Von Peter Hossli
Jerry Lundegaard ist ein Verlierer, ein Autoverkäufer im Mittleren Westen Amerikas. Geld hat er keines mehr, dafür aber Schulden und grosse Pläne. Und er hat Chuzpe. Zwei angeheuerte Kidnapper sollen seine Frau entführen und vom steinreichen Schwiegervater 80 000 Dollar freipressen. Das perfekte Verbrechen, angeblich 1987 tatsächlich passiert, scheitert. Die dilettantischen Entführer begehen Fehler um Fehler, Jerry, der Autoverkäufer, verliert zuerst die Nerven, dann den Verstand und schliesslich den Glauben an den amerikanischen Traum.
Angesiedelt ist das Schelmenstück des gescheiterten Kleinbürgers Lundegaard im Städtchen Fargo, North Dakota, im bitterkalten, schneebedeckten Winter. Erzählt haben es Joel und Ethan Coen in ihrem neusten Film «Fargo», der nächste Woche in die Schweizer Kinos kommt.
Die Fabel vom kleinen Mann, der sich am Traum vom Aufstieg festklammert und dann, weil er ein wenig geschummelt hat, daran zugrunde geht, fasst zusammen, was das Bruderpaar Coen in ihren fünf Filmen seit 1984 als innovative Kraft des US-Kinos auszeichnet: Knochentrockener Humor, ein präziser Blick auf die amerikanische Gesellschaft anhand kleiner Leute, ein ausgesprochen eigenständiger Stil, grossartige Schauspieler und grossartige, witzig und dann wieder todernst formulierte Dialoge.
Mit «Fargo», dem besten Film dieses Jahres, besinnt sich das Bruderpaar aus Minnesota, einem Hinterwäldlerstaat in Amerikas Einöde zwischen den Ozeanen, auf ihre Wurzeln. Wie in ihrem Erstling «Blood Simple» erzählen sie eine Räubergeschichte, die weniger von Verbrechen als vielmehr von den verschrobenen Charakteren der Täter und der Opfer lebt. Ihren Film siedeln sie im Mittleren Westen an, ihrer alten Heimat. Dort sind sie gross geworden, dort entstand ihr eigensinniger, schwarzer Humor, von dort zogen sie aus, sich des US-Kinos wie eines Gemischtwarenladens zu bedienen und gleichzeitig Impulse zu geben.
Drehen die Gebrüder Coen Filme, jonglieren sie stets mit den klassischen Genres des Kinos, erweisen Krimi, Komödie, Film noir oder Road movie zuweilen absurde Hommagen, zerpflücken aber gleichermassen die gängigen Paradigmen der Populärkultur. Schamlos greifen sie auf Ikonen der bildenden Kunst oder der Literatur zurück. Ihre Bilder sind inspiriert von Andy Warhol oder Edward Hopper, ihr Witz ähnelt jenem von W. C. Fields oder Mark Twain. Aus einzelnen Filmen aber kupfern die beiden selten ab – im Gegensatz etwa zum Recycling-Papst Quentin Tarantino. Ihr Kino ist eigenständig, unverbraucht und kaum zu definieren. Joel und Ethan wehren sich denn auch konsequent gegen eine persönliche Deutung ihres Werks. Sie wollen es nicht interpretieren und sie wollen es nicht interpretiert haben.
Die Drehbücher der Coens sind knapp und dicht gehalten, ihre im Duett entwickelten Wortwechsel karg. Dennoch wirken ihre Figuren komplex und in sich stimmig. Männer wie der scheiternde Drehbuchautor in «Barton Fink», der sich sozialisierende Sträfling in «Raising Arizona» oder Autohändler Jerry Lundegaard in «Fargo» ermöglichen tiefste Einblicke in die Abgründe menschlichen Daseins.
Joel und Ethan Coen selbst könnten unterschiedlicher nicht sein. Joel, 41, ist gross und trägt sein dunkles Haar zu einem altmodischen Rossschwanz gebunden. Er redet dauernd. Ethan, 38, wirkt eher schmal, ist Bartträger und hat helles krauses Haar. Er spricht selten. Der ältere Bruder liess sich an der Filmschule der New York University zum Regisseur ausbilden, der jüngere studierte in Princeton Philosophie. Joel lebt mit seiner Familie in der Upper West Side, einem noblen Stadtteil in Manhattan, Ethan in Kips Bay, einem Nest ausserhalb der grossen Stadt – eine ideale Kombination, um die Widersprüche Amerikas, den tiefen Fall grosser und den schnellen Aufstieg kleiner Leute im Kino genüsslich zu persiflieren und dauernd zu hinterfragen.
Trotz der Unterschiede harmonieren die beiden. Sie treten an Filmfestivals oder in den Medien immer als Paar auf. Sätze, die der eine beginnt, führt der andere zu Ende. Ihre Drehbücher entstehen im gemeinsamen Büro am Riverside Drive in Manhattan. Offiziell führt Joel Regie, angeblich, weil er zuerst zur Welt kam. Ethan produziert. Auf dem Set aber führen beide die Schauspieler und bestimmen die Einstellungsgrössen. Ohne sich zu widersprechen. «Ich habe sie nie streiten sehen», sagt Schauspieler William H. Macy, der in «Fargo» den Autoverkäufer Lundegaard mimt. «Sie teilen die Autorität untereinander auf», ergänzt Jennifer Jason Leigh, die in der Aufsteigerpersiflage «The Hudsucker Proxy» (1994) als spitz schreibende und schnell sprechende Starjournalistin agiert. «Dies fällt ihnen deshalb so leicht, weil sie einander nahe sind, genau wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen.»
