«Na hören Sie mal, noch bin ich nicht siebzig»

Sie zeichnete Trickfilme unter den Nazis, war die erste Nackte im deutschen Film, schrieb und sang: Hildegard Knef.

Von Peter Hossli

Hildegard Knef und Peter HossliHildegard Knef, Sie sind jetzt siebzig …
Hildegard Knef: …na, hören Sie mal, noch bin ich es nicht.

Einverstanden. Sie werden Ende Monat siebzig Jahre alt. Haben Sie noch immer Lampenfieber?
Knef: Bevor ich rausgehe? Ja, immer.

Obwohl Sie auf eine lange Karriere als erfolgreiche Schauspielerin, Sängerin und Buchautorin zurückblicken. Ihr Einstieg in die Kunst war eher sonderbar. Sie zeichneten Trickfilme.
Knef: Es waren nicht nur Trickfilme. Ich erhielt von der Ufa eine Malausbildung. Um meine Lebensmittelkarten etwas aufzumoppen, arbeitete ich abends jeweils an den Zeichentrickfilmen.

Warum hörten Sie damit auf?
Knef: Nach anderthalb Jahren hatte ich genug von dieser doch sehr öden Zeichnerei, die während der Nazi-Zeit überhaupt keine Phantasie zuliess. Nicht einmal einen Manet oder einen Monet konnten wir studieren, von Expressionisten keine Rede. Wir durften ja nur den einen Männertyp malen, der den Herrschaften passte. Sie brauchen sich nur die Bilder aus der Nazi-Zeit anzugucken beziehungsweise die Architektur. Furchtbar.

Sie wurden Schauspielerin.
Knef: Ich ging von der Einsamkeit des Zeichenblocks zur Lebendigkeit der Bühne und der Leinwand.

Sie blieben jedoch bei der Ufa und stellten sich somit in den Dienst der gleichgeschalteten Nazi-Filmindustrie.
Knef: So stimmt das nicht. Ich ging zu Else Bongers, der Nachwuchschefin der Ufa. Die hat mich genommen, obwohl ich überhaupt nicht dem damaligen Schönheitsprinzip entsprach. Dort habe ich eine brillante Ausbildung erhalten.

Von den Nazis?
Knef: Frau Bongers war eine unbeschreibliche Antinazi. Aber darüber wurde nicht öffentlich gesprochen, denn ein falsches Wort, und schon drohte der Arbeitsdienst. Deshalb waren wir ja alle so uneingeweiht und völlig verblödet über das, was in Deutschland vor sich ging. Wir erlebten bloss, dass sich Berlin ständig dezimierte.

Das Ende des Krieges erlebten Sie in russischer Kriegsgefangenschaft.
Knef: Als die russische Armee nach Berlin kam, wollte ich nicht hier sitzen bleiben. Da habe ich mich als Junge verkleidet und bin zusammen mit meinem Liebhaber zur Volkssturmarmee gestossen. Wir haben es fast bis zur Elbe geschafft. Wegen Hunger, Schlaflosigkeit und meiner Kopfwunde mussten wir umkehren. Plötzlich spürten wir ein Gewehr am Rücken.

Hat Sie das für Ihr späteres Leben stark gemacht?
Knef: O nein, es machte mich dünnhäutig. Ich habe viele tote Menschen gesehen, habe selber schiessen müssen. Sehen Sie, wenn Sie zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht ein Bajonett sehen, dann denken Sie nur noch eines: Wer schneller ist, darauf kommt’s an.

Nach dem Krieg spielten Sie 1945 in Wolfgang Staudtes «Die Mörder sind unter uns» die Hauptrolle im ersten deutschen Nachkriegsfilm. Lagen beim Drehen nicht noch Leichen unter den Trümmerbergen?
Knef: Das kann man wohl sagen. Überhaupt waren die Drehbedingungen prekär. Wir alle waren mehr oder weniger krank, hatten Husten, Hepatitis und Gott weiss was. Was wir da getrieben haben, um zu drehen, das können Sie sich nicht vorstellen. Die Linsen der Kameras waren kaputt. Dem Film lief die Emulsion runter, die Perforation riss ständig.

Was trieb Sie an?
Knef: Wir hatten es überlebt, und das gab uns einen Adrenalinstoss. Später hat man mich in Amerika gefragt: «Sag mal, wie habt ihr all die Trümmer für den Film bloss aufgebaut?» Da hab’ ich gesagt: «Das war der Alexanderplatz, wir haben da draussen gedreht, nachts, das war Berlin. Das heisst, was von Berlin übriggeblieben war.»

Mit «Die Mörder sind unter uns» trugen Sie einiges zur Emanzipation vom Nazi-Frauenbild bei. Wie würden Sie dieses neue Bild umschreiben?
Knef: Na ja, völlig weg von dem, was vorher während der Nazi-Zeit war. Es kam ein ganz neuer Frauentyp.

Und Sie haben dem damals entsprochen?
Knef: Diesen hübschen, sehr symmetrischen Frauenfiguren der Nazis entsprach ich ja nie. Ich habe ein asymmetrisches Gesicht. Dieses repräsentierte eine neue Generation: die Kriegskinder.

