Die Fortsetzung der Gewaltorgie

Dutzende Male schauten sich zwei Jugendliche den Thriller «Natural Born Killers» an. Dann gingen sie töten. Jetzt fordert Bestsellerautor John Grisham von den Urhebern gewalttätiger Kunst eine Haftpflicht.

Von Peter Hossli

Ponchatoula, Louisiana, im Süden der USA. Am 8. März 1995, kurz vor Mitternacht, sinkt Patsy Byers hinter der Theke zu Boden. Eine Kugel aus dem Lauf einer 38er Smith & Wesson hat die Verkäuferin in die Wirbelsäule getroffen. Abgedrückt hat die 19jährige Sarah Edmondson. Patsy Byers ist seither vom Hals abwärts gelähmt.

Einen Tag zuvor streckt der 18jährige Benjamin Darras mit derselben Waffe William Savage nieder. Der Vorarbeiter einer Baumwoll-Entkörnungsanlage in Hernando, Mississippi, ist sofort tot. Sarah Edmondson wartet in ihrem weissen Nissan Maxima Baujahr 1986 auf Benjamin Darras, ihren Freund. Der Motor läuft, als der Schuss losgeht. Nach der Tat fahren die beiden davon, westwärts.

In den zwei Nächten davor schlucken die mutmasslichen Täter insgesamt 17 LSD-Pillen, Sarah acht, Benjamin deren neun. Und, was für den ehemaligen Anwalt und heutigen Bestseller-Autor John Grisham schwerer wiegt, sie schauen sich pausenlos Oliver Stones Film «Natural Born Killers» an – «ein oder zwei Dutzend Mal», wie die geständige Sarah später zu Protokoll gibt.

John Grisham kannte eines der Opfer von seiner Zeit als Anwalt in Hernando. Mit William Savage hatte er sich regelmässig zum Mittagessen getroffen. Grisham hatte von Gerichtsfällen erzählt, Savage von der Qualität der neuen Baumwollernte.

Als Grisham von Savages Tod erfuhr, ergriff ihn Trauer. Als sich ihm neun Monate später die Verbindung zu «Natural Born Killers» abzeichnet, war es nur noch Wut.

Bereits nach der Premiere von «Natural Born Killers» im Sommer 1994 kritisierte Grisham Oliver Stone. Dessen Film, der einem jungen Paar auf einem Drogen- und Mordtrip durch die USA folgt, verherrliche Gewalt, und zwar «in unerträglicher Weise».

Im Frühling 1996 zog Grisham Stone öffentlich zur Rechenschaft. Im Juristenmagazin «The Oxford American» machte der erfolgsgewohnte Schriftsteller den Regisseur für die Verbrechen in Louisiana und Mississippi verantwortlich. Gleichzeitig forderte er eine rechtliche Neubeurteilung artistischer Erzeugnisse.

Ein Film wie «Natural Born Killers» müsse von der Justiz einem Produkt gleichgestellt werden. Funktionieren die Bremsen eines Autos nicht, bezahle der Hersteller nach einem Unfall Schadenersatz. Gehen Jugendliche nach dem Visionieren eines gewalttätigen Films wie «Natural Born Killers» auf einen tödlichen Feldzug, müssten die Urheber ebenfalls Schmerzensgeld bezahlen.

In der Juli-Ausgabe von «Vanity Fair» doppelte Grisham nach. «Natural Born Killers» erzähle eine «erbarmungslose und blutige» Geschichte, die bloss von ihrem Schockeffekt lebe. Es wundere ihn nicht, dass der Film in unzähligen Fällen zur Nachahmung angestachelt habe.

Von Grisham inspirieren liess sich Joseph Simpson, der Anwalt von Patsy Byers. Für den Prozess gegen Sarah Edmondson und Benjamin Darras wird er Stone und die Produktionsfirma Warner Brothers vor Gericht zitieren. Gelingt es ihm, die Jury von Stones Fehlverhalten zu überzeugen, hofft Simpson, werde Byers von Warner «20 bis 30 Millionen Dollar» erhalten.

Aussichten auf Erfolg hat Simpson allerdings kaum. Bis anhin war es in den USA unmöglich, Kunst für nachträgliche Gewalttaten haftbar zu machen.

Dabei haben Vorbildern aus Film, Literatur und Fernsehen nachgeahmte Morde, sogenannte Copycat-Verbrechen, Tradition. John Lennons Mörder Mark David Chapman wollte «The Catcher in the Rye» imitieren, als er im Central Park den Ex-Beatle erschoss. Ronald-Reagan-Attentäter John Hinckley kopierte 1981 Robert De Niros Figur aus «Taxi Driver». Jonathan Demmes «The Silence of the Lambs» provozierte mehrere Vergewaltigungen. Und nach den Premieren der Ghettofilme «Do the Right Thing», «New Jack City» und «Boyz ‘n the Hood» brannten amerikanische Innenstädte.

Am unrühmlichsten ist jedoch die Geschichte von «Natural Born Killers». Kein anderer Film wird mit mehr Copycat-Morden in Verbindung gebracht als Stones Satire auf die amerikanische Faszination für Gewalt.

Benjamin Darras und Sarah Edmondson bewunderten «Natural Born Killers».

Am 5. März 1995, zwei Tage vor dem lähmenden Schuss in Ponchatoula, mieten die beiden Stones Film in einer Videothek. Sie verbringen die Nacht zusammen, schauen fern und rauchen Haschisch, schlucken LSD, schlafen miteinander. Am nächsten Morgen brechen sie nach Memphis auf. Dort sollen Grateful Dead ein Konzert geben. Von «Natural Born Killers» angeregt, steckt Sarah vorsorglich die geladene 38er Smith & Wesson des Vaters ein.

Als sie Memphis erreichen, hat das Konzert bereits stattgefunden. Sie ändern ihre Pläne und brechen nach New Orleans auf. Unterwegs halten sie in Hernando, der Nissan braucht Benzin. Benjamin erschiesst William Savage. Später witzelte er darüber. «Jetzt bin ich ein richtiger natural-born killer.» Sarah zieht am nächsten Tag mit Benjamin gleich. In der «Time Saver»-Filiale von Ponchatula trifft sie Patsy Byers am Hals.

Dennoch wollen prominente US- Anwälte um jeden Preis verhindern, dass Grishams Idee, einen Film rechtlich einem Produkt gleichzustellen, bei der Justiz Anklang findet. In Gefahr geriete nämlich der erste und gleichsam unantastbarste Zusatz der amerikanischen Verfassung und somit die wohl wichtigste Säule des US-Rechtssystems: Das Recht auf freie Meinungsäusserung. Nichts ist den Verfassungshütern heiliger als der «freedom of speech»-Paragraph.

Stone selbst bezichtigt Grisham der Heuchelei. Der ehemalige Anwalt und Romanautor sei nur dank einem an Gewaltakten übervollen Werk ein «sehr reicher Mann» geworden, schrieb der Filmregisseur in der Wochenzeitung «L. A. Weekly». Bei der Stoffwahl verfahre Grisham immer nach demselben Prinzip: Er schreibe ausschliesslich über Verbrechen. Thematisch orientiere sich Grisham an Selbstmord, Mord und Totschlag. In seinem Buch «A Time To Kill» etwa beschreibe er detailliert die brutale Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens.

Vincent Blasi, Professor für Recht an der Columbia University und Verfechter des «freedom of speech»-Paragraphen, warnt den Rufer nach Zensur. John Grisham könnte dasselbe widerfahren wie den Revolutionären. «Diese wurden von ihren eigenen Kindern gefressen.»