Der Rhythmus des bellenden Ballermanns

Der französische Jungregisseur Mathieu Kassovitz verbindet seine Filme nach Spike Lees Vorbild mit den Rhythmen der Hip-Hop-Kultur.

Von Peter Hossli

Gekleidet in weite Shorts, die Baseballkappe nach hinten gedreht, radelt Felix auf seinem wackligen Rennrad durch die Strassen von Paris. Bald trifft er Lola, eine 18jährige Mulattin aus der Karibik, die wechselweise ihn und einen afrikanischen Jus-Studenten unter ihre wärmende Bettdecke nimmt. Unterlegt ist die verwegen geschnittene Eingangsszene des Films «Métisse» von einem ruhelosen Hip-Hop-Beat. Der Soundtrack, bestehend aus französischem und amerikanischem Rap, bestimmt Rhythmus und Stimmung in Mathieu Kassovitz’ Erstling weit mehr als die vertraute Story.

Felix, der weisse Velokurier mit dem Outfit eines Homeboys aus der Bronx, ist der kinematografische Cousin von Mars Blackmun, Lola das französische Faksimile von Nola Darling. Miles und Nola sind Charaktere aus Spike Lees «She’s Gotta Have It» (1986).

Spike Lees Filme, «Malcolm X» etwa, sind Pendant und Vorbild: Seit einiger Zeit schwappt der Einfluss des schwarzen Regisseurs und der schwarzen Musik von der amerikanischen Ostküste nach Europa – zumindest in die Pariser Banlieue, jene tristen und architektonisch verschandelten Vororte von Frankreichs Hauptstadt. Dort erleben der Rap und die von ihm inspirierten Filme derzeit eine unverhoffte Hochblüte.

Gleichzeitig mit «Métisse» kommt ein zweiter Film von Mathieu Kassovitz, «La Haine», in unsere Kino-Säle. Der 28jährige ist der grosse Hoffnungsträger des neuen, vom leidigen Fille-et-garçon-Muster befreiten französischen Kinos. Die Wurzeln seiner Filme liegen im Schaffen Spike Lees, deren Energie und filmischer Stil entstammen dem Umfeld der Rap-Musik.

Wie eine Bombe schlug Kassovitz’ zweite Regiearbeit in Frankreich ein. Seit Anfang Juni verursacht «La Haine» an den Kinokassen von Paris, Marseille und Lyon lange Schlangen. Seiner hasserfüllten Figuren wegen entfachte der Film heftige Diskussionen über das Befinden der französischen Jugend, die sich längst nicht mehr mit intellektuellem Debattieren, sondern mit lauter Musik und nackter Gewalt von der politischen Obrigkeit zu emanzipieren versucht.

Am diesjährigen Filmfestival von Cannes wurde der in schlichtem Schwarzweiss gehaltene «La Haine» mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Alles andere als schlicht ist der explosive Inhalt, sind die hypercoolen Figuren, die Kassovitz in der matten Betonwüste Cité Les Muguets inszeniert, der «Maiglöckchensiedlung» 30 Kilometer vom Arc de Triomphe entfernt. Der Araber Saïd und der Westafrikaner Hubert ziehen zusammen mit dem französischen Juden Vinz während 24 Stunden durch eine der vielen heruntergekommenen Vorstädte.

Die grauen Wohnsilos heissen dort HLM: Hébergement à loyer modéré – das Wohnen ist dank Sozialstaat spottbillig. Billig geworden sind auch die Menschenleben. Blindlings schiessen Polizisten während endlosen Strassenschlachten auf wehrlose Jugendliche, vornehmlich dunkle Immigranten aus Nordafrika.

Gewalt evoziert Gewalt evoziert Gewalt. Vinz rüstet auf und steckt sich in den Hosenbund seiner engen Jeans stolz eine 44er-Smith & Wesson, eine Waffe, die einem Polizisten verlorengegangen ist. Vinz schwört, mit dem fremden Revolver jenen Flic zu töten, der bei einer Demonstration seinen Freund Abdel lebensgefährlich verletzte.