Als solches Kriegskind erhielten Sie 1947 aus Hollywood ein Angebot. Waren Sie damals als 22jährige nicht völlig überfordert?
Knef: Ich ging viel zu früh nach Amerika. Ich hatte ja bloss drei Filme gedreht. Dann hat mir David O. Selznick, der Produzent von «Gone with the Wind», einen Vertrag angeboten. Alle – Erich Pommer, Barlog, Staudte oder Helmut Käutner – haben mich gewarnt: «Das ist viel zu früh, bist du wahnsinnig?»
Aber ich wusste es besser.

Geklappt hatte es nicht.
Knef: Na ja, ich hab Englisch gelernt.

Rollen gab es aber keine.
Knef: Die hatten damals in Hollywood nie die Absicht, mit mir zu drehen. So ein Quatsch. Aber ich hatte das grosse Glück, deutsche Emigranten wie Ludwig Marcuse, Thorberg oder Marlene Dietrich zu treffen.

Hat Sie die emigrierte deutsche Künstlergemeinde Amerikas nicht verachtet? Sie sind ja geblieben.
Knef: Die konnten alle nachrechnen, wie alt ich war, als die Nazis an die Macht kamen. Sie sind mir nie schwachsinnig in den Rücken gefallen und sagten: «Jetzt hat sie schon den ganzen Krieg durchgehungert. Jetzt bekommt sie hier auch noch eins auf die Nase, weil sie Deutsche ist.»

Was haben Sie denn in Hollywood getan?
Knef: In diesen zwei Jahren, in denen ich da rumgelungert bin wie eine verwelkte Palme, traf ich Ludwig Marcuse, der Professor für Literatur an der UCLA war. Sein Englisch war haarsträubend schlecht. Und er freute sich halb tot, dass er jemanden traf, der auch Berlinerisch verstand und ausserdem Deutsch. Er sagte: «Du hast bestimmt nur an den dämlichen Nazi-Schulen gelernt.» Zwei Jahre lang erhielt ich von Marcuse jede Woche ein neues Buch, Thomas Mann, Kafka, Baudelaire, alles, was bei den Nazis verboten war. Es waren meine Lehrjahre.

Bereits 1950 kehrten Sie nach Deutschland zurück. In Willy Forsts «Die Sünderin» traten Sie als erste Nackte in einem deutschen Film auf. Die Presse reagierte mit Beschimpfungen, der Film entfachte einen landesweiten Skandal. In den Kinos explodierten Stinkbomben. Ich habe mir «Die Sünderin» eben erst angesehen…
Knef: … Sie armer Mensch!

Er wirkt heute harmlos. War Deutschland damals derart prüde?
Knef: Schwachsinnig prüde! Ich meine, ein Land, das Auschwitz hatte und so Grauenhaftes anrichtete und das sich nun, wenige Jahre später, in einer solchen Weise benahm, weil ich da ein paar Sekunden nackt auf der Leinwand zu sehen war, das ist doch völlig absurd.

Besonders lautstark setzte sich die katholische Kirche zur Wehr.
Knef: Im Grund hat die Kirche dieses Theater nur gemacht, weil im Film ein Doppelselbstmord vorkommt. Es war die Lebensverweigerung, die irritierte, nicht der nackte Busen.

Sie gingen danach wieder in die USA. Warum wollten Sie in Deutschland keine Filme mehr drehen?
Knef: Es brach die Wohlstandskrise aus, künstlerisch gesehen. Obwohl ich ja begreife, dass die Menschen hier sechs Jahre nach Kriegsende nicht Filme über das sehen wollten, was sie gerade erlebt hatten. Den Horror wollte keiner noch einmal auf der Leinwand erleben. Dennoch kam es mir bald so vor, als sei an dem ganzen Land eine Lobotomie vollzogen worden. Jeder hat nach 1945 sofort vergessen, was vorher war. Plötzlich gab es Heimatfilme. Jeder war fröhlich und ungeheuer kultiviert.

Hatten Sie später in Amerika nie Probleme, weil Sie Deutsche waren?
Knef: Für meinen ersten amerikanischen Film «Decision before Dawn» war ich 1951 für den Oscar in einer Nebenrolle nominiert. Dann fiel denen ein, dass ich Deutsche war – und sie haben meinen Namen wieder von der Liste gestrichen.

Der Durchbruch gelang nicht im Kino, sondern am Broadway.
Knef: Ja, mit zwei Hochleistungssportjahren, nämlich dem Musical «Silk Stockings». Ein Musical in New York zu spielen ist mit das Härteste, was es gibt. Das hat mich fast umgebracht. Man hat acht Vorstellungen pro Woche, die alle drei Stunden und vierzig Minuten dauern. Das ist der absolute Wahnsinn. Ich habe einmal mit Marlon Brando darüber gesprochen, der «A Streetcar Named Desire» zwei Jahre gespielt hat. Danach spielte er nie wieder Theater.

