«Hollywood ist ein Boys-Club»

Die einzige Actionregisseurin Hollywoods über das Ende der Zeit und ihren neuen Film «Strange Days».

Interview: Peter Hossli

Frau Bigelow, wo verbringen Sie den 31. Dezember 1999?
Kathryn Bigelow: Bestimmt an einem ganz ruhigen Ort. Die grosse Party, die dann stattfinden soll, habe ich während der Dreharbeiten von «Strange Days» sicher hundertmal erlebt.

Sie schildern in Ihrem neusten Film die beiden letzten Tage des Jahres 1999. Vor der grossen Party erlebt Los Angeles die Apokalypse. Was fasziniert Sie an der Endzeit?
Bigelow: Jede Jahrtausendwende ist ein Meilenstein für die Zivilisation. Wir beginnen jedoch erst jetzt zu realisieren, wie nahe wir diesem Zeitpunkt schon sind. Als Kind haben wir uns alle vorgestellt, wie das Jahr 2000 aussehen könnte. Gekommen ist es ganz anders, weit weniger spektakulär. Für mich war dieser Film eine Möglichkeit, meine eigenen Vorstellungen mit der Realität zu verbinden. Es gibt keinen besseren Moment, über die Vergangenheit und die Zukunft zu reflektieren, als die Jahrtausendwende.

Das brennendste Thema der von Ihnen ersonnenen Zukunft sind die Spannungen zwischen den Rassen.
Bigelow: Ja, unbedingt. In den USA gibt es keine wesentlicheren Probleme als das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiss und die sozialen Spannungen, die daraus entstehen. Wir Weissen müssen uns endlich mit der Tatsache einer multikulturellen Gesellschaft abfinden, sonst gehen wir alle unter.

In welcher Weise beeinflussten Sie die Rassenunruhen 1992, bei denen ein Teil von Los Angeles zerstört wurde?
Bigelow: Es gibt kein Ereignis, das Los Angeles mehr geprägt hat als diese Krawalle. Ich habe sie miterlebt und war bei den Aufräumarbeiten beteiligt. Es war ein bewegendes Erlebnis, das mich veranlasste, die Unruhen als optischen und thematischen Bezugsrahmen von «Strange Days» zu nehmen. Wenn man einen Film über das Ende des Jahrtausends in Los Angeles ansiedelt, muss man die Geschichte dieser Stadt berücksichtigen. Kein Vorkommnis hat die Probleme von Los Angeles offensichtlicher zu Tage gebracht als die Reaktionen auf das Rodney-King-Urteil.

Bei dem die Polizisten, die einen Schwarzen vor einer versteckten Videokamera verprügelt hatten, freigesprochen wurden. Sie vermischen in «Strange Days» nicht nur die Rassen, sondern auch die Geschlechter. Die schwarze Heldin hat maskuline, ihr weisser Partner weibliche Züge. Ist die Zukunft androgyn?
Bigelow: Vieles hat sich bereits aufgelöst. Die Geschlechter sind sich nähergekommen. Mir war es aber auch wichtig, Figuren zu kreieren, die nicht stereotyp sind. Nicht das Leben, nur das Kino ist klischiert. Es gibt keine typischen Frauen oder Männer.

Ihr Film ist actionreich und aufwendig. Warum drehen Sie keine kleinen Frauenfilme?
Bigelow: Mein Erzfeind ist die Voreingenommenheit. Warum sollte gerade ich Frauenfilme drehen? Es gibt viele Männer, die das besser können.

Gibt es Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Ästhetik?
Bigelow: Wahrscheinlich schon. Typisch weibliche oder typisch männliche Ästhetik gibt es aber nicht. Nichts ist typisch. Ich verabscheue solche Vereinfachungen. Jeder und jede bringt eigene Er- lebnisse und Erfahrungen ein, wenn er oder sie einen Film dreht. Das Geschlecht spielt dabei eine entscheidende, aber keine übergeordnete Rolle. Es wäre zu einfach, literarische Texte oder Filme nur bezüglich des Geschlechts des Urhebers zu beurteilen.

In «Strange Days» gibt es eine äusserst brutale Vergewaltigung. Das Publikum erlebt diese Szene aus der subjektiven Sicht des Mörders. Spürt das Publikum dabei die Frau hinter der Kamera?
Bigelow: Es spürt mich. Die Vergewaltigungsszene sollte sehr provokativ sein. Aber sie durfte nicht erotisch wirken. Eine Figur, mit der sich das Publikum emotional verbunden fühlt, erlebt die Szene. Sie reagiert mit grosser Abscheu und Irritation darauf. Dadurch gebe ich dem Publikum zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, die Vergewaltigung zu geniessen. Das Licht ist absichtlich sehr kalt und flach gesetzt.

