etwa sieben Prozent Marktanteil in Europa. Man muss das Potenzial nur nutzen.

Letztes Jahr handelten Sie einen Vertrag mit China aus. Jährlich dürfen jetzt zehn US-Filme ins Reich der Mitte verkauft werden. Wie weit wollen Sie expandieren?
Valenti: Wir wollen amerikanische Filme zeigen, wo immer es Menschen gibt, die sie sehen wollen.

Wie schwierig ist es in China?
Valenti: Die Zensurbehörde entscheidet darüber, welche Filme gezeigt werden. Da die Chinesen unsere Filme lieben, werden wir künftig mehr exportieren. Wir streben auch Partnerschaften an, um Filme zu produzieren, Kinos oder Studios zu bauen. In zehn Jahren wird China zu einem wunderbaren Markt für uns.

Ein Markt mit 1,2 Milliarden Menschen.
Valenti: Na gut, nicht alle werden ins Kino gehen. Aber in den 13 grössten Städten hat es etwa 600 Millionen Leute. Und das ist ein Riesengeschäft.

Was unternehmen Sie gegen die Piraterie von Filmen in China?
Valenti: Wir bekämpfen sie.

Sie drohten mit Boykott.
Valenti: Jetzt nicht mehr. Soeben haben wir einen Zusammenarbeitsvertrag mit China geschlossen. Wir sind zufrieden.

Welche anderen Märkte haben Sie ins Auge gefasst?
Valenti: Vietnam. Sobald ein griffiges Copyright-Gesetz vorliegt, werden wir dorthin expandieren. Vietnam ist das einzige grössere Land, mit dem wir noch keine Geschäfte machen. Und Kuba.

Wegen des US-Embargos.
Valenti: Das Embargo ist falsch. Die Kubaner lieben das Kino, und sie wollen US-Filme sehen. Das Embargo muss weg. Leider hat mich noch nie jemand dazu befragt.

Die Unterhaltungsbranche ist im Umbruch. Was bringen neue Medien?
Valenti: Digitale Medien, Kabelfernsehen, Satelliten oder das Internet sind reine Transportsysteme, sie kreieren nichts. Wichtig ist, was die Transportsysteme tragen. Wenn ein Lastwagen Müll transportiert, ist das nichts, transportiert aber ein kleines Auto Gold, ist das sehr wertvoll.

Bringen neue Medien nichts?
Valenti: Sie erhöhen die Auswahl. Digitale Fernsehapparate werden bessere Bilder und Töne hervorbringen. Was bleibt, ist die Geschichte. Stimmt sie nicht, nützt auch der beste digitale Ton nichts.