Von Peter Hossli
Plötzlich galten sie als Schinkenfresser. Als Gotteslästerer auch. Für jüdische Hochzeiten engagieren wollte die Epstein Brothers, bis vor kurzem noch die beliebtesten Klezmermusiker New Yorks, keiner mehr. Besonders die Satmar-Juden aus Brooklyn nicht.
Für diese grösste und einflussreichste chassidische Gruppe Amerikas gelten Juden, die nicht streng nach den religiösen Gesetzen leben, als Verräter. Und als religiöse Verräter wurden nun, zu Beginn der siebziger Jahre, die Gebrüder Epstein verschrien.
Die vier Musiker, deren Religiosität lange Zeit niemand kümmerte, verletzten die Regeln grob: Im «Lowes 46th Street Theater», einem ehemaligen Kino in Brooklyn, liessen sie Freitagabends israelische Frauen auftreten. Zusätzliches Geld, hofften die begnadeten Musiker, liesse sich mit den Sängerinnen aus dem heiligen Land leicht verdienen.
Weit gefehlt. In den Augen der Satmar waren die singenden Frauen und der entweihte Freitagabend nicht nur eine schwere Provokation. Es war ein grober Verstoss gegen Talmud und Thora, die Gesetzesbücher der Juden. Ein Mann, der eine Frau singen hört, so das Ansinnen der Satmar, werde von seiner Ehefrau weggelockt. Davor sei die jüdische Welt zu bewahren.
Aufträge erhielten die Epsteins keine mehr, jüdische Hochzeiten fanden nun ohne sie statt. In New York waren sie kaum mehr zu sehen oder zu hören. Max, Chi, Willie und Julie zogen nach Florida, nicht nur des warmen Wetters wegen.
In Florida, dem Altersheim Amerikas, beginnt auch «A Tickle in the Heart», ein stimmiger Musikfilm, der nächste Woche in die Kinos kommt. Der Schweizer Regisseur Stefan Schwietert besucht darin die Epstein-Brüder in der Altersresidenz in Sun City, wo sie noch immer Konzerte geben, begleitet sie nach New York und Berlin. Und er reist mit ihnen ins polnische Pinsk, von wo aus die Eltern der Epsteins um die Jahrhundertwende mit Hunderttausenden jüdischer Emigranten in die USA auswanderten.
Entstanden ist ein feinfühliges, in wunderbarem Schwarzweiss gehaltenes filmisches Porträt einer verschrobenen und genialen jüdischen Musikerfamilie sowie ein Dokument einer musikalischen Tradition, die mit dem Tod der betagten Männer zwischen 70 und 85 zu Ende gehen wird.
Im Mittelpunkt von «A Tickle in the Heart» steht Max, der älteste und gewichtigste Epstein. Noch immer gilt er als bester lebender Klarinettenspieler des Genres und Übervater der heute aktiven Klezmermusiker. Wenn er die Luft durch seine falschen Zähne in das langgezogene Instrument blase, spüre man «Feuer, aber auch Herz», sagt Peter Sokolow, seit 1969 Klavierspieler bei den Epsteins.
Sokolow sitzt auf einer Bank in der südwestlichen Ecke des New Yorker Central Parks. Er schwärmt von den Epstein-Brüdern, von Willie, 79, Julie, 70, vor allem aber vom alten Max, 85.
Der Patriarch der Familie habe ihn vom mittelmässigen Pianisten zu einem vollwertigen Musiker geformt. «Max veränderte meine Musik mit einem einzigen Satz», erzählt Sokolow: ««Musikalische Ausschmückungen verbessern die Melodie, nicht umgekehrt.» Das war genug.»
Vater wie Grossvater von Max Epstein kamen auf der «anderen Seite» zur Welt. Gemeint ist Europa. Ihren jüdischen Wurzeln blieben sie in der Neuen Welt aber treu. Sie sprachen jiddisch und hörten alte, im südöstlichen Europa wurzelnde Musik. Vereinfachend bezeichneten amerikanische Plattenfirmen die verschiedenen jüdischen Musikstile als «Klezmer» oder schlicht «Jewish music».
Mit sechs bekam Max eine Geige und einen Lehrer. Mit zwölf trat er erstmals auf. Bald war «The Kid», wie die begeisterten Zuschauer ihn nach seinem Debüt nannten, ein gefragter Violinist. Noch vor zwanzig gründete er seine erste Band, spielte auch Saxophon und Klarinette.
Seinen Brüdern teilte der älteste Epstein die Instrumente zu. Chi, zwei Jahre nach Max geboren, bekam ein Saxophon, Willie eine Trompete und Julie, der jüngste, ein Schlagzeug.