Sie haben über 200 Lieder aufgenommen, in 60 Film- und Fernsehproduktionen agiert, sieben Bücher geschrieben. Sind Sie ein Workaholic?
Knef: Nein, gar nicht so sehr, das hat sich einfach so ergeben, das eine kam aus dem andern.

Was hat Sie denn angetrieben? Etwa das Geld?
Knef: Um ein Buch zu schreiben, ist es bestimmt nicht das Geld. Es sind zwei Jahre Ihres Lebens, die dabei draufgehen. Und beim Schreiben hat man keinen Dunst, ob irgendein Mensch das Buch auch einmal lesen wird. Das Schreiben ist wahrscheinlich die anstrengendste künstlerische Betätigung. Gucken Sie sich alte Maler an, die werden immer lebendiger, schöner. Alte Schriftsteller sehen jedoch alle aus, als seien sie gerade aus einem Fahrstuhl gekommen. Diese Einsamkeit hinter der Schreibmaschine ist zum Verrücktwerden.

Ihr Leben gehörte der Öffentlichkeit. Sie haben in Büchern oder in Liedern den Verlauf Ihrer Ehen und Ihrer Krankheitsgeschichten stets en détail erzählt. War Ihr Leben eine Reality-Show?
Knef: Ich fand immer, dass es eine grosse Verlogenheit der Literatur ist, dass vieles auf dritte Personen übertragen wird. Nehmen wir Thomas Mann. Er hätte den «Zauberberg» nie schreiben können, wenn seine Frau nicht Tbc gehabt hätte. Gehen wir sogar soweit, sind infam und sagen: «Tod in Venedig»…

… wo sich Thomas Mann verschlüsselt als Homosexueller outet…
Knef: … genau. Einer meiner nächsten Freunde war Henry Miller. Seine Ich-Form hat mich dazu inspiriert, ebenfalls in der Ich-Form zu schreiben. Ich war mit Boris Vian befreundet, gehörte in Paris jahrelang zu den Dadaistenzirkeln. Da hatte das ganze «Hinterm Schleier»- und «Sagen wir’s mal so, dass keiner merkt, wer’s ist»-Getue längst ausgedient. Ich finde es ehrlicher …

… über sich selbst zu berichten?
Knef: Nicht mal über mich selber. Wenn nicht schon jemand geschrieben hätte, «I am a camera», würde ich sagen «I am a camera»: mit meinen Augen sehen.

Vor zehn Jahren, als Sie sechzig wurden, reagierte das deutsche Publikum sehr verhalten auf die Knef. Sind Sie wegen der zaghaften Reaktionen
noch verärgert?
Knef: Kann man sich nicht leisten.

Und die deutschen Medien, die Sie damals stark kritisiert haben?
Knef: Die haben mir neun Jahre meines beruflichen Lebens geklaut.

Inwiefern?
Knef: Mit Überschriften wie «Knef: «Ich hasse alle Deutschen!»» Diese basierten bloss auf der Tatsache, dass an dem Tag keine Eisenbahn verunglückt oder dass kein Krieg ausgebrochen war. Die Presse wollte mich fertigmachen. Es war infam, Geld auf dem Rücken eines Menschen zu verdienen, ohne ihn je angerufen zu haben, und dann eine Schlagzeile hinzudonnern, die es mir verunmöglichte, meine Tochter hier zur Schule zu schicken.

Sie sind der letzte internationale Filmstar Deutschlands. Heute hat das deutsche Kino weder internationalen Erfolg noch Stars. Was ging schief?
Knef: Nach dem grossen Wirtschaftswunder kamen Leute an die Macht der Filmindustrie, die Winnetou-Filme oder ähnlichen Kram herstellten. Sie verdienten zwar furchtbar viel Geld, aber den deutschen Film haben sie damit getötet. Heute gibt es ihn kaum mehr. Dass dies in einem Land passierte, wo die Geschichten auf der Strassen liegen, ist unfassbar.

Sind Sie nicht einfach auch wütend? Sie selbst haben plötzlich keine Rollen mehr bekommen …
Knef: Keine bekommen? Ich wollte keine mehr.

Warum?
Knef: Es hat mich nicht mehr interessiert, was man in Deutschland drehte.

Dazu wurden Sie im Laufe Ihrer Karriere oft betrogen.
Knef: Ich musste immer jemanden einsetzen, der mein Geld verwaltete. Einer meiner Duzfreunde haute mit meinen ganzen Filmgagen nach Venezuela ab.

Trauern Sie dem Geld nach?
Knef: Ja, manchmal schon. Das ist mir ein paarmal zuviel passiert, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.

Sie könnten von den Tantiemen leben, dennoch arbeiten Sie weiter. Wann setzt sich die Knef zur Ruhe?
Knef: Was heisst denn «zur Ruhe setzen»? Das ist doch so ein Beamtendenken. Was bleibt dann noch? Dann verfällt doch wirklich alles inklusive der paar grauen Zellen, die mir da oben noch geblieben sind. Sehen Sie, mein Freund Henry Miller hat mich noch mit 72 Jahren mit einer Gauloise im Mund derart deutlich im Tischtennis geschlagen, dass ich heute noch weine. �