Von Peter Hossli
Lange Zeit galt in Hollywood nur ein toter Schwuler als guter Schwuler. Den Abspann eines Filmes erlebten Homosexuelle oft nicht. Schwule wurden umgebracht oder begingen aus Verzweiflung über ihre sexuelle Orientierung Selbstmord. Betraten homosexuelle Charaktere amerikanische Leinwände oder Bildschirme, verkörperten sie fast aus- schliesslich gängige Stereotypen. Homosexuelle, lehrte das Kino, sind Tunten, Schwuchteln, Transvestiten und neuerdings auch Aidskranke.
Dies soll sich nun ändern. Mike Nichols’ «The Birdcage» wurde trotz Männerkuss in wenigen Wochen zum Kassenschlager. Kein Film spielte 1996 mehr Dollars ein als die Komödie mit liberalem Unterton. Nach fünf Wochen Laufzeit durchbrach «The Birdcage» bereits die 100-Millionen-Dollar-Grenze, für die Unterhaltungsindustrie noch immer die magische Grenze des Erfolgs.
Dabei, dachten Hollywoods Produzenten lange, kann mit Homosexuellen gar kein Geld verdient werden. Während Jahrzehnten waren schwule oder lesbische Hauptrollen in den kostspieligen Hollywood-Produktionen tabu. Gleichgeschlechtliche Liebe sah nur, wer kleine Kinos aufsuchte, in denen Underground-Filme liefen.
Wagte es eines der grossen Studios dennoch einmal, Homosexuelle in wichtigen Parts zu zeigen, so verwehrte es ihnen stets den Sex. Schwuler Sexualität erging es im US-Kino wie einst auch der heterosexuellen Liebe: Was über Andeutungen hinausging, durfte nicht sein.
Dank der eingespielten «Birdcage»-Millionen, prognostiziert das Branchenblatt «Variety», könnten nun aber etliche Filmprojekte mit homosexuellen Themen fertiggestellt werden, die seit Jahren auf ihre Realisierung warten.
Jodie Foster entwickelt mit der Theaterautorin Jane Anderson ein Drehbuch, das von einer lesbischen Liebe erzählt. Foster möchte die Hauptrolle selbst spielen und Regie führen. Die Lebensgeschichte von Harvey Milk, einem schwulen Bürgerrechtskämpfer, der 1977 in San Francisco ermordet wurde, soll nun endlich gedreht werden. Und Larry Kramer, schwuler Autor und scharfer Kritiker der Darstellung Homosexueller durch Holly- wood, hofft, dass Barbra Streisand sein Script «The Normal Heart» verfilmt. Viel Zeit bleibt Streisand allerdings nicht. Kramer ist an Aids erkrankt und möchte die Premiere noch erleben.
Der Grund für die Wandlung Hollywoods ist profan: «The Birdcage» spricht, genau wie die geplanten Filme, ein grosses, vornehmlich heterosexuelles Publikum an – und das ist gut fürs Geschäft. Selbst Stars wie Tom Hanks, Robin Williams und Tom Cruise können nun Homosexuelle spielen, ohne um ihre Karriere fürchten zu müssen.
Dass Heteros mitunter Glücksgefühle bei Filmen mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen empfinden, ist kein neues Phänomen. Jeder Mensch, stellten Psychologen schon vor Jahren fest, ist an sich bisexuell. Verdrängt wird die homosexuelle Seite aber fortwährend. Erst im Dunkeln des Kinos kann man sich dann ungehindert der tief wurzelnden Faszination fürs gleiche Geschlecht hingeben.
Amerikanische Regisseure bemerkten dies bereits in der Frühzeit des Kinos. Offen zeigen konnten sie homosexuelle Liebe allerdings nicht. Statt dessen griffen sie zu verschlüsselten Darstellungen. In den dreissiger Jahren verkörperte Marlene Dietrich die kühle, androgyne Blonde in Männerkleidern. In «Ben Hur» warf Stephen Boyd dem muskulösen Mannsbild Charlton Heston eindeutig zweideutige Blicke zu.
Später spielten Leinwandschwule meistens assimilierte Homosexuelle, die gesellschaftlich nicht aufmüpfen. Für ihre Rechte wehrten sie sich im Kino nicht. Oder sie verkörperten Perverse. In Thrillern wie «The Silence of the Lambs» oder «Basic Instincts» gaben Schwule und Lesben brutale, von ihrer vermeintlich krankhaften Sexualität getriebene Killer. Intakte Zweierbeziehungen gehören zum Standardrepertoire von hetero-, nicht homosexuellen Filmmenschen. Tom Hanks durfte in «Philadelphia» als angesehener, seinem Lebenspartner treuer Anwalt an den Folgen von Aids sterben; einen eindringlichen Kuss mit seinem Freund bekam das Publikum aber nicht zu sehen.
«Schwule im Kino», schrieb das US-Magazin «Time», verkörpern «entweder Spassvögel oder gefährliche Freaks».
Das US-Kino, sagt Larry Kramer, sei trotz der Fortschritte mit «The Birdcage» noch «weit davon entfernt», Homosexuelle als Menschen zu zeigen, die am Morgen aufstehen, zur Arbeit gehen und abends vor dem Fernseher sitzen. Schwule und Lesben fände man nicht bloss in Transvestitenbars, sondern auch in der Stahlindustrie, in Damenkonfektionsläden und in Büros.
Oder in den Filmstudios. Mehrere Dutzend Stars und Sternchen und einige hundert Hollywood-Produzenten und -Produzentinnen sind homosexuell. Viele fürchten sich immer noch, jenen Lebensbereich auf die Leinwand zu bringen, den sie am besten kennen. Der Erfolg von «The Birdcage» an der Kinokasse verspricht bald tiefere Einsichten.