Von Peter Hossli
«Vertrau mir. Du wirst bestimmt keinen Schmerz spüren. Ich liebe Dich.» Es sind immer dieselben, bedeutungslos gewordenen Worte, die der 17jährige Telly stammelt, wenn er im Sinn hat, ein Mädchen zu entjungfern.
In seinem Regiedebüt «Kids» pervertiert der US-Fotograf Larry Clark das zelluloide Weltbild Hollywoods gänzlich. Als sei es ein Endlosband, führt uns das amerikanische Kino nahezu unaufhörlich vor, dass Vertrauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie Liebe ein erbauliches Klima kreieren, in dem sich alles zum Guten wendet. Jeder Film kommt einer Heilssuche gleich, das obligate Happy-End wird zur stets wiederkehrenden Katharsis.
Der Plot von Clarks semidokumentarischer Chronik eines heissen Sommertags im Leben einer Gruppe Jugendlicher in Manhattan ist das pure Gegenteil der moralischen Zurechtweisung des gängigen Kinos. Von der ewigwährenden Liebe möchte Telly nämlich gar nichts wissen. Statt dessen sammelt der Halbstarke Jungfrauen, als seien es Jagdtrophäen hoffnungsloser Streifzüge durch den Moloch einer ihm fremd gewordenen Metropole.
Am Filmfestival von Cannes entfachte «Kids» eine scharfe Kontroverse. Die Gilde der Kritiker war gespalten. Für die einen ist Clarks Film ein Meisterwerk, für die andern nur sensationslüstern. Das «New York»-Magazin hievte den Film auf die Frontseite, für die «New York Times» ist «Kids» schon vor dem US-Start Mitte Juli «der wichtigste Film des Jahres».
Die weltweiten Rechte von «Kids» gehören der New Yorker Produktions- und Verleihfirma Miramax, die den Film in den USA vertreiben soll. Dass dies kein leichtes Unterfangen wird, hängt vor allem mit dem Mutterhaus von Miramax zusammen. Dieses heisst seit zwei Jahren Disney und portiert ein Bild von Kindern, das mit Larry Clarks «Kids» nicht das geringste gemein hat.
Missfallen an «Kids» hat den Disney-Studiobossen vor allem der direkte und unprätentiöse Umgang mit Aids. Jennie erfährt früh morgens, dass sie HIV-positiv ist. Geschlafen hat die 16jährige nur mit Telly. Am Abend, nach einem langen Nachmittag mit viel Alkohol, Hasch und endlosen Gesprächen über Drogen und Sex, defloriert Telly ein weiteres Opfer. Jennie, obwohl zur rechten Zeit am richtigen Ort, stoppt ihn nicht. Es ist ihr egal.
Sexualität und sexuelle Ausbeutung unter Teenagern, hemmungslos offene Diskussionen über Drogen oder die Darstellung unverantwort lichen Handelns passen nicht ins Konzept des Heile welt apostels Mickey Mouse. Sollte die Altersbegrenzung von «Kids» auf 17 Jahre zu liegen kommen, wird sich Disney gar weigern, den Film zu lancieren. Gefordert hat Disney zudem die Änderung des angeblich irreführenden Titels.
Miramax, die wichtigste US-Produktionsfirma unabhängiger Filme, hat bereits «Pulp Fiction» und «Priest» mit kontroversen Werbestrategien erfolgreich vermarktet. Miramax soll «Kids» nun gekauft haben, um sich von Disney zu lösen. Im Hintergrund wartet nämlich Dream Works, das von Steven Spielberg im letzten Oktober gegründete Hollywoodstudio. Dort wäre der bei Miramax unter Vertrag stehende Talentschuppen – Quentin Tarentino, Robert Rodriguez, Uma Thurman oder Gus Van Sant – eine willkommene Bereicherung. Disney verlöre eine wichtige Einnahmequelle, was sich angesichts des finanziellen Erfolgs kleinerer Filme in naher Zukunft als äusserst schmerzhaft erweisen könnte.
Gestört haben sich die Moralhüter von Disney an der zutiefst subversiven Kraft, die Clarks Film zugrunde liegt. Denn «Kids» erschüttert die Konventionen nicht mit stilisierter Gewalt oder hypercoolen Teens und Twens, sondern mit packendem Naturalismus.
Illusionslose Jugendliche wie Telly oder Jennie leben in New York, Los Angeles, aber auch in Louisville und Portland. Hier wird nicht die oberflächliche Nullbockgeneration X aus «Reality Bites» zelebriert. «Kids» erzählt von Habe- und Seinnichtsen, die sogar um den kleinen Rest Menschlichkeit, den sie noch besitzen, bangen müssen.
Oder wie Telly in letzter Konsequenz am Schluss eines Films ohne Errettung sagt: «Ich habe nur noch eines: «Fucking». Wenn ihr mir dies noch nehmt, bin ich verloren.»