Arnór Borg Gudjohnsen,16, Mittelfeldspieler bei den Junioren von Breidablik UBK und der  Bruder von Eidur Gudjohnsen, Stürmer der Nationalmannschaft.

Es ist kein Wunder

Der Erfolg der isländischen Fussballer gründet auf viel Arbeit, minuziöser Planung, geheizten Hallen, reichlich Wahnsinn – und unbändigem Siegeswille.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 03.07.2016 SonntagsBlick

Arnór Borg Gudjohnsen,16, Mittelfeldspieler bei den Junioren von Breidablik UBK und der  Bruder von Eidur Gudjohnsen, Stürmer der Nationalmannschaft.

Es nieselt, und es ist kalt. Donnerstagabend, ein Vorort in der isländischen Hauptstadt Reykjavík. 44 Jungs spurten über einen satten grünen Rasen. Sie traben kurz, spurten wieder, traben. Jung sind sie, 14, 15, 16 Jahre alt, die meisten blond, kräftig, gross gewachsen. Mancher trägt eine Zahnspange.

Ein hagerer Coach mit dunklen Haaren spornt sie an: Tryggvi Björnsson (46), hauptberuflich verlegt er Plättli. Fünf Mal wöchentlich trainiert er Junioren. Björnsson verfolgt mit seinen Jungs ein Ziel: «Das isländische Fussball-Märchen soll noch Jahre weiter gehen.»

Vier aktuelle Nationalspieler hat er einst trainiert. Deren Namen schreibt er ins iPad des Reporters: Ragnar Sigurdsson (30), Gylfi Sigurdsson (26), Johann Berg Gudmundsson (25), Alfred Finnbogason (27). «Natürlich bin ich auf ihren Erfolg ein bisschen stolz.» Demut liegt in der Stimme.

Die Elf aus dem Land der Elfen

Island, ein windiger Insel-Staat mit 330 000 Einwohnern, ist neben Wales die grosse Überraschung der Euro in Frankreich. Zum ersten Mal überhaupt qualifizierte sich das Team für ein grosses Turnier. Heute Abend trifft die Elf aus dem Land der Elfen in den Viertelfinals in Paris auf den Gastgeber.

 

Tryggvi Björnsson, 46, Juniorentrainer von Breidablik UBK in Reykjavik, im Gespräch mit einem Junior.

Darüber staunt die Fussball-Welt. Nicht aber Island. Hier gibt es viele Erklärungen für den Erfolg. «Die Mentalität stimmt, die Technik ist gut, viele spielen in starken Ligen», meint Björnsson.

Er teilt die 44 Spieler in vier Teams ein, nach Können. Auf der linken Seite des Feldes kicken die etwas schlechteren. Rechts ist es lauter, schneller, bissiger.

Einer fällt besonders auf, der jüngste auf dem Platz. Erst 14 ist Andri Fannar Baldursson, sieht aus wie ein Kind, und doch hat er schon ein Probetraining in Holland hinter sich. «Er ist das vielleicht grösste Talent Islands», sagt sein Coach.

Mühelos wirkt es, wenn Andri über den Platz rennt. Er liest das Spiel, trabt, wartet ab, sprintet. Kommt der Ball zu ihm, passt er sofort. «Er ist einer dieser modernen Fussballer, der ein Spiel schnell macht, dann wieder verlangsamt», so Björnsson.

Andri Fannar Baldursson, 14, Mittelfeldspieler bei den Junioren von Breidablik UBK in Reykjavik. Baldursson gilt als eines der hoffnungsvollsten Nachwuchstalenten von Island.

«Einfach nur spielen» will Andri. «Am liebsten bei Manchester United oder Real Madrid.» Mit fünf fing er an zu trainieren. Bald habe er gemerkt: «Ich will immer gewinnen». Und liefert eine Erklärung, warum die Isländer das an der Euro gegen grosse Teams tun. «Siegen liegt uns im Blut.»

Fussballplätze für alle

Rund 22 000 aktive Fussballer hat die Vulkan-Insel im Nordatlantik. Ein Drittel sind Mädchen. Alle sind sportbegeistert. Jede Stadt hat ein Schwimmbad, einen Golfplatz, ein Fussballfeld. Drei bis vier Stunden Sport wöchentlich schreibt das Gesetz vor. Was nicht einfach zu erfüllen ist, denn die Winter sind lange, kalt und dunkel.

