Von Peter Hossli
Vergesst die Formel E=mc2! Albert Einsteins Relativitätstheorie war zwar bahnbrechend. Doch nicht dafür soll der ehemalige Student der ETH Zürich der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Sondern weil er einen Hang zum Romantischen hatte. So zumindest sieht Regisseur Fred Schepisi Einstein in seinem neuen Film «I. Q.».
Einstein, so erfahren wir ab dieser Woche im Kino, interessiert sich weniger für physikalische, dafür um so mehr für zwischenmenschliche Reaktionen. Kein Mittel ist dem Nobelpreisträger zu billig, um seine Nichte mit einem Automechaniker zu verbandeln.
Das Strickmuster kommt Kinogängern sehr bekannt vor. Je dümmer, desto besser, heisst die aktuelle Parole des Filmgewerbes. Der hohe Intelligenzquotient ist verpönt, es lebe der Flachsinn.
Ein Einstein, so prophezeite auch der Rektor dem Schüler Forrest Gump im gleichnamigen Erfolgsfilm, könne er nie werden. Zu tief war sein Intelligenzquo tient. Die kurzen und seit Geburt in Schienen gelegten Beine könnten wohl gestreckt werden, der Verstand jedoch, diagnostizierte sein Arzt, sei unwiderruflich zurückgeblieben.
Trotzdem hat Forrest Gump in seinem späteren Leben das erreicht, was profan als «amerikanischer Traum» bezeichnet wird: Er war gefeierter Footballstar mit akademischem Titel und mit Orden dekorierter Kriegsheld, Investor in eine florierende amerikanische Computerfirma, Pingpong-Gross meister, Guru der einsamen Lang streckenläufer, gerngesehener Gast in Fernseh-Talk-Shows oder im Oval Office des Weissen Hauses in Washington .
Die simple Lehre daraus: Wissen spielt bezüglich des oft schmalen Grats zwischen grossem Erfolg und kläglichem Scheitern keine Rolle – Hauptsache, man verhält sich immer gutmütig, liebenswürdig und anpassungsfähig, ist lustig, aber ignorant.
«Den Vollidioten erkennt man eben dar an, dass er durch nichts aus der Fassung zu bringen ist. Er ist stets bereit, sich über das eine Meinung zu bilden, was er nicht versteht, und unfehlbar über das zu urteilen, was er nicht weiss», meinte der französische Philosoph André Glucksmann bereits 1985. Und die Dummheit sei zu einer «Weltmacht» geworden.
Dieser Weltmacht nimmt sich Holly wood, die Welthauptstadt der bewegten Träume auf Zelluloid, in jüngster Zeit öfter an. So verbindet das amerikanische Kino in einer Reihe harmloser Filme, die vorwiegend das erwachsene Publikum ansprechen sollen, Tugendhaftigkeit mit dem Mangel an Intelligenz, Erfolg und Glück in der Liebe mit der Unfähigkeit zum selbständigen Handeln.
In dem vergangene Woche mehrfach oscarpreisgekrönten «Forrest Gump» von Robert Zemeckis ist es ein lieber Tor, der dank seines zahmen, unschuldigen Gemüts alles erreicht, wovon unsereins nur zu träumen wagt. Ein Film, in dem Dummheit durch Liebenswürdigkeit aufgehoben und der gänzlich aus der Perspektive des Dummen selbst erzählt wird. Die von Jodie Foster gespielte wilde Wolfsfrau in Michael Apteds Naturepos «Nell» verkörpert die Unschuld der unberührten Natur. In «I. Q.» werden nicht die geistigen Höchstleistungen Albert Einsteins, sondern dessen Hang zum Amourösen gefeiert.
Der ebenfalls in diesen Tagen anlaufende Film «Dumb and Dumber» macht sich dagegen mit dumpfem Schenkelklopfhumor über die sich ernst nehmenden Dummenfilme lustig.
Dass mit Filmen, in denen die Dummen im Zentrum stehen und Erfolge verbuchen, reichlich Geld zu verdienen ist, zeigen die Einspielergebnisse.
«Dumb and Dumber» spielte weit über 120 Millionen Dollar ein. «The Brady Bunch» und «Billy Madison», zwei weitere Filme mit Dummköpfen als Aufhänger dummer Geschichten, die noch diesen Sommer in unsere Lichtspielhäuser kommen, standen in den USA während Wochen an der Spitze der Rangliste verkaufter Eintrittskarten. «Nell» läuft in den Schweizer Kinos äusserst erfolgreich. «Forrest Gump» spielte in den USA über 310, weltweit über 500 Millionen Dollar ein. In der ewigen Rangliste steht Robert Zemeckis’ Film schon auf dem fünften Platz. Forrest Gump ist somit der einträglichste Einfältige der Filmgeschichte.
