Begegnungen 2008

Journalistische Geschichten sind gut, wenn sie aktuelle Themen mit Menschen plausibel darstellen. Möglich werden solche Geschichten durch persönliche Begegnungen. Als Reporter bin ich jenen Menschen zu grossem Dank verpflichtet, die mir Zeit geben und Fragen beantworten. Eine Auswahl von Begegnungen im Jahr 2008:

Pizza mit Dennis Kozlowski

koz.jpgMit dem einstigen CEO von Tyco ass ich im Gefängnis Pizza und belegte Brote. Dennis Kozlowski sitzt eine Haftstrafe von 8 bis 25 Jahren ab, weil er dem Konzern rund 400 Millionen Dollar unterschlagen hat. Zwar beteuert er seine Unschuld. Dennoch wirkt er gebrochen. «Was essen denn Sie?», fragte der einstige Top-Manager beim Bestellen des Lunches. Er hoffte, der Reporter würde ihm die Entscheidung abnehmen. «Ein Sandwich mit gegrilltem Huhn.» «Okay, das nehme ich auch», sagte Kozlowski. «Wollen Sie noch einen Salat?», fragte Charly Kurz, der Fotograf, der eine Pizza bestellte. «Ja, gerne, ich kriege ja sonst kaum Vitamine.» Kozlowski lebt in einer Einzelzelle, die zwei Meter breit und drei Meter lang ist. «Jeder Tag sieht genau gleich aus.» Um 6 Uhr steht er auf. Um 6.30 Uhr geht er in die Wäscherei, wo er arbeitet. Pro Woche verdient er 2 Dollar und 67 Cents. Einst waren es Hunderte von Millionen Dollar im Jahr.

Frühstück mit Tonya Harding

tonya.jpgEiskunstläuferin Tonya Harding, 38, wurde zweimal amerikanische Meisterin und war Vizeweltmeisterin. 1994 heuerte ihr Ex-Mann einen Schläger an, um vor den olympischen Spielen in Lillehammer Konkurrentin Nancy Kerrigan mit einer Eisenstange am Knie zu verletzen. Harding, die bis heute behauptet, nichts von der Attacke gewusst zu haben, stürzte ab. Sie begann zu boxen, schlug sich mit Clintons Ex-Geliebten Paula Jones, wurde öfters verhaftet. Nun hat sie ein Buch publiziert, in dem sie über ihr von Missbrauch geprägtes Leben redet. Sie wohnt in Vancouver im US-Bundesstaat Washington. Im Herbst 2007 fragte ich sie erstmals an, ob ich sie mir ein Interview geben würde. Sie verlangte Geld, worauf ich absagte. Ende November 2008 fragte ich nochmals an. Sie stimmt zu, unter der Bedingung, ich würde ihr ein Schnapsglas, Schokolade und eine Baseball-Kappe mit Schweizer Kreuz bringen. Sie empfing mich in einem Hotel, war offen, witzig, smart und freundlich. Traurig ist die Geschichte, die sie erzählt. «Nie», sagte sie, «wurde ich geliebt.»

In der Zeltstadt

tent.jpgAuf dem Weg nach Ontario in Kalifornien verlor Delta Airlines meinen Koffer. Zwei Tage lang stampfte ich in denselben Kleidern durch Camp Hope, einer staubigen Zeltstadt ausserhalb von Los Angeles. Es ist der augenscheinlichste Ort der horrenden Immobilienkrise Amerikas. Zeitweise 600 Menschen lebten unweit des Flughafens von Ontario. Viele von ihnen verloren wegen der Subprime-Krise ihr Haus. Sie hausen zwischen Geleisen und streunenden Hunden, Bergen von Abfall und einer zusammengestoppelten Sammlung von Stühlen. David James offerierte mir ein sauberes T-Shirt. Der 52-Jährige kam im Januar im Langstreckenbus in der Obdachlosigkeit an. Bei der Arbeit brach sich der Gabelstaplerfahrer in North Carolina die rechte Wade. Versichert war er nicht, die Spital- und Arztkosten beliefen sich auf 40’000 Dollar. James ging Pleite und verlor das Haus. Geld hatte er nur noch für ein Busbillett nach Ontario, wo er aufwuchs. «Mein amerikanischer Traum zerbrach», sagt James.