Die schwelenden Rassenkonflikte, der unkontrollierbar gewordene Ausbruch der Gewalt, die Ghettokultur, die stilisierte Ästhetik der Kamera, vor allem aber die ultraschnelle Sprache der Figuren und die verzerrten Sätze von «La Haine» erinnern unweigerlich an Spike Lees «Do the Right Thing» (1989). An jenen Film, der den Rap und das Kino erstmals für ein breites Publikum vereinte und noch immer als bedeutendster Hip-Hop-Film gilt. Kassovitz verehrt dieses Werk.

Verheimlichen möchte er seine Begeisterung für die afroamerikanische Kultur und deren Kino keineswegs. Seine beiden Filme sind voller Einblicke in die schwarze Populärkultur, die in den letzten fünf Jahren von den Strassen in Harlem oder South Central Los Angeles in die Randbezirke von Paris vorgedrungen ist. Rastazöpfchen und grelle Graffiti ersetzen Baguette und Café au lait.

Ausgelöst wurden «La Haine» wie «Do the Right Thing» von realen Gegebenheiten, kaltblütigen Hinrichtungen durch die Polizei. Bei «La Haine» war es der 18jährige Afrikaner Makome, der 1992 von einen Gendarmen erschossen wurde, bei «Do the Right Thing» ein schwarzer Teenager aus dem Brooklyner Stadtviertel Bed-Stuyvesant. Ein Cop streckte ihn 1987 mit seinem Revolver nieder. Während «La Haine» noch Frankreichs Kinos füllte, überrollte die Realität Ende September die Fiktion: Am Fernsehen konnte die Grande Nation verfolgen, wie der 24jährige Algerier Khaled Kelkal in Lyon erschossen wurde. Seit der Sklaverei verstehen die Schwarzen Amerikas ihre Musik als Aufschrei gegen solcherlei Gewaltausfälle. Mit dem anwachsenden Rassismus und der Gewalt gegen die afrikanische Bevölkerung ist die schwarze Musik auch in Frankreich zum Medium des lauten Widerstands geworden. Als Ventil ist Hip-Hop der Blues unserer Tage.

Dass sich dies zusehends besser vermarkten lässt, beweist ein Hip-Hop-Sampler, der zu Kassovitz’ Film erschienen ist. Inspiriert an den Hauptfiguren von «La Haine» und deren Dialogen, bespielten die bekanntesten französischen Rap-Stars auf Kassovitz’ Geheiss eigens eine CD, die sich an der Radikalität des Films entzündet, von dem es keinen eigentlichen Soundtrack gab: «Musique inspirées du film», wirbt das Plattencover. Es erinnert an das plakative Poster zu Spike Lees «Malcolm X». Während Wochen stand die CD an erster Stelle der französischen Pop-Charts.

Ein gutes Dutzend Pariser Rapper wie MC Solaar, Ministère Amer, FFF oder die Lausanner Gruppe Sens Unik überraschen auf dem «La Haine»-Kompilat mit Hip-Hop-Raps voller Hass und der festen Entschlossenheit, die Brutalität der Staatsgewalt mit der Waffe des gerappten Wortes anzuklagen: «Die Polizei hat unsere Kinder getötet/Die Justiz hat nicht das Urteil gesprochen/Deshalb hassen wir das System», rappt die Gruppe Assassin. Und Raggasonic rufen offen zum Gewaltakt auf: «Du hast Deine Waffe, Du hast keine Waffe/Wenn Du sie nicht bei Dir hast, lass Dich nicht erwischen/Sterben oder Sterben lassen, das ist die Frage, die Du Dir stellen musst.» Und MC Solaar, ansonsten eher ein verhalten-poetischer Texter, vergleicht das Vorgehen der französischen Polizei gar mit demjenigen der SS: «Eine Kugel im Bauch, ein Mann ist tot/Der SS-Hess lässt seine Gestapo brutal zuschlagen.»