Max lernte von den Alten und gab sein Wissen an die Jungen weiter. Den Brüdern brachte er die richtigen Töne bei, seinen weniger talentierten musikalischen Partnern verhalf er mit Ratschlägen zum Ausbruch aus dem musikalischen Mittelmass. Stets wiederholte Maxele seine einzige Weisheit über Musik: «Die Ausschmückungen verbessern die Melodie, nicht umgekehrt.» Mehr sagte er selten. Lieber spielte er, zuerst an Hochzeiten, später für Plattenfirmen, jedoch kaum während Gottesdiensten.
Sonderlich religiös waren die Epsteins nämlich nie. Sie besuchten die Synagoge, mehr nicht. Der Grossteil der etwa drei Millionen Juden Amerikas, die mit der ersten Einwanderungswelle von Europa in die USA kamen, waren wie die Epsteins nicht orthodox. Es waren Menschen, die das alte Europa hinter sich liessen und in der Neuen Welt ihre Chance suchten. «Die Religion», sagt Sokolow, «war dabei eher ein Hindernis.» Wer samstags nicht arbeiten konnte, behielt seinen Job im rauhen Arbeitsklima Amerikas nicht lange.
Die streng gläubigen Juden aber blieben in Europa. Ihre Rabbiner warnten, Amerika würde einem die Seele stehlen. Hitler war noch weit.
Zapfenlocken und lange Bärte sah man in New York bis zu den vierziger Jahren kaum. Es entstand eine moderne jüdische Gemeinde, die sich den amerikanischen Gepflogenheiten anpasste.
Die Musik aber blieb jüdisch. Unter der Leitung von Max bildeten die vier Epsteins eine Formation mit vielfältigem Repertoire. Für Juden aus Polen spielten sie Polkas, für Ukrainer Kolomeykes. Sie begleiteten jüdische Stummfilme und traten während den zwanziger und dreissiger Jahren im florierenden jüdischen Radio auf. Es ging ihnen gut, die Klezmermusik erlebte bis Ende der dreissiger Jahre einen regelrechten Boom.
Mit dem Krieg schwanden die Aufträge, mit der Amerikanisierung vieler Juden das Interesse an Klezmer. Wer konnte, spielte Jazz, wem das Talent fehlte, stieg aus dem Musikgeschäft aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das jüdische New York.
Und das Leben der Epsteins.
Innert fünf Jahren entstand in Brooklyn, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil, eine orthodoxe Gemeinschaft, gegründet und aufgebaut von chassidischen Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa.
Das Stammland der orthodoxen Juden lag in Trümmern, die jüdische Kultur war vernichtet, die Synagogen verbrannt. Deutsche hatten die meisten polnischen und russischen Juden umgebracht.
Wer überlebte, wollte weg, nach Amerika. Dort, hofften die Chassidim nun, garantiere die Verfassung Religionsfreiheit, schütze sie das Gesetz vor Verfolgung. Dort, glaubten sie, würden sie den tiefen psychologischen Narben, die der Holocaust hinterlassen hatte, und dem noch immer schwelenden Antisemitismus in Europa entfliehen können.
Etwa 50 000 Satmar zogen aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet nach Williamsburg, einem «Schtetl» inmitten von Brooklyn mit kleinen Backsteinhäuschen und engen Treppen, koscheren Kräuterläden und Talmud-Schulen. Hüte, Zapfenlocken und Bärte sah man nun überall. Bald eröffneten viele Geschäfte mit Schwangerschaftsmoden.
Die chassidische Gemeinschaft wuchs rasant. Alle sieben Jahre verdoppelte sich ihre Bevölkerung. Im Durchschnitt hatte jede Familie sieben Kinder. «Es gab Paare», sagt Sokolow, «die 13 oder 17 Kinder zeugten.» Von den Frauen sprachen die Männer oft wie von Zuchttieren.
Täglich, ausser freitags, samstags und sonntags, wurden in Williamsburg Hunderte Hochzeiten gefeiert, Rabbis beschnitten an Bar-Mizwas, den Beschneidungsritualen, an betriebsamen Freitagen bis zu 14 neu geborene Knaben.
Hochzeiten und Beschneidungszeremonien ohne chassidische Musik gab es nicht. Die Familien und ihre Gäste tanzten an den mit Ess- und Trinkgebaren übervollen Festen durch die Nacht.
Mit der Bevölkerung von Williamsburg stieg die Nachfrage nach Musikern, die chassidische Rhythmen beherrschten. «Es wurde ein Riesengeschäft», sagt Sokolow. Die Chassidim hatten viele Kinder und viele Hochzeiten. Und sie hatten genug Geld, um Musiker zu bezahlen.
