Von Peter Hossli
Larry Clark fürchtet sich vor der Stille. Er ist ständig in Bewegung, spricht unaufhörlich mit dem Interviewer, dem persönlichen Assistenten oder mit der schwarzen Coiffeuse, die er sich ins Hotelzimmer bestellt hat, damit sie ihm Zöpfchen in die noch verbliebenen Haare flechtet.
«Nein», harte Drogen konsumiert Larry Clark, 53, angeblich keine mehr. Seine Nervosität rührt nicht von Aufputschmitteln, sondern von einer Unsicherheit, die der hagere Fotograf mit dem struppigen Bart in seiner Jugendzeit entwickelt hat. Er kämpft noch immer gegen sie an. «Meine Jugend war ein Desaster», sagt Clark. «Mit 16 Jahren hatte ich noch keine Haare am Schwanz. Wären sie nicht gewachsen, ich hätte mich umgebracht.» Seine Freunde hatten die Pubertät bereits hinter sich. Clark war dünn und ein Stotterer, «ein Spätzünder», wie er sagt.
Während seine Altersgenossen die Sexualiät zuerst an und für sich und dann mit Frauen entdeckten, kämpfte Clark gegen Minderwertigkeitskomplexe und gegen einen alkoholabhängigen Vater. Clark stürzte in den Drogensumpf. Er begann Amphetamine zu spritzen, an der Kunstschule in Wisconsin Marihuana zu rauchen und als Soldat in Vietnam Kokain und Heroin zu konsumieren. Am Leben liess ihn nur sein Wille, einmal ein grosser Künstler zu werden. «Meine Kunst sollte ein Gegenentwurf zu meiner vermurksten Kindheit werden.»
Seither begleitet ihn eine ungebrochene Faszination für Halbwüchsige, den Übergang vom Kind zum Erwachsenen sowie dessen Darstellung in der medialen Populärkultur Amerikas. Er selbst hat USTeenager in seinen beiden Bildbänden «Tulsa» und «Teenage Lust» sowie unzähligen Collagen verewigt. Und «Kids», sein erster, äusserst kontroverser Film, erzählt 24 Stunden aus dem Leben einer Skateboard-Clique.
1963 begann Clark in seiner Geburtsstadt Tulsa, Oklahoma, Freunde beim Sex, beim Fixen und beim Rumhängen in Suburbia zu fotografieren.
Er war 20 Jahre alt. 1971 publizierte er die Bilder in seinem Fotoessay «Tulsa», einem aufwühlenden Buch, dessen kaputte Romantik gleichzeitig faszinierend und abstossend wirkt. Manche Bilder – etwa eine nackte Schwangere mit einer Heroinspritze neben dem Gesäss oder ein totes Baby in einer Schuhschachtel – schockierten die Öffentlichkeit. Sie beeinflussten den Stil des jungen amerikanischen Kinos der frühen siebziger Jahre. «Martin Scorsese», sagt Clark mit Stolz, «liess sich bei ‹Taxi Driver› stark von ‹Tulsa› inspirieren.»
Viele der Jugendlichen, die Clark während sieben Jahren begleitete, waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits gestorben. Er selbst hing an der Nadel und jagte sich das gesamte Buchhonorar binnen zweier Wochen in die Venen. Ein staatliches Kunststipendium bekam Clark trotzdem.
1983 publizierte er sein zweites Buch «Teenage Lust». Für seine Recherchen durchkämmte Clark, meist vollgepumpt mit Aufputschmitteln und Heroin, während Jahren die Vereinigten Staaten. Er war auf der Suche nach Bildern, die «der amerikanischen Realität entsprechen sollten». Eingefangen hat er diese Realität nicht nur mit der Kamera. Er hat sie auch überlebt.
Der als Nachfolger von Robert Frank gelobte Clark lebte zusammen mit versoffenen Herumtreibern und heruntergekommenen Teilzeithuren im Drogensumpf.
Nachdem sein Stipendium weggespritzt war, besorgte er seinen Unterhalt mit Einbrüchen und Dealen. 1976 wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, wegen «Bedrohung mit einer tödlichen Waffe in der Absicht zu töten». Er schoss einen Gegner beim Pokern an; nach 19 Monaten «guter Führung» wurde er entlassen. «Es waren wilde Jahre», sagt Larry Clark trocken.
Seit er verheiratet ist und im New Yorker Stadtteil TriBeCa lebt, hegte er den Wunsch, einen Film über Kinder und Jugendliche zu drehen. «Es sollte ein Film werden, der in Amerika bis dahin noch nicht gedreht wurde.» Genau wie es den grossen amerikanischen Roman gebe, wollte Larry Clark den grossen amerikanischen Teenagerfilm schaffen. Wie einst der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini fand er seine Darstellerinnen und Darsteller auf der Strasse, vornehmlich in der Skateboardszene um den Washington Square. Den Einstieg ins Milieu der Rollbrettfahrer fand er über seinen elfjährigen Sohn. Vor drei Jahren kaufte er ihm ein Skateboard. Seinen neuen Freunden zeigte Clark alte Fotos, sie wiederum zeigten ihm, wie man auch als Fünfzigjähriger Rollbrett fahren kann, ohne zu stürzen.