Der Software-Pirat aus Schwamendingen

In Zürich betrieben Hacker ein illegales Software-Verteilzentrum. Jetzt hat die Polizei mit Hilfe von Computerspezialisten zugeschlagen.

Von Peter Hossli

Eine Wagenkolonne, bestehend aus vier zivilen Polizei-Volvo und einem roten Mazda, hält vor einem Mehrfamilienhaus in Zürich-Schwamendingen, Winterthurerstrasse. Eines der grauen Betonquartiere vor der richtigen Stadt. Es ist sieben Uhr, morgens, und es ist kalt. Die unauffällig gekleideten Polizisten steigen aus, dringen ins Haus ein und öffnen eine der zehn Wohnungen.

Sie finden, was sie vermutet haben: In einem der Zimmer surren diverse miteinander verbundene Computer und eine moderne CD-Pressanlage, ebenfalls ans ausgeklügelte Netzwerk angeschlossen. Zahlreiche Modems verbinden die Geräte mit dem Rest der Welt. Neben den Maschinen steht, verschüchtert, ein junger Mann. Er ist 27. Zur Arbeit wird er heute nicht gehen, nach knapp einstündiger Spurensicherung führt ihn die Polizei ab.

Die Zürcher Polizeiaktion vom vorletzten Dienstag war eine Schweizer Premiere, ein grosser Coup. Erstmals knackten die Behörden ein illegales, direkt ans weltweite Datennetz Internet angeschlossenes Bulletin Board System (BBS), eine Art digitales Anschlagbrett, das Raubkopien von teuren Computerprogrammen feilbietet. Unter der Firmenbezeichnung MoonLight verkaufte «The Pirate», so die Tarnung des Zürcher BBS-Betreibers, bis vor kurzem noch wertvolle Netzwerkprogramme der US-Firma Novell, nach Microsoft der weltweit zweitgrösste Software-Hersteller. Für rund 80 Franken waren beim Schwamendinger Piraten hochwertige Programme im Wert von gegen 60 000 Dollar zu haben.

Säuberlich verpackt verschickte «The Pirate» in seiner engen Behausung hergestellte Software-CDs an Kunden, die sich weltweit per Modem oder via Internet bei MoonLight einloggten. Wer eines der angebotenen Programmpakete haben wollte, bestellte es per Mausklick und schickte Bargeld per Post. Bankkontonummern zwischen Anbieter und Kunden wurden nie ausgetauscht. Das Geschäft beruhte ausschliesslich auf Vertrauen, verräterische Spuren sollte es keine hinterlassen.

Vorbereitet wurde die Zürcher Aktion von langer Hand. Vor drei Monaten kontaktierten Dirk W. Schmidt, ein Novell-Anwalt, und «Johnny», ein Novell-Computerspezialist, die Zürcher Polizei und die Bezirksanwaltschaft. Dreimal kamen sie nach Zürich und klärten die Beamten über das Wesen von Bulletin Board Systems auf. Martin Frey, ein Zürcher Anwalt der weltweit operierenden Anwaltskanzlei Baker & McKenzie, stellte sicher, dass das Vorgehen schweizerischem Recht entspricht. Erst dann schlugen sie zu, mit der Polizei.

Am 14. Oktober um 6 Uhr treffen sich Novell-Anwalt Schmidt und Computerspezialist Johnny in einem Zürcher Flughafenhotel mit Anwalt Frey. Ein Journalist ist auch geladen, schliesslich will man, dass der Fall publik wird. Andere BBS-Betreiber sollen eingeschüchtert werden. «Fängt man einen grossen Fisch», sagt Schmidt, «bekommen hundert kleine Fische Angst und schliessen ihr Board.»

Im Mazda fahren sie nach Oerlikon. Eine Stunde später beginnt die Razzia in Schwamendingen. Zu Handgreiflichkeiten kommt es nicht. Die Polizei ist zahlenmässig überlegen, der Pirat zu sehr überrascht, um Widerstand zu leisten. Keiner der Nachbarn bemerkt etwas. Johnny leistet bei der Aktion technischen Beistand. Der Engländer heisst nicht Johnny. «Johnny» ist ein Pseudonym, der Mann dahinter ein Phantom, das mittels Computer und Modem durch die Netzwerke gleitet und Kriminellen nachspürt. Sein Gesicht und sein Name will er nicht in der Zeitung sehen.

