Zafer Aksoy, Peter Hossli, Hakan Parlak

“Wir haben die Demokratie verinnerlicht”

Beide sind Schweizer, beide sind Türken. Der Schaffhauser Zafer Aksoy (55) will die neue türkische Verfassung. Der Aarauer Hakan Parlak (42) lehnt sie ab.

Peter Hossli (Text) Philippe Rossier (Fotos) 27.03.2017 Blick

Zafer Aksoy, Peter Hossli, Hakan Parlak

Das türkische Restaurant Elvis im Zürcher Kreis 4: Auf dem Grill garen Lamm- und Pouletspiesse. Am Tisch sitzen zwei türkisch-schweizerische Doppelbürger: der Schaffhauser Informatiker Zafer Aksoy (55) und der Aarauer Unternehmensberater Hakan Parlak (42). Auslandtürken wie sie können ab heute Montag über die neue türkische Verfassung abstimmen.
Herr Aksoy und Herr Parlak, wie stimmen Sie?
Zafer Aksoy:
 Ich will die neue Verfassung. Ich stimme Ja.
Hakan Parlak: Ich lehne sie ab. Ich stimme Nein.

Warum können Sie trotzdem friedlich am gleichen Tisch sitzen?
Aksoy:
 Wir sind in der Schweiz aufgewachsen …
Parlak: … und haben die demokratische Kultur verinnerlicht.

Sollen türkische Politiker in der Schweiz für die Verfassung werben?
Aksoy:
 Ja, um gesicherte Informationen zu verbreiten, damit Türken in der Schweiz ihre Entscheidung treffen können.
Parlak: Generell gehört türkische Innenpolitik in die Türkei. Für diese Abstimmung habe ich meine Meinung etwas revidiert. Es leben 96’000 registrierte türkische Wähler in der Schweiz. Sie benötigen Informationen.

Dafür braucht es türkische Politiker in der Schweiz?
Parlak:
 Politiker ja, Minister sind problematisch. Kommt ein AKP-Vertreter hierher und redet, ist das okay. Minister vertreten aber das ganze Land, nicht nur eine Seite.

Die türkische Verfassung verbietet Wahlveranstaltungen im Ausland.
Aksoy:
 Richtig. Es wird nicht Wahlwerbung gemacht, sondern Information verbreitet …

… getarnt als Wahlveranstaltungen für die Regierungspartei AKP.
Aksoy:
 Falsch. Es geht um die Verfassung, nicht um Parteien.
Parlak: Das Verbot ist eine Farce, es hält sich niemand daran. Alle grossen Parteien werben in der Schweiz um Wähler.

Herr Aksoy, Sie leben im demokratischsten Land der Welt. Warum unterstützen Sie die Einführung einer Diktatur?
Aksoy:
 Die neue Verfassung wird keine Diktatur zur Folge haben.
Parlak: Sie muss nicht zwingend in eine Diktatur münden. Aber es besteht das grosse Risiko, dass genau dies passiert. Gewaltentrennung und Kontrollen werden aufgehoben. Die gesamte Macht geht an eine Person.

Dann ist Erdogan ein Diktator?
Aksoy:
 Absolut nein. Er ist ein frei gewählter Mann. War Christoph Blocher ein Diktator? Nein, ein frei gewählter Mann.
Parlak: Das kann man nicht vergleichen.
Aksoy: Blocher stand wie Erdogan der stärksten Partei vor.
Parlak: Der Vergleich hinkt. Man kann die direkte Demokratie der Schweiz nicht mit der Türkei vergleichen. Was stimmt: Erdogan ist derzeit kein Diktator, er ist zum jetzigen Zeitpunkt legitim gewählt.

Zafer Aksoy

Erdogan setzt politische Gegner unter Druck, schliesst unliebsame Medien, inhaftiert Journalisten. Alles Anzeichen einer Diktatur.
Parlak:
 Wir Türken haben viel Erfahrung mit autoritären Herrschern. Da reiht sich Erdogan ein. Turgut Özal war autoritär, genau wie die Generäle vor ihm.
Aksoy: Heute regiert eine Mehrheit. Zuvor war es eine Minderheit, das Militär oder eine einzige Partei. Die jetzige Verfassung stammt aus dem Jahr 1982, ist faschistisch-militärisch. Heute kann Erdogan nur wegen Landesverrats angeklagt werden. Das würde sich durch die neue Verfassung ändern. Sie ist demokratischer als die jetzige.
Parlak: Einverstanden bin ich, dass die derzeitige Verfassung von 1982 repressiv ist. Du willst eine repressive Verfassung durch eine repressivere ersetzen!
Aksoy: Nein, das ist ein erster Schritt zur echten Demokratie.
Parlak: Es löst die Probleme nicht, es verschiebt sie. Wir müssen eine undemokratische Verfassung durch eine demokratische Verfassung ersetzen.

