Mein zweites Leben

Mit 16 Jahren ist Jessica Habegger eine durchtrainierte Schwimmerin, der Sport bestimmt ihren Alltag. Doch plötzlich macht ihr Herz nicht mehr mit, ihr Leben steht auf Messers Schneide. Am 11. September 2001 – dem Tag, der die Welt erschütterte – erhält Jessica Habegger ein neues Herz. Eine zweite Chance.

Von Peter Hossli (Text) und Severin Nowacki (Fotos)

Jessica Habegger steht im Badeanzug im Regen. Sie schlottert. Sichtlich kalt ist der 32-jährigen Frau nach dem halbstündigen Fotoshooting.

Müde aber ist sie nicht. «Jetzt gehen wir noch schwimmen», sagt sie zum Reporter, der in die Badehose wechselt. Sie strahlt. «Das Wasser ist wärmer als die Luft.» Gemeinsam steigen sie ins hellblaue Becken.

Dichter Nebel hängt über dem Freibad von Adelboden im Berner Oberland. Es nieselt. Bereits Ende August zieht der Herbst in die Alpen. Angst vor einer Erkältung oder Keimen hat Habegger nicht. «Bewusst ignoriere ich Gefahren», sagt sie und legt kräftige Brustzüge in die 25 Meter lange Bahn. «Überlege ich, was alles passieren könnte, werde ich bestimmt krank.»

Krank werden darf Habegger nicht. Ihr Körper könnte sich kaum wehren. Mit 16 Jahren erhielt sie ein Spenderherz. Seither schluckt sie täglich 30 Pillen, die ihr Immunsystem dämpfen. Damit es das fremde Organ nicht abstösst. Die Ärzte raten ihr von Bädern ab, wo die Becken die Bakterien der Badenden sammeln. Haustieren sollte sie fern bleiben. Habegger schwimmt regelmässig, sie lebt mit einem schwarzen Mops und einer braunen Bulldogge. «Bewegung tut mir gut», sagt sie und erhöht das Tempo. «Der Tod lauert überall, nicht nur für mich.» Umso wichtiger sei es, ihn nicht zu fürchten. «Sonst vergisst du zu leben.»

Weil sie gerne lebt, lebt sie bewusst, isst gesund, geht mit den Hunden bei jedem Wetter nach draussen. «Eigentlich sollte ich ja verhüllt herumlaufen, aber dann könnte ich gleich sterben.» Jedes Risiko geht sie nicht ein. Wegen Infektionsgefahr verzichtet sie auf die Tätowierung, die sie gerne hätte. Sie krault eine Länge, taucht, wendet, zieht voll durch. Graziös gleitet ihr langer schlanker Körper durchs Wasser. «Paul schwimmt mit», sagt sie. «Er ist bei allem dabei, was ich mache.»

Paul – so nennt sie den Spender, dessen Herz sie im Alter von 16 Jahren erhalten hat. Damals ist Jessica Habegger ein Teenager, der plötzlich Mühe bekundet, Treppen hochzusteigen. Ausgerechnet Jessi geht die Puste aus, der durchtrainierten Schwimmerin, einer der schnellsten im Land. Mit drei lernt sie schwimmen, im Kindergarten tritt sie in den Schwimmclub Bern ein. Mit dem eigenen Körper lotet sie ihre Grenzen aus. Über Mittag und abends trainiert sie, zuletzt zehn Mal die Woche. Pro Training legt sie sechs Kilometer in die Bahn. Der Sport bestimmt Leben wie Berufswahl. Am liebsten würde sie eine Lehre als Verkäuferin in einem Sportgeschäft machen. Trainieren könnte sie dann aber nicht mehr. Sie beginnt das 10. Schuljahr, büffelt vormittags, am Nachmittag schwimmt sie. Daneben hilft sie der Mutter, Treppen zu reinigen.

Es ist Sommer 2001, die Welt beobachtet einen neuen US-Präsidenten, der seinem Amt nicht gewachsen scheint. Am 6. August liest George W. Bush ein geheimes Dokument seiner Spione. Darin steht der Satz «Bin Laden beabsichtigt, in den USA anzugreifen».

Weit entfernt, in Neuenegg in der Nähe der Stadt Bern, geht Jessica Habegger zum Arzt. Alles ist ihr zu anstrengend. Die Diagnose: Ihr Herzmuskel pumpt nicht richtig, die Herzklappen sind undicht. Schlimm sei das nicht, vermutlich körperliche Kapriolen der Pubertät. Eine Tablette helfe. Die Tablette hilft nicht. Alle paar Stunden erbricht Jessi. Ihr Hausarzt weist sie ins Berner Inselspital ein. Während sie bei ihm in der Praxis sitzt, erleidet eine ältere Patientin einen Herzstillstand im Wartezimmer. Sie stirbt.

Mit einem Katheter führen Ärzte eine Sonde zu Jessicas Herz. Sie erkennen ein vernarbtes Herz, dreimal so gross wie üblich, zerfressen von Bakterien. Rasant verschlechterte sich ihr Zustand. Nach drei Tagen steht das kranke Herz still. «Eine Null-Line», sagt Habegger. Flach liegt der grüne Strich auf dem Monitor. Sofort wird sie wiederbelebt. Der Vater entscheidet, die Tochter an eine Herz-Lungen-Maschine anzuschliessen und auf die Warteliste für ein Spenderherz zu setzen.

