Von Peter Hossli
Spike Lee, 38, ist eine der kontroversesten Figuren der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Der in Brooklyn geborene und aufgewachsene afroamerikanische Regisseur mit der grossen Klappe thematisierte in Filmen wie «Do the Right Thing» (1989), «Jungle Fever» und vor allem «Malcolm X» das explosive Spannungsfeld zwischen Weissen und Schwarzen. In «Do the Right Thing» rief er die Afroamerikaner indirekt zu handfester Gewalt gegen Weisse auf.
Mit seiner bisher aufwendigsten Produktion «Malcolm X» sorgte er für eine Renaissance des umstrittenen Bürgerrechtskämpfers der sechziger Jahre. Den mit 30 Millionen Dollar Produktionskosten sehr teuren Film konnte Lee nur fertigstellen, weil ihn prominente Schwarze finanziell unterstützten. Seine Produktionsfirma nennt Lee «40 Acres and A Mule Filmworks» – eine Anspielung auf das Ende der Sklaverei. Damals erhielten die freigelassenen Sklaven vom Staat ein Maultier und 40 Acres Land.
Spike Lee, sind Sie im Oktober an dem von Farrakhan angeführten «One Million Men March» in Washington mitmarschiert?
Spike Lee: Nein. Ich war verhindert.
Dann lehnen Sie die radikalen, teilweise antisemitischen Ideen des schwarzen Bürgerrechtskämpfers Louis Farrakhan ab?
Lee: Ich hatte andere Gründe. Am selben Tag musste ich mein linkes Knie operieren lassen. Ansonsten wäre ich bestimmt nach Washington gefahren und mitmarschiert. Nur solche gemeinsamen Aktionen können die in sich gespaltene schwarze Gemeinschaft wieder vereinen.
Hassen Sie die Weissen?
Lee: Ach, das ist doch eine Erfindung der amerikanischen Presse.
Ihr neuster Film «Clockers» ist das erste Projekt, das sie nicht selbst initiiert haben. Als Sie den Film übernahmen, waren bereits Richard Price als Drehbuchautor und Martin Scorsese als Regisseur damit beschäftigt. Hatten Sie überhaupt noch einen Einfluss auf den Film?
Lee: Wir haben die Gewichtung der Hauptfiguren stark verändert. Im Vergleich zur Vorlage von Richard Price steht bei uns nicht mehr ein weisser Polizist, sondern der schwarze Drogendealer Strike im Mittelpunkt.
Warum haben Sie gerade jetzt einen Film über Drogendealer gedreht?
Lee: Gehen Sie einmal in irgendeine amerikanische Innenstadt. Dort hat es nur noch schwarze Jugendliche, die sich gegenseitig abknallen und mit Drogen dealen.
In «Clockers» wirken zwei drogenabhängige schwangere Frauen ziemlich realistisch.
Hatten sie einen guten Maskenbildner?
Lee: O nein. Alle Junkies, die in meinem Film auftreten, sind tatsächlich Crackabhängige.
Sie tragen ihre eigenen Kleider?
Lee: Kein Make-up, überhaupt nichts. Während unseren Dreharbeiten in Brooklyn gehörten Süchtige zum Alltag.
Und bezahlt wurden sie gleich nach den Dreharbeiten?
Lee: Das war der einzige Grund, warum sie mitmachten. Wir gaben ihnen das Geld, und sie kauften sich an der nächsten Ecke gleich wieder eine Portion Crack.
Sie sehen darin kein Problem?
Lee: Es ist ein Dilemma, ich weiss. Hätten wir sie nicht bezahlt, wäre dies pure Ausbeutung. Mit ihrem Statistengehalt haben sie aber ihren Körper weiter vergiftet.
Und zur Premiere des Films erschienen die beiden Frauen wohl auch nicht.
Lee: Ich weiss nicht einmal, ob sie noch leben.
Der Roman des Schriftstellers Richard Price spielt in New Jersey, Ihr Film in Brooklyn.
Warum haben Sie den Handlungsort verlegt?
Lee: Es war zu teuer, in New Jersey zu drehen. Die Arbeitszeit der Techniker und Schauspieler beginnt, wenn sie ihr Haus verlassen. Hätten sie täglich nach New Jersey pendeln müssen, hätten wir sehr viel Zeit verloren. Es dauert ewig, bis man eine ganze Crew durch den Verkehr von Manhattan geschleust hat. All das kostet extrem viel Geld.
Sie gelten als äusserst verspielter und innovativer Regisseur. Auch in Ihrem jüngsten Film suchen Sie nach neuen stilistischen Mitteln.
Lee: Hinter der Kamera stand Malik Sayeed, ein 26jähriger, der noch nie zuvor bei einem Film die Kamera bediente. Er arbeitete als Elektriker bei «Malcolm X» und als Best Boy bei «Crooklyn». Zuerst habe ich aber mit verschiedenen Kameramännern gesprochen. Zuerst mit Janusz Kaminski, dem Kameramann von «Schindler’s List». Er hatte keine Zeit.
Dann nahmen Sie einen unerfahrenen Elektriker.