An Fussball war während zehn Monaten im Jahr nicht zu denken. Bis sich der Verband entschied, Fussballhallen aufzustellen. In den letzten zehn Jahren entstanden sieben Hallen mit Feldern in offizieller Fifa-Grösse, dazu vier kleinere. Zudem baute die Gemeinde 150 geheizte und beleuchtete Plätze. Neben jeder Schule steht ein Kleinfeld mit Kunstrasen. Heute kann in Island jedes Kind jederzeit Fussball spielen.

Die dafür nötige Wärme liefert der Boden: Island – eigentlich ein grosser Lavahaufen – gewinnt seine Energie grösstenteils durch Geothermie.

Die Fussballhalle in Kevlavik in der Nähe des Flughafens von Reykjavik

Jeder kennt jeden

Island liegt auf der Trennlinie zwischen nordamerikanischer und eurasischer Platte. Seit etwa 18 Millionen Jahren gibt es die Insel, bewohnt ist sie seit 1100 Jahren. Jeder kennt jeden. Zwei Telefonanrufe genügen, und man trifft den Präsidenten.

Alle kennen einen Bruder, einen Cousin oder einen Freund eines aktuellen Nationalspielers. Auf dem Trainingsplatz von Coach Björnsson treffen wir Arnor Borg Gudjohnsen (16), einen offensiven Mittelfeldspieler. Sein Bruder: Eidur Gudjohnsen (37), der vielleicht beste isländische Fussballer aller Zeiten. Für Barcelona hat er gespielt, für Chelsea, Tottenham, die AS Monaco, noch immer für das Nationalteam. Dorthin möchte Arnor ihm folgen.

Fünf Autominuten entfernt vom Flughafen üben Junioren Torschüsse. Am Spielfeldrand steht Samúel Þór Traustason (18). Es zwickt ihn im Rücken, ist verletzt, er trägt eine dicke Jacke, hat den Kragen hochgezogen. Es ist Juli und kühl. Samuel beobachtet, wie die Kameraden vom FC Keflavik kurze Pässe spielen. Wie alle alles geben. «Natürlich will ich Profi werden», sagt Samuel. «Profi wie mein Bruder.» Wie Arnor Traustason (23), isländischer Nationalspieler, neuerdings unter Vertrag bei Rapid Wien – und ein Volksheld in Island. Er schoss ein Tor gegen Österreich.

Samuel und Arnor begannen mit drei Jahren Fussball zu spielen. Wie viele der Buben, die heute in der hellen Halle von Breidablik kicken, dem grössten Fussballklub des Landes. Es ist Islands Talentschmiede schlechthin. Vier der aktuellen Nationalspieler haben sie durchlaufen. Insgesamt trainieren am Ostrand der Hauptstadt 1400 Kinder und Jugendliche.

Dadi Rafnsson (40) führt das Jugendprogramm. «Die Kinder kommen mit drei zu uns, das Training beginnen sie mit vier», sagt der bullige Isländer, der selbst nie ein guter Spieler war. «Aber ich habe ein Auge für Talente – und für Coaches.»

Deren Qualität sei eine weitere Erklärung für das Fussball-Wunder. Kein anderes Land der Welt hat mehr ausgebildete und lizenzierte Trainer pro Einwohner als Island. «Jedes Kind wird hier von einem Top-Coach trainiert», sagt Rafnsson.

Statt in den Hort gehen isländische Kinder nach der Schule zum Fussball. Busse holen sie ab, fahren sie in die Breidablik-Halle, dort trainieren sie, verbringen ein paar Stunden, essen etwas, bis die Eltern sie nach Hause fahren. «Die Kinder sollen spielen, egal wie gut sie sind», sagt Rafnsson.

Dadi Rafnsson, Jugenddirektor von Breidablik UBK, fotografiert in der Trainingshalle des Clubs.

Jagen in anderen Ländern Top-Vereine den kleinen Klubs die Talente ab, bleiben in Island die Spieler beim gleichen Verein. Von Elite-Klubs hält der Ausbildner nichts. Statt sie wegzugeben, lässt er besonders talentierte Kinder einfach mit Älteren kicken. «Das fordert sie, die guten müssen mehr leisten.» Ständig gibt es irgendwo im Land ein Turnier. «Die sind hart umkämpft, dort lernen die Spieler zu fighten.»

Es wimmelt von Scouts

Bereits zeige der Erfolg des Nationalteams erste Schattenseiten. «Es wimmelt plötzlich von Scouts.» Die wüssten längst, wer der beste 6-jährige Isländer sei. «Noch spielen wir nicht für das Geld, wir spielen aus Liebe für den Fussball.»