Sie kommen aus St. Louis Park, einem Vorort der Industriestadt Minneapolis. Vater wie Mutter unterrichteten an der Universität Literatur. Im Sommer, während den langen Ferien, drehten die Buben mit ihren Freunden Super-8-Filme. Joel und Ethan lieferten die Ideen und führten meistens Regie. Vor die Kamera stellten sie ihre Kumpels, als Darsteller der schon damals abstrusen Charaktere. Seither, geht eine Legende in der Filmwelt Amerikas, die selbst von französischen Kinozeitschriften kolportiert wird, denken, handeln und fühlen die beiden Brüder simultan.
Was die in dieser Symbiose gedrehten Filme zu Meisterwerken macht, sind die Ausschmückungen, die Nebenfiguren oder die Randgeschichten, die noch schnell im Vorbeigehen berichtet werden.
So verdrehen die Brüder, beide verheiratet und Familienväter, in «Fargo» die traditionellen Geschlechterrollen gekonnt. Gejagt werden die Kidnapper von der im siebten Monat schwangeren Polizistin Marge Gunderson, die von Joels Frau Frances McDormand mit Akribie und skandinavischem Akzent verkörpert und zu einer der spannendsten Frauenfiguren der jüngeren Kinogeschichte entwickelt wird. Der Mann der Polizistin ist Gebrauchskünstler; er entwirft bunte Briefmarken. Im Ehebett spricht sie über Übelkeit und Einschusslöcher, er palavert von ausgeklügelten Farbmischungen.
«Fargo», schrieb ein amerikanischer Kritiker, sei die Reifeprüfung der Coens. Zuvor schlugen sie fast alle Richtungen des Kinos ein. Am Filmfestival von New York feierte 1984 «Blood Simple» Premiere. In dieser spartanisch inszenierten Fabel um Ehebruch und Männerrivalität paarten sie Film noir mit B-Movie.
Ihr zweiter Film kam 1986. Er hiess «Raising Arizona», und er war lustig. Die Coens bedienten sich des Road-movie-Genres, verwendeten Elemente der Screwball-Komödie und aus den apokalyptischen «Mad Max»-Filmen. Die damals noch unbekannten, inzwischen zu Oscar-Gewinnern avancierten Nicolas Cage und Holly Hunter geben ein ungleiches Paar: Sie ist Ex-Cop, er Ex-Zuchthäusler. Bei der Einvernahme auf der Polizeistation lernen sie sich kennen und lieben. Gemindert wird das Glück nur durch Fruchtlosigkeit. Kurzerhand stiehlt das kinderlose Duo ein Baby von einem Mittelklassepaar, das dank Hormonspritzen Eltern von Fünflingen geworden ist.
Ins Genre des Gangsterfilms der späten zwanziger Jahre wechselten sie 1990 mit «Miller’s Crossing», in dem John Turturro einen kleinen Gangster gibt, der von den Grossen wie eine Fliege zerquetscht wird. Derselbe Turturro zerdrückt in «Barton Fink» (1991) in seinem schäbigen Hotelzimmer eine richtige Fliege, die ihm den Schlaf raubt. Als Drehbuchautor scheitert er in Hollywood während des Zweiten Weltkriegs. Der Film gewann am Festival von Cannes die Goldene Palme sowie den Preis für Regie und die beste schauspielerische Leistung.
Kontinuität erkennt «Fargo»-Darsteller Macy im Werk der Brüder Coen keine. Jeder Film sei eine «komplett neue Sicht auf die Dinge».
Eine gewichtige Gemeinsamkeit aber hat das Werk von Joel und Ethan Coen: Entscheide werden stets an mächtigen Schreibtischen getroffen. Hinter überdimensionierten Pulten sitzen in fastjedem Coen-Film überdimensionierte Männer, die schmalbrüstige Männchen das Fürchten lehren. In «Barton Fink» bringt der talentierte Drehbuchautor keine gescheite Zeile mehr aufs Papier, nachdem er in Hollywood hinter dem schwergewichtigen Sekretär sitzend von einem schwergewichtigen Studioboss Anweisungen entgegengenommen hat. Vom längsten Eibenholztisch der Kinogeschichte aus wird in «The Hudsucker Proxy» die Welt dirigiert. Festgelegt wird am Tisch, wer aufsteigen darf und wer fallen muss.
Aus Eibenholz, aber nicht minder imposant, ist das Pult in «Miller’s Crossing», von dem aus Albert Finney alias Leo Befehle erteilt. In «Fargo» muss Jerry Lundegaard, den Telefonhörer stets in der Hand, von seinem Pult aus zusehen, wie ihm das perfekte Verbrechen misslingt und die Kontrolle entgleitet. Was Joel und Ethan Coen fasziniert, sind nicht die mächtigen Männer, sondern die Nichtsnutze, die es am Schluss eben nicht schaffen.
Kommerzielle Erfolge feiern sie damit selten. Ausser «Raising Arizona», der bei einem Budget von rund drei Millionen über 22 Millionen Dollar einspielte, und «Fargo», der in den USA sehr erfolgreich lief, waren bis anhin alle Filme der Coens Misserfolge. «The Hudsucker Proxy», mit einem für Coen-Verhältnisse überdimensionierten Budget von 30 Millionen und eingespielten drei Millionen Dollar, war gar ein Reinfall, der den beiden beinahe das Genick gebrochen hätte.
Kritiker der Coens werfen ein, das Kino des Bruderpaars sei zu intellektuell, ihre abgehobenen filmischen Fingerübungen würden den Geschmack des Publikums verfehlen. Die Filme von Joel und Ethan Coen hätten bloss in Manhattan, in West Los Angeles und im urbanen Europa eine Fangemeinde, wenn auch eine ergebene. Im Rest der USA aber bleiben die Kinosessel leer, wenn ein Coen-Film läuft.