Solcher Klartext ist ungewohnt, zumal von Szenenvater Solaar. Für einmal liessen sich die ansonsten eigenständigen Franko-Rapper vom afroamerikanischen Gangsta-Rap inspirieren. Dieser verherrlicht die Gewalt und fungiert seit Beginn der achtziger Jahre als Sprachrohr der desillusionierten schwarzen Jugend Harlems oder South Chicagos.

Die Regierungen von Staat und Stadt, das verdeutlichen Film wie Platte, scheren sich kaum um die Jugendlichen in der Banlieue. Deren soziale Probleme, deren verlorengeglaubte Suche nach einem Auffangnetz sind ihnen egal. Als Antwort schieben sie robuste Beamte vor, vermummt in protzige Kampfmontur.

Antworten hat auch Regisseur Kassovitz keine. Lieber lässt er rappen oder Geschichten erzählen. Am Schluss von «La Haine» ertönt aus dem Off leise eine Parabel: «Dies ist die Story eines Mannes, der von einem fünfzigstöckigen Gebäude fällt. Im Fallen wiederholt er, um sich zu beruhigen, ununterbrochen: «Bis hierhin ging alles gut, bis hierhin ging alles gut …». Aber das Entscheidende ist nicht der Fall, das Entscheidende ist die Landung.»

Ein Polizist und Vinz richten ihre geladenen Waffen aufeinander. Die Leinwand wird schwarz. Beide drücken ab.

Chronologie der Hip-Hop-Filme

Am Anfang war Bessie Smiths St. Louis Blues

«St. Louis Blues», 1929, Regie: Dudley Murphy, mit Bessie Smith.
Der erste Film, der zur Lancierung einer Platte gedreht wurde. Zu sehen und zu hören ist die legendäre Bessie Smith, die ihren «St.Louis Blues» singt.

«Station of the Elevated», 1980, Regie: Manny Kirchheimer. Blick auf die bizarre Schönheit Graffiti-bedeckter U-Bahn-Züge. Musik von Charles Mingus.

«Wild Style», 1982, Regie: Charlie Ahearn.
Graffiti-Film, mit Rapmusik von den DJs Grand Master Flash, Grand Wizard Theodore, Grand Master Caz und The Cold Crush.

«Do the Right Thing», 1989, Regie: Spike Lee. Die explosive Tonspur, gerappt von Public Enemy, EU und Perry, verleiht dem Film ungemeine Sprengkraft.

«New Jack City», 1991, Regie: Mario Van Peebles. Brutaler Gangsterfilm mit der Musik von Ice-T, Niggers with Attitudes und Queen Latifah.

«Boyz N the Hood», 1991, Regie: John Singleton. Allzu didaktischer Film über die Ghettokultur an der Westküste.

«Juice», 1992, Regie: Ernest Dickerson. Spike Lees Kameramann drehte eine hintergründige Abhandlung über Gewalt und Respekt im Ghetto. Musik: Queen Latifah, Cindy Herron.

«South Central», 1993, Regie: Steve Anderson. Gewalt und Kriminalität an der Westküste. Musik: Tim Truman.

«Sud», 1993, Regie: Gabriele Salvatores. Die Bedeutung dieses Mafia-Dramas liegt in dessen Soundtrack. Mit Ethno-Raps von Hip-Hop-Stars wie Bisca 99 Posse und Papa Ricky löste der Film in Italien eine der fruchtbarsten Rapszenen Europas aus.

«Darker Side of Black», 1994, Regie: Isaac Julien. Kritischer Dokumentarfilm über Gewalt und Sexismus im Rap.

«I like it like that», 1994, Regie: Darnell Martin. Latino- und afroamerikanische Musik und Kultur vermischen sich in der Bronx. Musik: Sergio George.