Während die Polizisten in das Haus an der Winterthurerstrasse eindringen, startet Johnny seinen tragbaren Computer, der auf dem Parkplatz neben dem roten Mazda steht. Er verbindet den Laptop mit seinem Handy und ruft eine der MoonLight-Nummern an. Binnen weniger Minuten ist er eingeloggt – für die Polizei unmittelbares Beweismittel, dass das Bulletin Board bei der Überführung des Piraten noch aktiv war.

Auf solchen Boards wird vieles feilgeboten, das illegal ist. Neben raubkopierten Programmen können BBS-Besucher harte Pornografie, Bastelanleitungen für Bomben, gestohlene Kreditkartennummern und anarchistische Schriften auf ihre Festplatte laden. Zuweilen werden sie benutzt, um bevorstehende Übergabeorte von Drogen zu publizieren.

Gefunden wurde das Zürcher BBS auf verschlungenen Wegen. Das im Sommer 1995 in Belgien geknackte Bulletin Board «Genesis» enthielt Hinweise auf illegales Tun in Zürich. Auf dem Internet fanden die Novell-Leute Anzeigen des «Pirate» und, erstmalig in ihrer Fandungsarbeit, direkte Zweigstellen für MoonLight.

Novell-Fahnder Johnny wählte den entdeckten Zürcher Modemanschluss an und registrierte sich bei MoonLight als Kunde mit Kaufabsichten. Was er sah, überraschte ihn. Ein digitaler Katalog führte neben unbedeutenden Programmen auch neuste Netzwerk-Produkte von Novell, die im Laden zwischen 50 000 und 200 000 US-Dollar kosten. Novell entschloss sich zum Angriff und erstattete Strafanzeige gegen den Mann von der Winterthurerstrasse.

Der Software-Gigant ist im Kampf gegen internationale Hacker führend. 20 Personen, vornehmlich Anwälte und Computerspezialisten, bilden eine weltweit operierende Spezialeinheit, die Software-Dieben nachstellt. «Mehrere Millionen Dollar» koste das Novell-Anti-Piraterie-Team – eine kleine Summe, wenn man den immensen Schaden bedenke, der den Computerfirmen aus Software-Piraterie jährlich widerfahre. 15 Milliarden Dollar verlieren die Programmhersteller pro Jahr. Das entspräche 97 000 Arbeitsplätzen, fügt Novell-Anwalt Schmidt an.

Einfach ist die Jagd auf die Hacker nicht. Als noch schwieriger erweist sich die Überführung und die Verurteilung der vermehrt organisiert agierenden Software-Piraten. Die Gesetze hinken den Machenschaften der Hacker und den technischen Entwicklungen meist um Jahre hinterher. Weit schwerer noch wiegt das Wegfallen nationaler Grenzen.

Es spielt keine Rolle mehr, wo ein Bulletin Board System steht. Einloggen kann, wer ein Telefon, einen Computer und ein Modem besitzt – von überall in der Welt. Und überall in der Welt gelten andere Gesetze. Ohne Zusammenarbeit mit lokalen Anwälten sei die Jagd auf die Hacker kaum möglich, sagt Schmidt.

Komplexer noch werde es, wenn die Software-Piraten ihr Handelsgut nur über das Internet verschieben. Es ist kaum möglich, den physischen Standort eines am Internet angeschlossenen Computers zu lokalisieren. Sind die bis anhin noch wenig leistungsfähigen Leitungen einmal zu Handelsstrassen digitaler Produkte ausgebaut, sagt Johnny, werden die Hacker «wohl richtig reich werden».

Noch geht es den meisten Hackern nicht ums Geld. Es sei mehrheitlich ein auf hohem Niveau ausgetragenes Spiel zwischen «mir und den anderen», sagt Johnny. «Der bessere gewinnt immer.»

Bis heute hat er noch nie verloren.