Die neue Verfassung ist 180 Seiten lang. Wissen die Türken, worüber sie abstimmen?
Parlak:
 85 Prozent wissen es nicht.
Aksoy: Wie bei den meisten Abstimmungen rennen die Türken ihren Anführern hinterher. Umso wichtiger wären Podiumsgespräche in der Schweiz.
Parlak: Damit soll nur die Stimmung angeheizt werden.
Aksoy: Es geht um Information.
Parlak: Die Befürworter hatten anfänglich Mühe, die Verfassung anzupreisen. Der Inhalt ist technisch, emotionslos. Streit um Auftritte in den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz brachte den Befürwortern die Emotionalität, die sie suchten. Es geht nicht mehr um Gewaltentrennung und Rechtsstaatlichkeit. Jetzt geht es nur noch um Europa gegen die Türkei.

Herr Aksoy, ist das Chaos um die Auftritte der Türken in Ihrem Sinn?
Aksoy:
 Ich würde lieber über Inhalte reden. Aber ich bewundere Erdogan und sein Team, wie schnell sie den Ball aufgenommen und ins Lattenkreuz gedrückt haben.
Parlak: Aufgenommen? Provoziert!
Aksoy: Das sagen Erdogans Gegner immer. Bereits beim Putsch hiess es, alles sei nur gespielt. Nun sagen sie, Erdogan sei so mächtig, er könne die Europäer steuern, damit sie ihm in die Hände spielen. Lächerlich!
Parlak: Erdogan steuert nicht, er provoziert.
Aksoy: Wo ist die Provokation? Es wurden Veranstaltungen organisiert, alles war bewilligt, die sagte man kurzfristig ab.
Parlak: Der Streit darum hat eine völlig neue Dynamik gebracht. Zuerst war ich sicher, die neue Verfassung werde mit 55 bis 60 Prozent abgelehnt. Seit es nicht mehr um die Verfassung geht, sondern um Europa gegen die Türkei, kann ich den Ausgang nicht mehr voraussagen. Der BLICK hat mir als Gegner einen Bärendienst erwiesen. Viele nationalistische Stimmen in der Schweiz, die für ein Nein waren, sind nach dem türkischen BLICK-Artikel ins Ja-Lager gerutscht.
Aksoy: Die europäischen Medien haben in die gleiche Kerbe geschlagen wie die türkischen Medien. Das hilft Erdogan. Er profitiert von den Fehlern der anderen.

Wäre die Türkei nach der Annahme dieser Verfassung noch eine Demokratie?
Parlak:
 Niemand kennt die Zukunft. Die Risiken und Gefahren eines Machtmissbrauchs sind mit dieser Verfassung enorm gross. Ich bin nicht bereit, dieses Risiko zu tragen. Die Verfassung gibt einer einzigen Person sehr viel Macht. Was, wenn nach Erdogan ein echter Despot kommt? Mit der Machtfülle kann er das Land ruinieren.
Aksoy: Herr Hossli, Ihre Frage ist Realsatire. Wird die neue Verfassung angenommen, ist die Türkei erstmals auf dem Weg zu einer demokratischen Verfassung.
Parlak: Was, bitte sehr, wird demokratischer im Gegensatz zu heute?
Aksoy: Es ist erstmals eine demokratisch ausgearbeitete Verfassung: von 63 Prozent der Parlamentarier, die das Volk 2015 gewählt hat.
Parlak: Ohne Gewaltentrennung und ohne Kontrollmechanismen kann das keine funktionierende Demokratie sein.
Aksoy: Die Verfassung ist ja nicht in Stein gemeisselt. Wir in der Schweiz stimmen alle drei Monate über Änderungen in der Kantons- und Bundesverfassung ab. Die neue türkische Verfassung ist ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Gemäss neuer Verfassung dürfen Präsident und Regierungschef der gleichen Partei angehören. Bislang mussten sie aus der Partei austreten.
Parlak:
 Damit würde die AKP zur Staatspartei wie einst die Kemalisten …