Lee: Ja. Und ich bin sehr glücklich darüber. Die einzigartige Ästhetik von «Clockers» ist grösstenteils das Verdienst von Malik. Er hat sehr unterschiedliches Filmmaterial verwendet, Filmmaterial, das nicht einmal ich kannte. Malik wollte beispielsweise für die Rückblenden eine andere optische Erscheinung als für die Gegenwart. Er bestellte bei Kodak Material, das sonst von der Nasa zum Fotografieren des Weltalls verwendet wird.
Wann drehen Sie eine Remake von einem der Filme von Oscar Micheaux, dem ersten unabhängigen schwarzen Regisseur, der zwischen 1918 und 1951 gegen fünfzig Filme drehte?
Lee: Denken Sie an einen, der sich besonders eigenen würde?
Vielleicht «Body and Soul» aus dem Jahre 1924, ein Film über einen korrupten schwarzen Pfarrer, der die afroamerikanische Gemeinschaft betrügt und eine junge Frau vergewaltigt.
Lee: Das ist eine wirklich gute Idee.
Sie geben sich als erster unabhängiger schwarzer Filmemacher…
Lee: …was, wie Sie aufgezeigt haben, nicht stimmt. Vor mir waren Oscar Micheaux, Ossie Davis, Melvin Van Peebles oder Michael Schultz und Spencer Williams.
Warum kennen junge schwarze Filmemacher diese Leute nicht mehr?
Lee: Amerikaner, weisse wie schwarze, ignorieren die Geschichte, sie wissen nicht oder wollen nicht wissen, was vor ihrer Geburt passierte. Es ist manchmal zum Verzweifeln, wie wenig in den USA über Geschichte gesprochen wird, sogar über die jüngste Geschichte.
Weisse Kids kümmern sich nicht um die Entwicklung in schwarzen Sozialwohnungen. Dennoch konsumieren sie schwarze Musik, tragen weite Shorts, Basketballschuhe und sprechen so abgeklärt wie Protagonisten aus Spike-Lee-Filmen.
Lee: Das ist nichts Neues in der amerikanischen Geschichte. Das weisse Amerika hat vieles von unserer Kultur übernommen. Die amerikanische Musik wäre ohne schwarzen Einfluss, ohne Jazz nicht möglich gewesen. Nicht Elvis Presley oder Jerry Lee Lewis, sondern Bessie Smith und später Chuck Berry erfanden den Rock ‘n’ Roll. Als noch ausschliesslich Schwarze die Hüften im Takt bewegten, wollten die Eltern ihre Kinder vor dieser «Dschungelmusik» bewahren. Bei Elvis Presley liessen sie ihre Töchter dann getrost in Ohnmacht fallen.
Sie haben viele andere Regisseure, auch europäische, inspiriert.
Lee: Nennen Sie mir einen?
Mathieu Kassovitz etwa, der Regisseur von «Métisse» und «La haine».
Lee: Kassovitz? He is full of shit! Zuerst kopiert er meine Filme, und dann greift er mich an, weil ich mich dazu geäussert habe.
Ein anderer Filmemacher, der sich stark von der afroamerikanischen Kultur inspirieren lässt, ist Quentin Tarantino. Fühlen sich die Schwarzen von ihm bestohlen?
Lee: Im Gegenteil. Quentin Tarantino ist sehr talentiert. Er erweist der schwarzen Kultur eine Hommage. Mich nervt nur sein Gebrauch des Wortes «Nigger».
Der Schauspieler Denzel Washington hat ihn deshalb stark angegriffen.
Lee: Zu Recht, wie ich meine. In «Reservoir Dogs», «True Romance» und «Pulp Fiction» wird «Nigger» inflationär gebraucht. Ich wünsche mir schon, dass Tarantino in seinem nächsten Film mit diesem Wort etwas zurückhaltender umgeht.
Schwarze Feministinnen haben Sie oft scharf angegriffen.
Lee: Nicht nur Feministinnen, alle Frauen!
Die Frauen sagten, Sie hätten in Ihren früheren Filmen eindimensionale Frauenfiguren kreiert. Die schwarze Denkerin Bell Hooks bezeichnete Sie gar als «extrem sexistisch».
Lee: Vieles, was über meine Frauenfiguren gesagt und geschrieben wurde, hat einen wahren Kern. Ich gebe das ja zu. Einiges ist aber bestimmt übertrieben.
Im Film «Clockers» agiert nun aber eine selbständige, alleinerziehende schwarze Mutter, die sehr viel eigenständiger ist als die Männer.
Lee: Wie gesagt, ich habe langsam begriffen, welche Fehler ich begangen habe. Mit jedem Film versuche ich nun, komplexere Frauenfiguren zu kreieren. Ich gebe mir Mühe.
Sie sind jetzt ein verheirateter Mann.
Lee: Der Einfluss meiner Frau ist evident. Sie hackt dauernd auf mir rum.
Seit dem Beginn ihrer Karriere drehen Sie Werbefilme für Grosskonzerne wie die Sportartikelfirma Nike. Hatten Sie nie Probleme damit?
