Die Welt vom Pult aus

Anfang Oktober zeichnete ein Russe eine Karikatur mit Schweizer- und Hakenkreuz. Selbst nach den Wahlen noch suggerieren Schweizer Medien, die Zeichnung sei in der „New York Times“ erschienen. Dabei fungierte die Firma hinter dem Weltblatt nur als Wiederverkäuferin. Eine Chronologie fehlender Faktenprüfung.

Anfang Oktober 2007. In der Schweiz tobt der Wahlkampf. Der in Moskau wohnende Russe Sergei Tunin zeichnet eine Karikatur. Darauf kritzelt ein Mann mit Hut und Mantel mit einem Schirm die Flügel eines Hakenkreuzes auf ein Schweizerkreuz.

8. Oktober 2007. Der frei schaffende Zeichner Sergei Tunin übergibt seine Karikatur am 8. Oktober an CartoonArts International, eine Syndication-Agentur, für welche die New York Times Company als Zwischenhändlerin agiert. Sie vertreibt weltweit Zeichnungen prominenter Karikaturisten. Die Tunin-Karikatur wird farbig und schwarzweiss angeboten. Ihr Code: „SWITZEROLAND-CROSS-NAZISM-PAINT-CAI-100807”.

15. Oktober 2007. Ein Mitarbeiter der Gratiszeitung „20 Minuten“ hat frei. Am Kiosk kauft er sich die „Süddeutsche Zeitung“. Dem Blatt liegt das „New York Times International Weekly“ bei. Darin sieht er Tunins Zeichnung. Sie ist mit den Worten „Tunin Moscow“ gekennzeichnet. Just zückt er das Handy, fotografiert die Karikatur und schickt sie an die „20 Minuten“-Redaktion. Sie wird unter dem Titel „New York Times macht aus Schweizern Nazis” ohne redaktionelle Einordnung auf 20minuten.ch publiziert – und löst eine hitzige Debatte aus. In der Annahme, ein Amerikaner hätte die Zeichnung für Amerikaner erstellt, beschuldigen viele Leser Amerika der Schweizfeindlichkeit.

15. Oktober 2007. Zwei regelmässige 20minuten.ch-Leser in New York sehen die Meldung. In der „New York Times“ finden sie die Karikatur nicht. Die Schweizer Botschaft in Washington weiss ebenfalls nichts davon. Eine Nachfrage bei der „New York Times“ ergibt: Das Weltblatt hat die Karikatur nicht veröffentlicht. Eine Google-Recherche mit den Worten „Tunin“ und „Switzerland“ und „Moscow“ führt innert Sekunden zur CartoonArts und zu Tunins Werk. Hossli.com berichtet.

16. Oktober 2007. Ein in Florida lebender Ex-Journalist sieht den Eintrag auf Hossli.com und ruft bei 20 Minuten an. 20minuten.ch ändert die Berichterstattung. Neu wird auf das „New York Times International Weekly“ verwiesen. Am selben Tag berichten Tele Züri und Radio 24, Amerikaner würden in der „New York Times“ die Schweizer verunglimpfen.

17. Oktober 2007. „20 Minuten“ publiziert die Karikatur in der gedruckten Ausgabe und unterstreicht deren russische Herkunft. „Die halbe Welt vernahm so den Verleich der Eidgenossenschaft mit den Nazis”, heisst es im Artikel. Nur: Gemäss NYT-Sprecherin Catherine Mathis druckten gerade mal drei europäische Zeitungen Tunins Karikatur. Trotzdem schlägt der Autor den Bogen zur USA und zitiert den Chef von Präsenz Schweiz, Johannes Matyassy: „In Absprache mit der Botschaft in Washington und dem Generalkonsulat in New York sind wir zum Schluss gekommen, dass eine Reaktion kontraproduktiv ist und das Ganze eskalieren könnte.“

17. Oktober 2007. Blick.ch publiziert den Text „Schadet der Wahlkampf der Schweiz?“. Der Autor: „Die internationale Wochenausgabe der ‘New York Times’ ging bisher am weitesten: Ein Mann macht aus dem Schweizer Kreuz ein Hakenkreuz. Der Nazi-Vergleich sorgte für einen Sturm der Entrüstung”. Was diese “internationale Wochenausgabe” ist, erfahren die Leser nicht.

19. Oktober 2007. Spiegel Online berichtet über den Schweizer Wahlkampf. Im Artikel schreibt der Journalist „Die ‘New York Times’ druckte in einer Beilage das Werk eines russischen Karikaturisten.” Obwohl die Karikatur in einer Beilage der „Süddeutschen Zeitung” und nicht in der „New York Times“erschienen war.

21. Oktober 2007. Wahltag in der Schweiz. Die „Sonntags Zeitung“ veröffentlicht an prominenter Stelle Tunins Karikatur, dazu die Legende „Ein Aufreger: So karikierte die ‘New York Times’ letzten Montag die Schweizer”. Erneut fehlt die Einordnung.

29. Oktober 2007. Acht Tage nach den Wahlen. Das „Migros-Magazin“ veröffentlicht die Karikatur nochmals. Dazu die Bildlegende: “Ein Aufreger: So karikierte die ‘New York Times’ nach den Wahlen die Schweizer”.

29. Oktober 2007. Doch auch nach den Wahlen macht „New York Times“die Schweizer nicht zu Nazis, versichert Firmensprecherin Mathis: „Die New York Times hat die Zeichnung nicht publiziert”, lässt sie per E-Mail ausrichten. „Sie wurde Zeitungen zur Verfügung gestellt durch die Karikaturen-Agentur CartoonArts International, für welche die New York Times Syndicate als Zwischenhändlerin agiert.” Die Beilage „New York Times International Weekly“ werde jeweils den einzelnen Partner-Zeitungen angepasst. Tunins Karikatur sei insgesamt in „drei europäischen Zeitungen erschienen”, schreibt Mathis. Das ist kaum die halbe Welt.