… die Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Aksoy:
 Mit einem Unterschied: Die Kemalisten hatten 25 Prozent der Stimmen, die AKP hat 50 Prozent.
Parlak: Das ist eine Momentaufnahme.
Aksoy: Nur weil der Präsident bisher sagen konnte, er sei unparteiisch, heisst das doch nicht, er hätte keine politische Zugehörigkeit. Sogar Richter stehen zu ihrer Partei. Nur weil er das Parteibuch abgeben muss, kann er doch nicht sagen, er sei weder rechts noch links.

Jetzt wird etwas, das Realität ist …
Aksoy:
 … einfach in die Verfassung geschrieben.
Parlak: Das ist falsch. Präsident Ahmet Sezer hat 2001 seinen Parteigenossen die Verfassung an den Kopf geworfen …
Aksoy: … und die Türkei ist abgestürzt.
Parlak: Ihm war die Funktion als Staatspräsident wichtiger als das Parteibuch. Künftig kann der Präsident die Interessen der Partei vor jene des Landes stellen.

Bisher wurde der Präsident vom Parlamentschef vertreten. Künftig soll er von Vizepräsidenten vertreten werden, die er bestimmt. Der Präsident kann seine Stellvertreter ernennen und absetzen.
Parlak:
 Das sind genau die Kontrollmechanismen, die nun verschwinden.
Aksoy: Es geht nicht um Kontrollen, sondern um Stellvertreter. Jeder will seinen Stellvertreter bestimmen. Niemand will einen, der gegen ihn agiert.
Parlak: Das Parlament kann die Stellvertreter und den Präsident nicht absetzen.
Aksoy: Das ist nicht korrekt.
Parlak: Das Parlament kann nur Neuwahlen anberaumen.
Aksoy: Was doch perfekt ist! Dann entscheidet das Volk, ob das Parlament oder der Präsident Mist gebaut hat.

In der neuen Verfassung kann der Präsident Dekrete erlassen, die Gesetzeskraft haben …
Parlak: 
Artikel 148.

… er braucht die Zustimmung des Parlaments nicht mehr.
Aksoy:
 Das Parlament kann sofort Einsprache erheben.
Parlak: Das stimmt nicht, das Parlament muss ein neues Gesetz verabschieden.
Aksoy: Ein Dekret darf nur für einen Bereich erlassen werden, für den es noch kein Gesetz gibt. Bestehende Gesetze kann der Präsident nicht auflösen.
Parlak: Ja, aber der Präsident kann während fünf Jahren per Dekret regieren.
Aksoy: Das Parlament kann ein Gegengesetz ausarbeiten. Der Präsident kann es einmal ändern. Ändert er es nicht, wird es automatisch Gesetz. Das Dekret des Präsidenten wird nichtig.
Parlak: Die Realität sieht doch anders aus. Die Mehrheit im Parlament ist parteiisch. Sie macht, was der Präsident will.
Aksoy: Das ist nicht gesagt. In Amerika stellt nicht immer die gleiche Partei das Parlament und den Präsidenten.
Parlak: Dort werden ja alle zwei Jahre ein Drittel des Senats und das ganze Repräsentantenhaus neu bestellt. Gemäss der neuen türkischen Verfassung werden am gleichen Tag Präsident und Parlament gewählt.

Eine zentrale Neuerung.
Parlak:
 Damit besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass der gewählte Präsident auch die Mehrheit im Parlament erhält. Zwar gibt es auf dem Papier immer noch Exekutive und Legislative. Aber in der Realität macht der Präsident künftig die Gesetze, das Parlament nickt sie ab.
Aksoy: Es ist ein Vorteil, wenn Parlament und Präsident am selben Tag gewählt werden. So wird das türkische Volk vom ständigen Lärm der Parteien befreit.
Parlak: Was hat das mit der Verfassung zu tun?
Aksoy: Gibt es nur alle fünf Jahre Wahlen, dröhnen Politiker nur alle fünf Jahre den Leuten den Kopf voll. Danach ist Ruhe. Momentan ist die Türkei ständig im Wahlpropaganda-Fieber.
Parlak: Das ist eine Ausrede, kein Argument.
Aksoy: Ich überlasse es dem türkischen Volk zu entscheiden, ob es Präsident und Parlament von der gleichen oder zwei unterschiedlichen Parteien wählt.