Was sich rasch ändert. Über ein Dutzend Spieler hat Rafnsson an europäische Vereine verkauft, nun dürfte sich die Nachfrage erhöhen. «Musste sich ein Verein zwischen einem gleichwertigen Brasilianer und einem Isländer entscheiden, nahm er bis anhin den Brasilianer. Jetzt wissen die Klub-Besitzer, wie gut ausgebildet unsere Kicker sind – und entscheiden sich für den Isländer.»

Er schwärmt vom Fussball in der Schweiz. «Dort ist die Ausbildung hervorragend.» Etwas aber fehle den Schweizern: Siegeswille. «Es reicht nicht, technisch gut zu sein, im Fussball geht es ums Gewinnen, ums Toreschiessen, das bläuen wir den Kindern ein.»

KR Reykjavik spielt gegen den Nordirischen Club Glenavon FC. Das Spiel, anlaesslich der 1. Qualifikationsrunde der UEFA Europa League. Der KR Reykjavik gewinnt das Spiel mit 2:1.

Harte Kerle

Eine andere Theorie hat Oscar, er ist gross gewachsen, trägt einen Bart, athletisch ist er nicht, eher ein Denker. Er vermietet Wohnungen an Touristen. Und er zieht die Evolution herbei, um den Erfolg der isländischen Sportler zu erklären. «Es ist verdammt schwierig, hier zu leben», sagt Oscar. «Es gibt immer wieder Erdbeben, es ist meistens dunkel, das Essen ist rar – nur ganz harte Burschen halten das durch.» Was er meint: Isländer sind zäher als andere, deshalb gewinnen sie.

19 Uhr 15, in Frankreich spielt Polen gegen Portugal. In Island kämpft der KR Reykjavik um den Einzug in die Europa League. Es wäre die erste Teilnahme eines isländischen Vereins an einem europäischen Wettbewerb. Zu Gast ist Glenavon aus Nordirland. Auf den Rängen singen ein paar Hundert Fans, darunter viele Kinder, die mit ihren Eltern hier sind. Der Fussball ist rustikal, versetzt mit vielen Fouls. Die Nordiren gehen vor der Pause in Führung, zuletzt gewinnt Reykjavik 2:1.

Auf der Tribüne jubelt Jon Olafur Kjartansson (28), er arbeitet in einem isländischen Reisebüro. «Der Erfolg der Nati bringt uns noch mehr Touristen», sagt er. «Alle Hotels sind voll.»

Ragnar Agnarsson (47, rechts) und Arnbjörg Hafliedadóttir (44, links), von Sagafilm, einer islaendischen Filmproduktionsfirma. Bei dieser Firma arbeitet der islaendische Torhueter Hannes Halldórsson als Regisseur.

«Wir wollen den Goalie zurück»

Für die meisten Isländer ist er «der Hannes». Die Welt kennt ihn als Hannes Þór Halldórsson (32), der schrullige Goalie der isländischen Nationalmannschaft, der nebenbei Filme macht. Bis zur Euro arbeitete der Regisseur für Saga Film. Das Studio logiert in einem modernen weissen Gebäude mitten in Reykjavík. «Hannes ist freigestellt, aber wir wollen ihn zurück», sagt Ragnar Agnarsson (47), Besitzer des Studios. «Er ist fleissig», sagt Arnbjörg Hafliðadóttir (44), Produzentin bei Saga Film. Die beiden führen in den Schnittraum, wo Goalie Halldórsson bis vor kurzem Werbe-Spots fertigstellte. «Er kann Schauspieler führen, vor allem aber ist er ein toller Kerl», so die Produzentin.

Agnarsson erzählt, wie «der Hannes» jeweils eine Festplatte zu Auslandspielen mitnahm, um im Hotelzimmer seine Spots zu schneiden. Eigentlich wollte er nun seinen ersten langen Spielfilm drehen. «Das wird wohl etwas länger dauern, der spielt so gut, den kauft sicher ein grosser Verein.»

«Kein Problem, alles ist möglich»

Reichlich verrückt seien die Isländer, erklärt der Filmproduzent den Erfolg. «Wir sind davon überzeugt, alles erreichen zu können, wenn wir nur hart genug arbeiten.» Jeder Isländer glaube, «am Nabel der Welt zu sitzen», so Agnarsson. Und: «Wir nehmen es mit allen auf.» Der Leitsatz des Landes laute «Þetta reddast», was so viel heisst wie «kein Problem». Oder: «Alles ist möglich.»

Hühnerhaut kriege er noch immer, wenn er Szenen aus dem Spiel gegen England anschaue. «Es ist die Geschichte des Underdogs, der alle überragt, eine bessere Geschichte gibt es nicht.»