Das ist nicht verwunderlich in einer Zeit, in der die Welt komplexer, die Technologie undurchschaubarer ist und sich der einzelne zusehends verloren fühlt. Denn schon von jeher ist Holly wood der Seismograph der amerikanischen Gesellschaft. Die gescheiten Köpfe der Filmmetropole wissen oft vor den Redaktoren der renommierten Ostküstenblätter über die Befindlichkeit und die Lage der Nation Bescheid. Die Filmindustrie überlässt nichts dem Zufall und versucht, wenn immer möglich das Publikum mit Geschichten in die Kinos zu locken, in denen es versinken und die Tristesse des Alltags vergessen kann.
Jetzt haben die Produzenten der grossen Studios in der Gemütslage Amerikas eine neokonservative Renaissance des Antiintellektualismus aufgespürt.
Der Begriff des Antiintellektualismus trat in den USA erstmals während der McCarthy-Ära der fünfziger Jahre ins öffentliche Bewusstsein. Im Zuge der Kommunistenhatz herrschte ein Klima, in dem kritische Geister als eine Gefahr dargestellt wurden. Nach dem Wahlerfolg von General Dwight D. Eisenhower stellte das Wochenmagazin «Time» fest, dieser Sieg zeige, dass «eine grosse und äusserst ungesunde Lücke zwischen dem intellektuellen Amerika und dem Volk» bestehe. Zu Beginn der sechziger Jahre bezeichnete der Historiker Richard Hofstadter den Antiintellektualismus als «tief gründiges Misstrauen dem Leben und dem Geist sowie jenen Menschen gegenüber, die beides repräsentieren».
Gekoppelt ist die antiintellektuelle Haltung in Filmen wie «Nell», «Forrest Gump» oder «I. Q.» immer mit einer Abscheu und einer tiefverwurzelten Angst vor der rasanten technologischen Entwicklung, die das tägliche Leben jedes einzelnen stets aufs neue umgestaltet. Wer da nicht mehr mithalten kann oder gar tiefsitzende Angst davor verspürt, ist froh, wenn er sich im Kino mit Helden identifizieren kann, die den Mangel an Wissen mit einem guten Herzen und ihrer Liebenswürdigkeit wettzumachen verstehen.
Kinobesucher fühlen sich beim Anblick der ursprünglich-naiven und kindlich-unwissenden Nell, die nicht Auto fahren kann und ganz ohne Telefon, elektrischen Strom und warmes Wasser auskommt, plötzlich sicher. Der Film bestätigt ihre Vorbehalte gegenüber den anonymen elektronischen Daten auto bahnen, die immer mehr ihr Leben beeinflussen.
Die konservative Haltung der Dummenfilme versetzt die Zuschauer in jenen gesell schaft lichen Anachronismus zu rück, an den sie sich gewöhnt haben und von dem sie sich nur schwer lösen können. So reproduziert «Forrest Gump» mit grossem Erfolg jene Stereotypen afroamerikanischer und asiatischer Menschen, die seit Beginn des Kinos über US-amerikanische Leinwände geistern.
Filme, die auf die mensch liche Intelligenz vertrauen, haben es schwieriger. Frank Darabonts hervorragendes Gefängnisdrama «The Shawshank Redemption» war finanziell ein Flop. Auch «Quiz Show», Robert Redfords gescheite Obduktion des ersten gros sen Skandals in der Fernsehgeschichte Amerikas, geriet an der Kinokasse zum De sa ster. Vertreter der Film industrie haben eine simple Erklärung: Solche Filme seien für das grosse Publikum zu intellektuell. Während Redford einen komplexen Aspekt der jüngeren amerikanischen Geschichte, nämlich den Verlust des Vertrauens ins Fernsehen, plausibel aufarbeitet, versperren sich die Dummenfilme der Historie.
Der Idiot Forrest Gump hat während seiner Reise durch Raum und Zeit keinerlei Schwierigkeiten mit der neueren amerikanischen Geschichte. Deren Komplexität wird durch den Einfalts pinsel Forrest und seinem Gumpismus «stupid is as stupid does» derart vereinfachend und somit für viele überzeugend dargestellt, dass sie auch von jemandem verstanden wird, der nicht lesen oder schreiben kann, ein funktionaler An alpha bet ist. Und das sind in den USA immerhin 20 Prozent der Erwachsenen.
