«Viele Filmer hassen mich»

Todd McCarthy ist der einflussreichste Filmkritiker der Welt, die Zeitschrift «Variety» die Bibel der Filmbranche.

Interview: Peter Hossli

Mister McCarthy, Sie sind ein gefürchteter Mann – wie viele Feinde haben Sie?
Todd McCarthy: Wie kommen Sie darauf, dass ich Feinde habe?

Sie sind der einflussreichste Filmkritiker der Welt.
McCarthy: Eine solche Aussage ehrt mich. Warum glauben Sie das?

Als Chef-Kritiker von «Variety» arbeiten Sie für die einflussreichste und meistgelesene Publikation der Filmindustrie. Sie schreiben oft als Erster über einen neuen Film. Mit Ihren Kritiken können Sie den kommerziellen Werdegang mancher Filme massgeblich beeinflussen.
McCarthy: So gesehen, haben Sie recht. Obwohl «Variety» nur eine Auflage von 60 000 Exemplaren hat, ist der Einfluss der Publikation extrem hoch. Alle Leute der Filmindustrie lesen «Variety». Was das US-Kinopublikum betrifft, lesen natürlich viel mehr Leute die «New York Times», «Time» oder «Newsweek».

Sie beeinflussen auch andere Journalisten, vor allem aber jene Leute der Filmindustrie, die Entscheidungen treffen. Was ist Ihr Rezept?
McCarthy: Wir sind an der Front. «Variety» sieht die Filme zuerst, berichtet über wichtige Trends und spürt Entwicklungen innerhalb der Industrie auf. Wir schreiben über alle Filme, so bald wir sie gesehen haben. Die anderen Zeitungen warten, bis sie in die Kinos kommen. «Variety» übernimmt eine Seismograf-Funktion. Die Verleiher kaufen neue Filme oft aufgrund unserer Besprechungen.

«Variety» ist demnach ein Arbeitsmittel der Filmindustrie.
McCarthy: Vornehmlich. Filmeinkäufer und Produzenten müssen früh wissen, ob dieser oder jener Film für sie lukrativ ist oder nicht. Oftmals fühle ich mich wie ein Kriegsberichterstatter, der von der Front die neusten Nachrichten nach Hause meldet. Wir sind die Pfadfinder einer Industrie, die laufend wissen muss, was gerade geschieht.

Gibt es eine Hauptaufgabe von «Variety»?
McCarthy: Besonders wichtig ist «Variety» während Filmfestivals. Produzenten, die noch keine Verleiher für ihre Filme gefunden haben, sind oftmals auf unsere Kritiken angewiesen. Fallen sie positiv aus, können sie mit zusätzlichen Vertragsabschlüssen rechnen, wenn nicht, geht der Film direkt in die Videotheken.

Wie wichtig ist «Variety» denn für jene Filme, über die die gesamte Weltpresse schreibt?
McCarthy: Es verhält sich ähnlich wie bei den kleinen Filmen. Wir sind die Ersten, die darüber schreiben. «Variety» kann ein Klima kreieren, das positiv oder negativ ausfällt. Da die meisten Journalisten «Variety» lesen, lösen wir oft einen Schneeballeffekt aus. Manchmal passiert aber auch das Gegenteil. Es gab schon Fälle, bei denen die gesamte US-Presse gegen «Variety» angetreten ist.

Wie beurteilen Sie den Einfluss von «Variety» auf grosse Hollywoodproduktionen, sagen wir auf «Twister», der in den USA alle Kassenrekorde schlägt?
McCarthy: Wir haben wenig Einfluss, weder auf den Umsatz des Films noch auf dessen Beurteilung. Ich habe «Twister» zum selben Zeitpunkt gesehen wie alle anderen Kritiker. Es gab aber viele billig produzierte Filme, die ich als erster besprochen habe und die anschliessend Karriere gemacht haben, also weltweit erfolgreich gewesen sind.

Können Sie Beispiele nennen?
McCarthy: Nehmen wir Steven Soderberghs «Sex, Lies and Videotape». Niemand hörte davon, niemand kannte Soderbergh. Mit meiner Besprechung habe ich beide bekannt gemacht; Festivals wollten den Film zeigen. Dasselbe passierte ein paar Jahre zuvor mit Jim Jarmuschs «Stranger Than Paradise». Beide Filme sind heute Klassiker.