Der Princeton-Historiker und die Wirtschaftskrise

james.jpgEin eher trockener Kerl ist Harold James, 52, Historiker und Professor an der Princeton University in New Jersey. Sein Fachgebiet ist die Wirtschaftsgeschichte. Wie kein anderer kennt und versteht er die Grosse Depression. Er traf mich kurz nach der Wahl von Barack Obama zum neuen US-Präsidenten in seinem Büro in Princeton, New Jersey. Das Bild, das er zeichnet, ist düster. «Wir werden während langer Zeit schwer wiegende Probleme haben.» Die Obamamania werde das nicht ändern. «Wer Präsident der USA ist, spielt da keine Rolle.» Für die nähere Zukunft erwartet er ein schlimmes Ungleichgewicht. «Es ist wie beim Herzinfarkt. Zuerst stoppt alles. Danach folgt eine Zeit mit sehr geringer Aktivität.» Ein harsches Verdikt fällt er über die Profession der Ökonomen. Nichts wurde leider aus dem vereinbarten Mittagessen. James musste bereits zum nächsten Termin.

Zu Hause zur Schule

homeschooling7.jpgWo lernt ein Kind am besten? In der Schule oder zu Hause? Immer öfter unterrichten Amerikaner ihre Söhne und Töchter in den eigenen vier Wänden. Eine Reportage über Homeschooling zu realisieren ist trotzdem nicht einfach. Wer will schon Reporter im Haus haben? Zuletzt gewährten uns vier Familien Zutritt. Vornehmlich aus religiösen Gründen unterrichten die Hunts in Pennsylvania ihre beiden Töchter daheim. Jessica und ihre Zwillingsschwester Caroline Kjellberg kamen in der Schule nie zurecht. Die heute 16-jährigen Mädchen bilden sich in Manhattan ganz alleine aus. Weil sie die Gewalt an öffentlichen Schulen fürchtet, hat Elizabeth Reale in ihrem Wohnzimmer in Connecticut für ihre fünf Kinder Schulbänke eingereichtet. Erynn Albert schult Lucy, Mary, 11, John, 9, und Jane, 6, zu Hause, «und vor allem unterwegs». Morgens pauken sie Rechnen und Schreiben, nachmittags fährt sie die Mutter im Minivan nach Manhattan – zur Theaterprobe, zum Geigenunterricht, in die Musikstunde, ins Museum. Eine Schule haben die Kinder nie besucht.

Auf der Strasse mit Clinton- und Obama-Fans

hillary3.jpgMitte Januar war es bitterkalt in New York. Auf den Strassen fochten Anhänger von Hillary Clinton und Barack Obama gleichwohl den Wahlkampf um die Vorherrschaft in der demokratischen Partei aus. Erstmals seit Jahren war der Ausgang in New York wieder wichtig. Der bevölkerungsreiche Staat wählte seine Parteidelegierten so früh wie nie zuvor. Um die Wahlleute der Demokraten war ein heftiges Gerangel entbrannt. Zumal der Wettstreit zwischen Obama und Clinton äusserst knapp war. Um jeden Preis wollte Obama in Clintons Heimatstaat gut abschneiden. Die Obama-Leute waren besser organisiert, frecher, aggressiver – und siegeshungriger. Zwischen den Fans der beiden politischen Lager lagen selbst in New York Welten. Wenn man von den Obama-Leuten ins Clinton-Lager kam, war das wie von den Demokraten zu den Republikanern zu gehen. Hinter Obama standen die Progressiven, hinter Clinton die Etablierten.