Mädchen des FC Valur Reykjavik wärmen sich vor dem Spiel auf.

Erfolg kommt rechtzeitig

Freitagnachmittag, um 15 Uhr. Mädchen des KR Reykjavik sind zu Gast beim KR Valur, dem Stadtrivalen. Sigridur Theodora (11) führt den Ball, umspielt eine Gegnerin, eine zweite – und schiesst ins hohe linke Eck. Tor.

Ihre Mutter applaudiert, die 53-jährige Politikjournalistin Johanna Hjaltadottir (53). Sie moderiert beim staatlichen TV-Sender RUV, der SRG Islands. Ihr Deutsch ist perfekt, ihr Französisch gut. Vor 30 Jahren studierte sie in Fribourg FR.

Seit zwanzig Jahren wirkt die Isländerin im Nebenamt als Schweizer Konsulin, betreut die rund 120 Schweizer, die hier zwischen Vulkanen und Geysiren wohnen. Sie hilft, wenn ein Pass verloren geht, ein Unglück geschieht. Oder wenn, wie im Mai, ein Kind von Schweizer Touristen zu früh zur Welt kommt.

Ihre eigenen Kinder – zwei Töchter, zwei Söhne – treiben alle Sport, sagt Johanna Hjaltadottir. «Das ist gut für ihre mentale und ihre physische Gesundheit.»

Als «unheimlich wichtig» beschreibt sie den Erfolg des Nationalteams. «Er kommt gerade rechtzeitig.» Vor acht Jahren schlitterte Island in eine Finanzkrise, ging fast Bankrott. Im Frühling musste der Premierminister zurücktreten; er hatte Geld auf geheimen Konten in Panama versteckt. «Die Welt lachte uns aus, jetzt sind wir wieder stolz», sagt die Journalistin. «Auf die Spieler und auf die Fans, die sich in Frankreich so vorbildlich benehmen.»

Dank der Elfen-Elf sei das Vertrauen in Island wieder da. «Das ganze Land wird auf den Beinen sein, wenn die Spieler heimkommen.» Wann? «Das kann dauern. Spielen sie am Sonntag wie gegen England, können sie alle schlagen.»

Ja, die Isländer glauben, alles schaffen zu können.

Er ist der Vater des «Hu hu hu»

Der isländische Fussballverband beschäftigt 18 Personen. Einer von ihnen verhalf dem Fan-Ritual zum Durchbruch.

Johann Christensson, Stadionmanager vom Laugardalsvollur Nationalstadium in Reykjavik.

Am Stadtrand von Reykjavik steht das Laugardalsvöllur National Stadium. Hier trägt das isländische Team Heimspiele aus, vor maximal 9800 Zuschauern. Alle Türen sind offen, man kann einfach reingehen. «Warum sollte ich abschliessen?», fragt Johann Christensson. Seit 20 Jahren ist er Platzwart. Und einer von nur 18 Personen, die für den isländischen Verband arbeiten.

Noch vor zehn Jahren seien jeweils ein paar hundert Fans zu den Nati-Spielen gekommen. Gefüllt hätten das Stadion höchstens Stars wie der Portugiese Cristiano Ronaldo (31) oder die deutsche Elf. «Heute sind alle Spiele ausverkauft, nicht wegen Ronaldo, sondern unseren Jungs.» Klar, er reist zum Spiel gegen Frankreich. «Aber ich plane bereits fürs Halbfinale.»

Auf den Rasen ist der Platzwart stolz, «einer der besten der Welt», sagt er. «Auch weil unsere Plätze so gut sind, ist das isländische Team so stark.» Und wegen der Fans, so Christensson. Er war es, der das rituelle Fan-Klatschen in seinem Stadion förderte, den famosen Hu. Ihn übrigens kennt man in der Schweiz von den GC-Fans.

Bloss ein Dutzend Anhänger hätten vor fünf Jahren rhythmisch geklatscht, jeweils in der oberen Ecke der Tribüne. «Niemand wollte in ihrer Nähe stehen.» Bis fünfzig klatschten. Just platzierte Christensson sie in der Mitte der Gegentribüne. «Heute klatschen 1000 Fans, und alle anderen wollen neben ihnen stehen.»

Krawalle wie in Europa gebe es auf isländischen Rängen nie. «Fussball ist bei uns Leidenschaft und Freude», sagt er. «Klar, es gibt Hooligans in Island», so Christensson. «Beide kenne ich persönlich.»