Der rassistische Ku-Klux-Klan ist in «Forrest Gump»eine Bande berittener Clowns. Die Feinde im Vietnamkrieg heissen alle Charlie und bleiben unsichtbar. Die Watergate-Affäre, nach dem Krieg in Südostasien wohl jenes politische Ereignis, das die Nation am meisten aufwühlte, wird zur zufällig vom Tölpel Gump ausgelösten Banalität. Die Bürgerrechtsbewegung der afroamerikanischen Gemeinschaft spiegelt sich in einer wilden Bande Schwarzer Panther, die den zahmen Forrest aus dem Vereinslokal werfen. Der Film verabreicht revisionistische Geschichtsschreibung in homöopathischen Dosen.
«Forrest Gump» reiht sich ein in die lange antiintellektuelle Tradition der US-ame rikanischen Literatur und des Kinos. Sie wird in regelmässigen Abständen wiederbelebt. Die kürzlich in den hiesigen Kinos angelaufene Verfilmung von Rudyard Kiplings «The Jungle Book» gehört genauso dazu wie die verschiedenen Formen des Tarzan-Mythos, in welchem sich der von der modernen Zivilisation isoliert Aufgewachsene stets als der moralisch Konstantere erweist.
Obwohl Jodie Fosters Stimme derjenigen von «Tarzan» Johnny Weissmüller in manchem nachsteht – sie flüstert in der Nacht, er schreit im Wald -, orientiert sich «Nell» stark an den Tarzan-Filmen früherer Tage. Die unbehelligte Tugend der Wolfsfrau rührt von ihrer jahrelangen Isolation in der Abgeschiedenheit der Bergwelt North Carolinas her. Den Kampf zwischen dem Doktor, der Nell in ihrem exotischen Urdasein belassen will, und der Psychologin, die Nell zu Forschungszwecken der Wissenschaft zuführen möchte, gewinnt – wie könnte es anders sein – der Doktor.
Am Schluss des Films holt Nell in einer Rede vor dem hohen Gericht zum Rundumschlag gegen die Zivilisation als vermeintliches Grundübel unserer Welt aus und predigt ihr einfaches Leben: «Ihr habt grosse Dinge, aber ihr schaut einander nicht in die Augen.» Die Welt, so die Grundhaltung «Nells», ist voll mit überbildeten Lackaffen, die das Ursprüngliche zu zerstören drohen. Bestätigt finden sich all jene, die nicht über den notwendigen Wissensschatz verfügen oder sich aus Furcht vor Auseinandersetzung allem versperren, was unaufhörlich auf sie zukommt. Dabei merken sie nicht, dass sie sich so bloss instrumentalisieren lassen. Jene selbstauferlegte Unmündigkeit, von der wir uns seit der Aufklärung befreit glaubten, wird im Kino zur Tugend.
In der Einstein-Farce «I. Q.» wird die Intelligenz erst dann zum Problem, wenn sie der Liebe im Weg steht. Ed Walters (Tim Robbins), der Automechaniker aus Princeton, liest populärwissenschaftliche Magazine und ist – alles verhält sich ja relativ – nur in Relation zu Albert Einstein (Walter Matthau) unwissend. Einstein selbst sorgt sich um seine Nichte Catherine (Meg Ryan), ihrerseits blitzgescheite Mathematikerin, die unter allen Umständen das I.-Q.-Äquivalent ihres Onkels heiraten möchte. Auf seinen Kopf zeigend meint der Relativitätstheoretiker: «Sie ist hier zu gescheit, aber nicht hier», wobei er auf das Herz deutet. Dem Verstand, so die Botschaft des süffisant inszenierten Films, sei eine gehörige Portion Miss trauen entgegenzuhalten.
Auf die Frage, ob es denn extra terrestrische Intelligenz gäbe, meint in «I. Q.» der junge Ed, man soll die Intelligenz zuerst auf dem Planeten Erde suchen, bis anhin hätte er sie dort nicht gefunden. Albert Einstein nickt zustimmend. Und der von Selbstzweifeln geplagte Zuschauer fühlt sich in seiner Auffassung bestätigt.
Das US-Magazin «Time» fragte besorgt, ob wir uns nach all den Dummenfilmen, die bereits liefen oder in diesem Jahr noch laufen werden, «auf das Ende der abendländischen Zivilisation» zu bewegten. Wohl kaum. Obwohl sich in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen der USA zurzeit eine extrem konservative Form des Anti intellektualismus lautstark bemerkbar macht.