Joe King, ein in den USA geborener Jude, erkannte die finanziellen Möglichkeiten zuerst. Er spielte in Klezmer-Formationen Klavier, «allerdings sehr schlecht», wie Sokolow sagt, und schuf die ersten Kontakte zu den auch in New York in einer völlig verschlossenen Welt lebenden Chassidim. Sie gaben ihm den Auftrag, Musiker für ihre Feiern zu suchen. Vorerst verspürten nur wenige Lust, für die Satmar zu musizieren.
Denn die chassidischen Satmar galten als «low class», als minderwertig und zurückgeblieben, wie Sokolow sagt. Moderne Juden wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Sie fühlten sich als Amerikaner. Jiddisch sprachen nur noch wenige.
Kaum Berührungsängste hatten die Epsteins. Ihr Sinn fürs Geschäft sei «sehr ausgeprägt gewesen», sagt Sokolow. Zuerst erkannte Chi, dass die chassidischen Feste lukrative Aufträge während der Woche bedeuteten. Zuvor spielten die vier Brüder nämlich nur an den Wochenenden. Die Chassidim aber heirateten am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und am Donnerstag. Und am Freitag standen noch Beschneidungszeremonien an.
Nun konnte man an sieben Tagen der Woche auftreten. «Und an sieben Tagen konnte man Gage einstreichen.» Fast hämisch mokiert sich der jüdische Musiker Sokolow über jüdische Klischees.
Chi Epstein, einem geselligen und fülligen Menschen, gelang die Kontaktnahme mit der chassidischen Gemeinschaft zu Beginn der sechziger Jahre. Er traf sich mit den obersten Rabbis, redete, ass und trank mit ihnen, oft tagelang.
Und er lernte schnell. Binnen weniger Wochen beherrschte er die chassidischen Töne auf seiner Klarinette. Er wurde zum bevorzugten Klarinettisten der Satmar. Willie und Julie folgten. Max war der letzte, der ins Geschäft mit den Chassidim einstieg. Ihm war die Musik lange Zeit zuzu wenig melodiös gewesen. Doch auch Max erlag den Dollars, schliesslich träumte er vom Alterssitz im sonnigen Florida.
Der eigentliche Durchbruch gelang den Epsteins Mitte der sechziger Jahre. Sie waren zum wichtigsten Fest der Satmar-Juden geladen worden: Alljährlich feiert die orthodoxe Gemeinde von Williamsburg die Befreiung des inzwischen verstorbenen Rebbe Joel Teitelbaum, der aus dem KZ Bergen-Belsen freigekauft wurde. Gegen 7000 Juden versammeln sich in einem alten Brooklyner Zeughaus zu einer grossen Gedenkfeier. Im Innern des burgähnlichen Gebäudes dominiert Schwarz. Aus dem Meer von dunklen Hüten, Anzügen, Bärten und Zapfenlocken leuchten nur die 7000 Augenpaare als helle Flecken.
1965 berief Rebbe Teitelbaum die vier Epstein-Brothers als Hauptkapelle seines Festes. Die gesamte chassidische Elite tanzte zu Max’ und Chis Klarinetten, Julies Schlagzeug und Willies Trompete.
Rebbe Teitelbaum sprach, auf jiddisch, fünf Worte, die das Leben der Epsteins verändern sollten: «Die Musik klingt asoi schejn.» Die Musik klingt so schön.
Seit dieser Absolution waren Max und seine Brüder im Geschäft. Das gesamte jüdische New York erfuhr am nächsten Morgen von den lobenden Worten des Rabbis. Die Gelobten druckten Visitenkarten in hebräischer und jiddischer Sprache, eröffneten ein Büro und übergaben Julie die Organisation.
Schon bald kannte er die Menstruationszyklen der meisten heiratsfähigen Jüdinnen Brooklyns. Fiel die Periode der Braut nämlich auf den vereinbarten Termin, wurde die Hochzeit vertagt. Julie richtete den Einsatzplan der Musiker nach den Zyklen der Frauen.
Genaue Planung war auch sonst dringend nötig. Nach den Worten von Rebbe Teitelbaum wollten alle die Epsteins hören. Um den Ansturm zu bewältigen, war man selbst um Kunstgriffe nicht verlegen. Notfalls schickte Julie, der gewiefte Schlagzeuger, jeden einzelnen Epstein mit angeheuerten Gastmusikern an eine andere Vermählungsfeier.
Jeden Abend konnten so vier Epstein-Formationen gleichzeitig auftreten. Manager Julie verbuchte viermal pro Abend ein Honorar, meist um die 250 Dollar.
