Von Peter Hossli
Als Marc Wehrlin am vergangenen 31. August die Tageszeitungen durchblätterte, stiess der neue Chef der Sektion Film im Bundesamt für Kultur in einer welschen Postille auf ein ganzseitiges Inserat, das ihn irritierte.
Unter dem Titel «A propos de la Cinémathèque Suisse» las Wehrlin eine von mehr oder weniger notablen Kulturschaffenden unterzeichnete Aufforderung, die «mit Liebe und Geduld gesammelten Reichtümer» des nationalen Filmarchives in Lausanne dürften «nicht in die Hände wenig kompetenter Leute» fallen. Für den Architekten Mario Botta oder die Filmregisseure Jean-Luc Godard, Daniel Schmid und Alain Tanner sei es «inakzeptabel und zutiefst unmoralisch, wenn einige Personen, die nicht vom Fach sind, im verborgenen agieren», um dem Gründer und langjährigen Direktor der Cinémathèque, Freddy Buache, das «Recht zu verwehren, selber seinen Nachfolger zu bestimmen».
Das Inserat (Wehrlin: «Eine Erpressung») war bloss der Höhepunkt eines langwierigen und von Intrigen begleiteten Gerangels um die Nachfolge Buaches, 71, der schon seit 48 Jahren das schweizerische Filmarchiv im Stile eines alleinherrschenden Patrons leitet.
Wehrlin wollte umgehend wissen, wer hinter der Aktion steht. Er wurde schnell fündig. Bernhard Uhlmann, Buache-Stellvertreter und aussichtsreichster Kandidat für dessen Nachfolge, beschied ihm, Buache selbst sei auf die Idee gekommen. Den Text verfasste Godard. «Und wer hat die Unterschriften gesammelt?» fragte Wehrlin. «Etwa Sie selbst?» Uhlmann antwortete mit einem zaghaften Ja und ahnte, dass er dieser Naivität wegen wohl auf das Erbe Buaches verzichten muss.
Im Frühling dieses Jahres kündete Buache an, er werde auf Ende 1995 seinen Platz als Direktor nun definitiv räumen. Obwohl mit Uhlmann die Nachfolgefrage bereits seit dessen Wechsel vom Filmpodium der Stadt Zürich nach Lausanne geregelt schien, schrieb die Fondation Cinémathèque Suisse die Stelle ordnungsgemäss aus. Bis Anfang September sollte eine sechsköpfige Kommission dem Stiftungsrat einen Kandidaten vorgeschlagen haben, der fähig sein müsse, die Cinémathèque endlich zu modernisieren und von ihren notorischen Finanzproblemen zu befreien.
Nachdem die Wahl vom 12. September wegen einer Hospitalisierung Buaches verschoben wurde, trifft sich der Stiftungsrat erneut am 23. Oktober.
Im Rennen sind noch vier Kandidaten: Bernhard Uhlmann, Roland Cosandey, Filmhistoriker, der ehemalige Buache-Kronprinz Christian Dimitriu sowie Christian Zeender, ehemaliger Chef der Sektion Film, der seit bald drei Jahren am Sitz des Europarats in Strassburg vergeblich versucht, das Kino-Zentenarium zu koordinieren.
«Wir werden am 23. Oktober einen Vorschlag unterbreiten», sagt ein Mitglied der Kommission, «ob es aber zu einer Wahl kommt, ist eher fraglich.» Derzeit deutet alles auf eine Verlängerung von Freddy Buaches Mandat hin. Dies entspräche auch den Wünschen der beiden in ihren Positionen nur leicht variierenden Lager, die im Hintergrund agieren. Es würde aber den dringend nötigen Neuanfang in Lausanne weiterhin blockieren.
Während eine Gruppe um die Unterzeichner des Inserats Buache in Lausanne behalten und ihm nach Beruhigung der Lage die Möglichkeit geben will, seinen Adlaten Uhlmann eigenmächtig auf den Direktorenstuhl zu setzen, wehrt sich eine andere, bestehend aus welschen Politikern und Kunstschaffenden, gegen den Deutschschweizer Uhlmann. Die um die Lausanner Stadtpräsidentin Yvette Jaggi formierte zweite Fraktion möchte zwar auch, dass Buache vorderhand bleibt, erachtet Uhlmanns Leistungsausweis nach zweieinhalbjähriger Arbeit in Lausanne aber als «nicht ausreichend».
Offen bleibt die Rolle von Christian Zeender, ab 1. Januar 1996 mit Beamtenstatus arbeitslos. Zeender verhielt sich taktisch geschickt und hüllte sich nach negativen Presseberichten über seine Tätigkeit in Strassburg in Schweigen.
Als graue Eminenz, berichten Insider, ziehe die welsche Autorin Marie-Magdeleine Brumagne die Fäden. Sie ist die Ehefrau von Buache. In den vergangenen Wochen unternahm sie alles, Buache noch mindestens zwei Jahre auf dem Direktorensessel zu belassen. Brumagne schmiedet seit Beginn des Wahltheaters hinter den Kulissen Koalitionen für und gegen diverse Kandidaten. Kurz vor dem Wahltag richtete sie sich gegen die vielleicht noch aussichtsreichsten Kandidaten, Dimitriu und Cosandey.