Lee: Was ist denn Warner Brothers, für die ich «Malcolm X» drehte? Oder MCA/Universal, die Produktionsfirma von «Clockers»? Das sind beides Medienkonzerne, die ihre Produkte in der ganzen Welt verkaufen. Insofern habe ich immer für Grosskonzerne gearbeitet.
Sie gelten aber als Filmemacher, der stets für seine künstlerische Unabhängigkeit eintritt. Bei Werbefilmen ist dies wohl kaum möglich.
Lee: Nein. Die Werber bestimmen alles. Gut, ich mache die Vorschläge, wenn diese nicht ankommen, können die Werber aber alles verhindern.
Sie sind ein Magier der Selbstinszenierung. Ihre Filme haben Sie oftmals mit Skandalen lanciert, sei es um die Inhalte oder um Ihre Person.
Lee: Das stimmt so nicht. Es war nicht ich, der meine Filme mit Kontroversen lancierte, sondern es war die Presse. Meine Filme haben immer aktuelle Themen behandelt, waren nur inhaltlich kontrovers.
Dennoch stand der Skandal meistens im Vordergrund. «Do the Right Thing» löste beispielsweise schwere Krawalle aus.
Lee: Das war bestimmt ein Fehler. Es war aber nie meine Absicht, dass die Filme zu Gewaltakten führen sollten. Die Presse schürte die Gewalt. Die Diskussionen um die Nebenerscheinungen und um meine Person haben den Filmen eher geschadet. Es bringt einem Film doch nichts, wenn ein Journalist schreibt, ich sei ein grosses Arschloch. Die sollen über die Filme schreiben, sie kritisieren, sie diskutieren. Ich bin weit weniger wichtig als meine Filme.
Warum sind Ihre Filme in Europa oft populärer als in den USA?
Lee: Wahrscheinlich weil die Europäer mehr an Geschichte interessiert sind als wir Amerikaner. Leider spielen meine Filme hier aber noch nicht genug Geld ein. Die europäische Presse feiert mich, an Festivals erhalte ich dauernd Auszeichnungen. Jetzt muss nur noch das Publikum kommen.
Der Umsatz an europäischen Kinokassen ist für Sie demnach wichtig?
Lee: Bei Budgetverhandlungen für ein neues Projekt beurteilen die Produzenten oftmals nur die Einspielergebnisse im Ausland. War mein letzter Film in Europa ein Erfolg, kann ich mit einem grösseren Budget rechnen, war er ein Flop, bekomme ich weniger Geld, so einfach ist das. Die europäische Kinokasse ist enorm wichtig geworden.
Bei «Malcolm X» mussten Sie noch darum kämpfen, ein angemessenes Budget zu erhalten. Jetzt wurde Ihnen von einem grossen Studio ein Film angeboten, den eigentlich Martin Scorsese hätte drehen sollen. Hat sich das Kämpfen gelohnt?
Lee: Bei «Clockers» gab es kaum Diskussionen über das Budget. Ich erhielt die Unterstützung, die ich wollte.
Unter den schwarzen Regisseuren sind Sie aber eine Ausnahme.
Lee: Ich hatte Glück. Bis anhin konnte ich jeden Film so drehen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Probleme gab es wirklich nur bei «Malcolm X». Das Thema war für die damalige Zeit wohl zu explosiv. Für andere schwarze Regisseure ist es aber ebenfalls einfacher geworden, sogar in Hollywood Filme zu drehen. Noch immer schwierig ist es für Filmemacherinnen, ganz egal ob sie weiss oder schwarz sind.
Ihre beiden letzten Filme – «Crooklyn» und «Clockers» – spielen in Ihrer Heimatstadt Brooklyn. «Crooklyn» zeigt ein nostalgisches Bild zu Beginn der siebziger Jahre. Den Schwarzen geht es gut. «Clockers» spielt heute und zeigt eine schwarze Gemeinschaft, die sich gegenseitig umbringt. Was passierte in nur zwanzig Jahren?
Lee: Zwei Dinge: Die Familien brachen auseinander, und Crack überflutet die Innenstädte.
Ist die Unterhaltungsindustrie nicht mitschuldig? Der republikanische Präsidentschaftskandidat Bob Dole machte den Gangsta-Rap und die Gewalt in Filmen für den Zusammenbruch der Innenstädte verantwortlich. Was sagen Sie dazu?
Lee: Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber meine Meinung unterscheidet sich nicht so sehr von Bob Doles Standpunkt. Gewalt im Kino sät tatsächlich Gewalt auf der Strasse. Der Republikaner Dole kümmert sich aber nicht um die Jugendlichen auf der Strasse, die sich täglich erschiessen. Ich kritisiere den Gangsta-Rap auch, sorge mich aber wirklich um die jungen Schwarzen, die sich auch wegen der Gewalt in ihrer Musik in amerikanischen Städten auf offener Strasse abknallen. Bob Dole hat wahrscheinlich noch nie in seinem Leben eine Rap- Platte gehört. Würde man ihm eine solche CD vorspielen, er verstünde die Liedtexte bestimmt nicht.