«Jene Zeit war «go, go, go»», sagt Peter Sokolow, der ab 1969 fest als Pianist engagiert wurde. Sein Vorgänger, ein Alkoholiker, fiel während einem «Liedl» von der Bühne. Max feuerte ihn sofort.
Zusammen mit Sokolow traten die Epsteins nun an den besten Adressen der Pitkin Avenue auf, der Hauptstrasse in Williamsburg. Der Russian Palace und der Grand Paradise Ballroom in Brooklyn, während Jahren die beiden bevorzugten Räume für Hochzeitsfeiern, waren zwischen 1965 und 1971 den Epsteins vorbehalten. New York kannte sie und New York liebte sie; bis 1971 ihre Popularität ein jähes Ende nahm.
Chi, der nach wie vor die engsten Bindungen zu den Chassidim unterhielt, erlitt eine Herzattacke. Wegen Übergewicht und Diabetes. Er verliess New York und kaufte sich ein Haus in Florida.
Nachhaltiger noch wirkten sich Julies Theaterträume aus. Der jüngste Bruder mietete ein altes Vaudeville-Theater in Brooklyn, das später in ein Kino umfunktioniert wurde. Auf der noch vorhandenen Bühne sollten die verbliebenen drei Brüder Konzerte geben.
Das baufällige Theater mussten sie jedoch zuerst renovieren. Geld hatten weder der Hauseigentümer noch die Epsteins, die ihre im Hochzeitsbusiness verdienten Dollars in Häuser im Sonnenstaat Florida anlegten. Um das Kino in Stand zu stellen, geht eine in New York mit Schadenfreude erzählte Legende, hätten Max, Julie und Willie im schwarzen Frack und in weissen Hemden Toiletten gereinigt und Tapeten von den Wänden gerissen.
Dann engagierten sie noch Frauen. Sängerinnen und Tänzerinnen aus Israel traten im Theater der Epsteins auf, zuweilen auch an Freitagabenden. Frauen, die singen und tanzen, sind bei orthodoxen Juden aber ein absolutes Tabu, und die Nacht vor dem Sabbat bleibt der Religion, nicht dem Vergnügen vorbehalten.
Rebbe Teitelbaum, wenige Jahre zuvor noch Schirmherr der Epsteins, erfuhr von den Eskapaden der Brüder. Ein junger Musiker, der auf Aufträge der Satmar hoffte, verbreitete die Verfehlungen in Brooklyn. Er erzählte den Rabbis, die Epsteins würden nicht immer koscher essen und ihre Religiosität sei über alle Zweifel nicht erhaben. Was alle immer gewusst, wegen dem unerreichten musikalischen Können der vier Brüder aber verschwiegen hatten, war plötzlich wichtig.
Teitelbaum liess sie fallen. Die Epsteins mussten gehen. Seither musizieren sie in Florida. Nicht minder grandios.
Jüdische Musik
Die Wiederentdeckung der traditionellen Klezmer-Klänge
Jüdische Musik ist ein weites Feld. Der Oberbegriff «Klezmer» ist irreführend und wird oft falsch verwendet. Er kommt von den zwei hebräischen Wörtern «kley» und «zemer» und bedeutet «Instrument des Liedes». Ein Begriff also, der ursprünglich auf das Instrument und erst später auf die Musiker hinweist, die die Instrumente spielen.
Bei den Juden in Osteuropa galt «Klezmer» als Schimpfwort. Gemeint waren Leute, die keinen richtigen Beruf ausüben, nur musizierend herumziehen. Sie traten an jüdischen Festen und auf Märkten auf. Ihre in verschiedenen Ländern beheimatete Musik erinnert an rumänische Zigeunermusik, enthält Elemente polnischer und ukrainischer Volksmusik. Sie ist gleichzeitig fröhliche Tanz- und traurige Gebetsmusik. Obwohl die Musik ursprünglich sekulär war, flossen Klezmerlieder in die jüdische Gebetstradition ein.
Um die Jahrhundertwende wanderten drei Millionen Juden von Europa in die USA. Ihre Musik brachten sie mit. Klezmergrössen wie Dave Tarras und Naftule Brandwein, geboren noch in der Alten Welt, fanden in Amerika ein neues Publikum. Plattenfirmen erkannten, dass sich die von ihnen als «Klezmermusik» zusammengefasste jüdische Musik vermarkten lässt. Zwischen 1910 und 1940 boomte die Musik der Juden. Dann dominierte die orthodoxe jüdische Musik. Ab 1975 begannen junge jüdische Musiker, die alten Klezmerlieder wieder zu spielen. Seither wird von einem ungebrochenen Klezmer-Revival gesprochen.