Vor allem bei Cosandey muss Brumagne befürchten, dass er im Keller der Cinémathèque veritable Filmleichen entdeckt, über die man in Lausanne lieber andächtiges Schweigen bewahrt. Historisch bedeutende Schweizer Filme wie «Marie-Louise» oder «Heidi» seien wegen der unvorsichtigen Lagerhaltung zerstört worden. Meilensteine der Filmgeschichte gingen in Lausanne nicht bloss der notorischen Geldprobleme, sondern auch der chaotischen Zustände und der unsachgemässen Lagerung wegen sprichwörtlich vor die Hunde. Der als Pedant bekannte Filmliebhaber Cosandey, fürchtet Buache, würde die Leichen an die Oberfläche befördern und am Lack seines Denkmals kratzen.
Aus Rücksicht auf Buache wird sich der Stiftungsrat am 23. Oktober für den guteidgenössischen Kompromiss entscheiden und den bisherigen Direktor noch zwei Jahre bis zum Fünfzig-Jahre-Jubiläum der Cinémathèque in Amt und Würden belassen. Kandidaten in spe hätten auf diese Art während zweier Jahre die Gelegenheit, sich in aller Ruhe als zeitgenössisch denkende Filmarchivare ins Gespräch zu bringen.
Vier Kandidaten, ein Phantom
Roland Cosandey
Profil: Filmhistoriker und Lehrer an der Waadtländer Kunstgewerbeschule DAVI. Hat mehrere Bücher mit Schwerpunkt frühe Stummfilmzeit publiziert.
Vorteile: Verfügt über ein enormes filmhistorisches Wissen, kennt die Filmgeschichte besser als alle anderen Kandidaten. Genauer Beobachter der Entwicklung moderner Filmarchive.
Nachteile: Hat wenig Charisma. Buache mag ihn nicht.
Chancen: Nicht schlecht. Kann auf eine einflussreiche Gefolgschaft welscher Politiker zählen.
Christian Dimitriu
Profil: Hat lange Profil: Hat während mehrerer Jahre das Kino der Cinémathèque programmiert. Gute Beziehungen zur internationalen Dachorganisation der Filmarchive in Brüssel.
Vorteile: Als langjähriger Mitarbeiter von Freddy Buache kennt er das Lausanner Filmarchiv sehr gut. Beliebt bei den Angestellten der Cinémathèque.
Nachteile: Wurde zuerst von Buache als Kronprinz aufgebaut, dann wieder fallengelassen. Wollte sich ursprünglich gar nicht bewerben.
Chancen: Eine Wahl wäre eine Ohrfeige für Freddy Buache.
Bernhard Uhlmann
Profil: War lange Leiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Seit Anfang 1993 rechte Hand von Buache.
Vorteile: Favorit der Deutschschweizer. Aktueller Kronprinz von Freddy Buache. Garant für den Fortbestand der Cinémathèque im heutigen Rahmen.
Nachteile: Fährt zu sehr im Windschatten seines Ziehvaters Buache, ist daher kein Garant für die nötige Umstrukturierung der Cinémathèque. Himmelt Buache an. Hat es versäumt, sich in seiner dreijährigen Tätigkeit in Lausanne Profil zu verschaffen. Spricht für viele Welsche zuwenig gut Französisch.
Chancen: Kaum mehr. Hat sich mit Inserat selbst diskreditiert.
Christian Zeender
Profil: Wechselte vom Posten des Chefs der Sektion Film des BAK mit der Hoffnung auf den Direktorenstuhl in Lausanne auf eine Warteschlaufe nach Strassburg. Dort versuchte er, die Arbeitsgruppe «Centenaire du Cinéma» zu koordinieren. Gilt als Mischler.
Vorteile: Hat keine Probleme mit Buache. Im Vorfeld hielt er sich taktisch geschickt zurück. Das BAK wäre froh, den arbeitslosen Beamten in die Cinémathèque zu loben.
Nachteile: Hat während dreier Jahre in Strassburg nichts Zählbares zustande gebracht. Mit ihm würde die Cinémathèque zum Politikum. Machtverliebt.
Chancen: Für einige der Geheimfavorit.
Der Wunschkandidat
Profil: Lebt in der Deutschschweiz, spricht akzentfrei Französisch und ist fähig, aus einem traditionellen Filmarchiv ein modern funktionierendes Filmmuseum zu schaffen. Weiss, wie man aus einer Filmsammlung ein Archiv aufbaut, das Filme konserviert und der Öffentlichkeit zugänglich macht. Verfügt über gute Beziehungen zu Politik, Kultur und Wirtschaft. Ist gleichzeitig charismatischer Repräsentant und fundierter Kenner der Filmgeschichte.
Vorteile: Hat zwei Jahre Zeit, sich in aller Ruhe in den Vordergrund zu drängen.
Chancen: Hervorragend, aber erst in zwei Jahren.
Was ist die Cinémathèque?
1948 gründete der Cinéphile Freddy Buache im Alter von 29 Jahren mit neun Sinnesgenossen in Lausanne das eidgenössische Filmarchiv. Die Hauptaufgabe der Cinémathèque liegt im Konservieren und Restaurieren ausgewählter Werke der Filmgeschichte. Gleichzeitig soll sie als Gedächtnis des schweizerischen Filmschaffens agieren und Schützenswertes von eidgenössischen Filmregisseuren behüten. Das Budget der notorisch unter Geld- und Platzmangel leidenden Cinémathèque belief sich 1994 auf 3 127 915 Franken, wobei der Bund 1 247 400, der Kanton Waadt 400 000 und die Stadt Lausanne 460 000 aufbrachten. Eine Million Franken erwirtschaftete das Filmarchiv selbst