Am Strand mit Raphael Wicky

wicky.jpg Dunkle Wolken zogen Mitte April über den frisch gemähten Trainingsplatz beim Home Depot Center in Carson, einem Vorort südöstlich von Los Angeles. Raphael Wicky trabte entlang der Seitenlinie, stützte den Rücken, setzte sich hin, dehnte, stand auf. «Gib mir den Ball», forderte er. Er kriegte ihn, schlugt einen verhaltenen Pass, verzog das unrasierte Gesicht. Der Ball kullerte ins Leere. Ständig griff sich Wicky an den schmerzenden Rücken. Wicky, der neun Jahre in der Bundesliga spielte und 75 Mal in der Schweizer Nationalmannschaft, hatte kein gutes Jahr. Seit Januar lebt er in Los Angeles. Er steht unter Vertrag bei Chivas USA, einem amerikanischen Verein, der einem mexikanischen Industriellen gehört. Meist sass er verletzt auf der Tribüne. Dabei wagte Wicky in der neuen Welt den Neuanfang. Dafür nahm der lange verletzte Mittelfeldspieler eine Lohneinbusse in Kauf. Am Strand und beim Essen sprach Wicky über sein Verhältnis zur Schweiz, das Älterwerden als Fussballer, Geld und seine Zukunft.

Im Vorzimmer der Macht

khalilzad.jpgZalmay Khalilzad ist gebürtiger Afghane, höchster Moslem in der US-Regierung – und ein mächtiger Mann. Hätte John McCain die Wahlen gewonnen, wäre er wohl Aussenminister geworden. Er gilt als einer der Architekten des Irak-Krieges. So schrieb er im Januar 1998 einen Brief an US-Präsident Bill Clinton. Darin verlangte er die Absetzung von Saddam Hussein. Tröstlich, dass sich Macht in der Politik nicht in den Immobilien spiegelt, in der sie ausgeübt wird. Nach langem Warten empfing mich Khalilzad in einem kahlen, fensterlosen und ausgesprochen schlecht dekorierten Saal in der amerikanischen Uno-Mission. Die Decke war niedrig, das Licht dumpf. Vor einem Sternenbanner standen einsam zwei karge Stühle und ein kleiner Tisch. Für ein intimes Gespräch war der Raum zu riesig. Ständig beobachtete uns eine bronzene Büste von General Dwight Eisenhower. Khalilzad füllte den tristen Raum mit einnehmendem Charme und angenehmem Humor. Nicht das Haus bestimmt die Macht. Es ist der Politiker, der darin agiert.

Die grünen Pioniere im Silicon Valley

nano.jpgSeit bald zwanzig Jahren lebt der Österreicher Martin Röscheisen im Silicon Valley. Er war ein früher Macher der Doctcom-Ära, startete drei Firmen und entwickelte ein E-Mail-Programm, das Yahoo! für 450 Millionen Dollar erwarb. 2002 wandte er sich erneuerbarer Energie zu und gründete die Firma Nanosolar. «Niemand interessierte das damals», sagt Röscheisen, ein sanfter Typ, der lieber Englisch als Deutsch spricht. «Alle lachten, als ich jedes Haus mit Solarzellen einkleiden wollte.» Er sitzt in der Kantine, die mit Bänken aus Festzelten bestückt ist. Ein Koch richtet das Mittagessen. Pioniergeist breitet sich aus. Junge Leute in modisch zerschlissenen Hosen wandeln herum, Männer tragen Bärte, Frauen Knöpfe in der Nase. Das Grossraumbüro ist bestückt mit Ikea-Möbeln. Nanosolar ist der Star unter den Solarfirmen im Silicon Valley. Eine halbe Milliarde Dollar hat sie bisher von Investoren erhalten, ein Rekord. Das erste Geld kam von den Google-Gründern. Seither stehen Anleger Schlange, dem schlauen Österreicher noch mehr Geld zu geben. Nirgends prallen Unternehmertum, Erfindergeist und Kapital frontaler aufeinander als im Silicon Valley. Hier graben gescheite Köpfe und gierige Investoren nun nach grünem Gold.

Fotos: Charly Kurz (1, 4, 5, 8); Stefan Falke (3, 6, 7, 9)

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