Kann die Filmkritik ausserhalb der Branchenblätter überhaupt noch etwas bewirken?
McCarthy: Höchstens bei kleinen Filmen. Bei grossen Produktionen, Filmen wie «Twister», «Batman» oder «Jurassic Park» ist die Filmkritik obsolet.

Warum?
McCarthy: Die Produktionsgesellschaften haben andere Kanäle, um ihre Produkte bekannt zu machen. Sie verkaufen ihre Filme mit Stars, die das Publikum sehen will, ob die Kritik nun negativ oder positiv ausfällt. Werbekampagnen und Trailer genügen, um den neuen Schwarzenegger-Film zu vermarkten. Wenn ein Film aber keinen bekannten Regisseur oder keine bekannten Darsteller aufweist, braucht es etwas, um das Publikum aufmerksam zu machen. Hier hat die Kritik nach wie vor ihre Aufgabe.

Es gab und gibt unzählige Branchenblätter in der Filmindustrie. «Variety» ist das einzige, das während 90 Jahren unabhängig blieb. Haben die Studios nie versucht, Sie zu bestechen?
McCarthy: Nein, nie.

Gab es nie Repressalien?
McCarthy: Doch. In den dreissiger und vierziger Jahren konnte es vorkommen, dass «Variety»-Journalisten vom Gelände der grossen Studios verbannt wurden. Die Studios realisierten aber bald, dass sie auch von uns abhängig sind. Sie benötigen die Informationen, die «Variety» publiziert. «Variety» wiederum ist auf die Inserate der Industrie angewiesen.

Gehören Sie eigentlich zur Filmindustrie oder zur Presse?
McCarthy: Das ist ein wichtiger Aspekt. Wahrscheinlich halte ich mich irgendwo dazwischen auf. Obwohl ich schon seit Jahren in Hollywood wohne, sehr viele Produzenten, Regisseure und auch Stars kenne, versuche ich, auf Distanz zu bleiben. Ich muss ständig darauf achten, möglichst unabhängig zu bleiben.

Verkehren Sie denn nicht mit Regisseuren?
McCarthy: Weit weniger häufig als früher.

Warum hat sich das geändert?
McCarthy: Die Leute, die ich wirklich treffen wollte, sind alle tot. Als Student träumte ich davon, Howard Hawks, Raoul Walsh, Jean Renoir oder Sam Fuller kennenzulernen. Die Leute von heute hingegen interessieren mich nicht sonderlich.

Wie werden Sie denn von den Filmern gesehen?
McCarthy: Es gibt sicher viele, die mich hassen. Oftmals haben Filmemacher ein gestörtes Verhältnis zu den Kritikern. Selbst Regisseure, über deren Filme ich positiv geschrieben habe, wissen oft nicht, über was sie mit mir reden sollen. Wenn meine Kritik negativ ausfällt, haben sie zumindest einen Grund, mich zu hassen.

Können Sie Beispiele nennen?
McCarthy: Nehmen wir Oliver Stone. Ich habe «Salvador», einen seiner frühen Filme, unterstützt. Er glaubte, ich würde von nun sein Werk immer loben. Als ich aber andere Filme von ihm negativ besprochen habe, ging er auf Distanz.

Spricht er noch mit Ihnen?
McCarthy: Während zwölf Jahren hörte ich nichts mehr von ihm. Nachdem ich «Natural Born Killers» positiv beurteilte, rief er mich an. Wir assen zusammen und verbrachten einen angeregten Abend.

Filmzeitschrift «Variety»: Klein, aber mächtig

Die in Los Angeles wöchentlich in einer Auflage von rund 60 000 Exemplaren erscheinende Zeitschrift «Variety» – Untertitel: «The International Entertainement Weekly» – gilt weltweit als «Bibel» der Filmbranche. Das 1905 gegründete Blatt bringt – in einem Jargon, der für ausserhalb der Branche stehende Leser oft nur beschränkt verständlich ist – alle wichtigen News aus der Filmindustrie und publiziert aktuelle Einspielergebnisse. Die Filmkritiken in «Variety» werden nicht von Kinogängern, sondern vor allem von Filmverleihern und Kinobetreibern rund um die Welt gelesen.