Hollywood soll sehr sexistisch sein. Wie kommen Sie damit zurecht?
Bigelow: Hollywood ist ein Boys-Club. Für mich ist das aber noch lange kein Grund, davon ausgeschlossen zu sein. Ändern kann ich daran nichts. Und zu einer Geschlechtsumwandlung lasse ich mich nicht bewegen. Ich weigere mich, die Männergesellschaft als Problem zu akzeptieren. Lieber ignoriere ich sie.

«Strange Days» war in den USA ein Flop. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Bigelow: Der Film ist sehr komplex und war deshalb nicht einfach zu vermarkten. Man kann die Geschichte nicht in zwei Sätzen erzählen. Das Studio gab dem Film zuwenig Unterstützung. Niemand wusste, dass «Strange Days» überhaupt existiert.

In Hollywood zählt nur der Erfolg. Werden Sie wieder ein derart aufwendiges Projekt drehen können?
Bigelow: Hoffentlich. Hollywood denkt neben dem Geld auch an die Qualität. 1982 war «Blade Runner» ein Flop. Er gilt heute als Meilenstein der Filmgeschichte. Sein Regisseur Ridley Scott hat danach noch viele erfolgreiche Filme gedreht und arbeitet noch immer. Der Umsatz an der Kinokasse ist doch irrelevant.

Das glauben Sie doch selber nicht.
Bigelow: Es gibt viele Beispiele, die das belegen. Nehmen wir «Citizen Kane». Als der Film 1946 in die Kinos kam, hassten ihn alle. Heute gilt «Citizen Kane» als bester Film aller Zeiten.

In «Strange Days» sind die Menschen süchtig nach gelebten Emotionen, nach virtueller Realität in Form von Videoclips. Sie prophezeien Hollywood damit ein unrühmliches Ende. Wird Ihnen dies die Traumfabrik je verzeihen?
Bigelow: Mit meinem Film hinterfrage ich alles, auch die Konsequenzen des Sehens, des Voyeurismus, und schliesslich auch die Konsequenzen des Kinos.

In Hollywood sollte man das nicht unbedingt tun.
Bigelow: Was sollte man denn tun?

Unterhalten.
Bigelow: Jeder Film ist eine Interpretation. Es gibt keinen neutralen Text.

Ihr ganzer Film wirkt sehr düster. Das Ende ist jedoch versöhnlich, fast kitschig. Ein Zugeständnis an das System?
Bigelow: Nein. Es war geplant, mit Hoffnung zu schliessen. «Strange Days» ist ein Film, der das Publikum auf einen ziemlich verwirrenden Ritt durch die nahe Zukunft nimmt. Man kann die Leute doch nicht deprimiert entlassen.

Eine Filmemacherin mit Talent fürs Dramatische

«Nein», sagt Kathryn Bigelow, von ihrem Exmann stamme ihre Faszination für Actionfilme bestimmt nicht. Zwei Jahre war die heute 44jährige Regisseurin mit James Cameron verheiratet, dem Regisseur von «The Terminator», «Aliens» und «True Lies».

Ihr Faible für aufwendiges, visuell eigenständiges Kino hat Bigelow bereits früh entwickelt. Nach Abschluss der Filmschule drehte sie «The Loveless» (1981), ein erotisches Bikermovie. 1987 folgte der düstere Vampirfilm «Near Dark». Der kommerzielle Durchbruch gelang ihr mit «Blue Steel» (1990), einem Thriller, in dem Jamie Lee Curtis einen smarten Serienmörder jagt. 1991 entstand «Point Break», eine kühne Mischung aus Sportfilm und FBI-Drama.

Mit «Strange Days», der am 2. Februar anläuft, vermischt Bigelow die klassischen Genres erneut. Science-fiction paart sie mit Film noir und Rassendrama. Sie erzählt von den beiden letzten Tagen des Jahrhunderts in Los Angeles, dem verkommensten Flecken Amerikas. Alles bereitet sich auf das Jahr «2K», die grosse Endzeitparty und das damit einhergehende Chaos vor. Die Drogen sind nur noch virtuell, die Junkies süchtig nach subjektiven Bildern: Für den schnellen Kick setzen sich die Abhängigen Module auf ihre Köpfe und erleben längst verlebte Emotionen noch einmal.

In den USA wollten nur wenige «Strange Days» sehen. Dem Publikum waren die Apokalypse und die darin aufgezeigten Rassenkonflikte wohl zu nahe an ihrer täglichen Realität.