Der Präsident hätte in der neuen Verfassung mehr Einfluss auf die Justiz. Es gibt 13 oberste Richter. Der Präsident ernennt vier, das Parlament drei.
Parlak:
 Hat der Präsident die Mehrheit im Parlament, kann er sieben von dreizehn Richtern bestimmen – und beherrscht die Justiz. Die Gewaltentrennung wäre auch hier ausgehebelt. Es reicht eine einfache Mehrheit, einen Richter zu ernennen.

Ein Land ohne unabhängige Justiz ist keine Demokratie.
Aksoy:
 Ist denn die Justiz heute unabhängig?
Parlak: Wir reden nicht von heute.
Aksoy: Doch! Wenn wir Nein sagen, bleibt es so, wie es ist. Heute gibt es in der Türkei eine Scheindemokratie.
Parlak: Du willst sie durch eine noch grössere Scheindemokratie ersetzen? Was stimmt: Der heutige Zustand ist nicht gut.
Aksoy: Er ist desolat!
Parlak: Im System, das du als desolat bezeichnest, wurde Wohlstand geschaffen. Erdogan hat ja lange Zeit selber bewiesen, dass die parlamentarische Demokratie funktioniert.
Aksoy: Aber nur, weil das Volk hinter Erdogan steht.
Parlak: Mit der neuen Verfassung kann der Präsident zusammen mit Richtern, Generälen und Polizeichefs den Staat lähmen.

Wie lautet Ihre Prognose?
Aksoy:
 Entgegen allen Unkenrufen gibt es 56 Prozent Ja.
Parlak: Es wird knapp. Die grösste Katastrophe wäre es, wenn die Türken in der Türkei Nein sagen, aber dank den Auslandtürken ein Ja resultieren würde. Das wäre pervers.

Herr Aksoy, Sie sagen Ja zu etwas, mit dem Sie nicht leben müssen.
Aksoy:
 Mindestens fünf bis sechsmal im Jahr bin ich in der Türkei.
Parlak: Um Ferien zu machen, brauchst du kein autoritäres Präsidialmodell.
Aksoy: Ich will endlich eine Demokratie. Von der jetzigen diktatorischen Verfassung habe ich genug.

Wie stimmen die Türken in der Schweiz?
Parlak: Sie stimmen Nein. Was mit der Demografie zu tun hat. Die Mehrheit sind Türken mit kurdischen Wurzeln. Aber in Deutschland mit einer Million Türken wird es ein Ja geben.

Was passiert bei einem Nein?
Parlak:
 Nichts, es geht weiter.
Aksoy: Die Türkei wird weitere 20 Jahre eine scheinheilige Demokratie vorspielen.

Was passiert bei einem Ja?
Aksoy: Es ist der Anfang eines sehr langen Weges. Er bringt in 300 bis 400 Jahren in der Türkei Schweizer Verhältnisse.
Parlak: Dann bewegt sich die Türkei in eine Richtung, die nicht absehbar ist. Es ist immer gefährlich, wenn eine Person zu viel Macht hat.

Was passiert mit der türkischen Wirtschaft?
Aksoy:
 Sie wird weiter wachsen, die Verschuldungsquote dürfte unter die Schweizer Quote fallen, das Einkommen pro Kopf wird sich steigern. Es wird Ruhe und Stabilität bringen. Vor der AKP war eine türkische Regierung im Schnitt 17 Monate an der Macht.
Parlak: In diesem Punkt gebe ich dir recht. In den 90er-Jahren waren türkische Koalitionsregierungen so instabil wie in Italien.

Sollen wir jetzt Essen bestellen?
Parlak:
 Zuerst sage ich noch etwas zur Wirtschaft, ich bin ja Ökonom. Es gibt kein Modell, das zeigt, dass Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum von einer Präsidialdemokratie abhängen. Wichtiger sind der Einfluss auf die Notenbank und das Vertrauen der Anleger. Durch die neue Verfassung wird beides negativ beeinflusst. Die Wirtschaft wird stagnieren, die Notenbank nicht mehr unabhängig sein, die Lira schwächt sich ab, die Touristen bleiben fern.
Aksoy: Das muss nicht sein.

Genug gestritten! Herr Aksoy, Herr Parlak, vielen Dank. Lassen Sie uns jetzt essen.