Fortan bangt die Familie. Sie wartet, bis ein junger Mensch stirbt, damit ihre Jessi lebt. Die Chancen stehen gut, wissen die Ärzte. Es ist Töffsaison. Jessica Habegger steigt in Adelboden aus dem Becken, trocknet die Beine, zieht sich warme Kleider an, föhnt das gewellte blonde Haar und führt in ihre Wohnung im obersten Stock eines Chalets mitten im Dorf.

Ihre Erinnerungen an die Wochen im Spital seien diffus, erzählt sie. «Ein paar Mal war ich weg, fast tot. Ich habe gespürt, wie ich meinen Körper verliess, dem Licht folgte, das ins Nichts führt. Etwas hielt mich zurück.» Ihr Vater erzählt ihr später, er habe ihr am Spitalbett gesagt, «bleib hier, Jessi, ich brauche dich noch». Niemand sagt ihr im Spital, was auf sie zukommt. Weil niemand weiss, wie Jessi auf die Nachricht reagieren würde. Bis zum 11. September 2001 ist sie ahnungslos. An jenem Dienstag stirbt in der Schweiz ein junger Mensch, ein Organspender. Um 8 Uhr 46 Ortszeit steuern in New York Terroristen im Auftrag des Terrorfürsten Osama bin Laden einen ersten Passagierjet in den nördlichen Turm des World Trade Center. Ein zweiter Jet trifft um 9 Uhr 03 den Südturm.

Zur selben Zeit – in der Schweiz ist es 15 Uhr – bereitet sich im Inselspital ein Team um den Herzchirurgen Thierry Carrel auf eine sechsstündige Operation vor. «Du erhältst ein neues Herz», sagen die Eltern ihrer Tochter. Was das heisst, versteht sie nicht. «Ja, voll, chill», antwortet sie. Um 16 Uhr Schweizer Zeit gelangt die junge Frau in den Operationssaal. Ihre Eltern sehen am Fernsehen im Wartezimmer, wie die Türme des World Trade Center einstürzen und 2996 Menschen in den Tod reissen.

«Wie haben Sie diesen Tag erlebt?», fragt Habegger den Reporter. Ich erzähle, wie ich an jenem klaren Dienstag um 8 Uhr im Büro in Manhattan ankam, um ein Interview vorzubereiten. Wie die norwegische Bürokollegin kurz vor 9 sagte, ein Flugzeug stecke im World Trade Center. Wie ich auf der Strasse sah, wie eine zweite Boeing 767 in den zweiten Turm raste. Wie ich das Interview absagte und sofort anfing zu arbeiten. Alles will sie wissen vom Journalisten, der sie heute befragt und an 9/11 Korrespondent in New York war. «Es ist der Tag, an dem ich mein zweites Leben erhalten habe», sagt sie.

Nach sieben Stunden erwacht Jessi und fasst sich ans Haar. Sie glaubt, es sei wegen einer Chemotherapie ausgefallen. Ihre Locken sind noch da, aber die Muskeln an Armen und Beinen sind geschwunden. «Bin ich ein Krüppel?», fragt sie und weint. Ihr Vater heitert sie auf. «Vielleicht klaust und lügst du nun.» Vielleicht habe der Chirurg ihr eine Ganovenseele eingepflanzt. Hat das neue Herz sie verändert? Trägt sie zwei Seelen in der Brust? «Für mich ist das neue Herz ein grosser Muskel, ein Stück Fleisch», sagt Habegger. Sie lebe damit lebendiger. «All in», lautet ihr Motto. Aufs Ganze geht sie. «Mein Spender ist nicht für nichts gestorben, ich lebe mit und dank ihm intensiver.» Obwohl sie nichts über ihn weiss. Nicht wer er war, wie er lebte, wie er starb. Ob Frau oder Mann. Sie weiss nur, dass sie oder er tot ist, Eltern einen jungen Menschen verloren haben. «Für mich war er ein Töfffahrer», sagt Habegger. «Mein Herz ist ein Männerherz – gross und kräftig.»

Sie führt in den Estrich, zu einem Skelett aus Plastik. «Das ist Paul, mein Spender.» Schreibt sie auf WhatsApp von Paul, benutzt sie das Gespenster-Emoji. «Was ich mache, mache ich für mich und für Paul.» In ihrem Zimmer liegen über 20 Medaillen, die sie an Welt- und Europameisterschaften für Transplantierte im Schwimmen gewonnen hat. Gold, Silber, Bronze. «Weltmeisterin bin ich für Paul geworden.» Er sei ihr «bester Freund». In der Schweiz bleiben Spender und Empfänger von Organen anonym. Zwar könnte Habegger den Angehörigen des Spenders schreiben, die Stiftung Swisstransplant würde den Brief weiterleiten. «Das mache ich nicht», sagt sie. Weil sie nicht weiss, ob die betroffene Familie das will. Bewusst forscht sie nicht nach, wer am 11. September 2001 an den Folgen eines Unfalls starb.

An jenem Tag starren in der Intensivstation alle auf den Fernseher. Als wäre Krieg. «Es ist etwas passiert», sagen die Eltern zu Jessi. Sie ist froh, nicht allein im Mittelpunkt zu sein. Sie braucht Zeit für sich, muss wieder lernen aufzustehen, zu gehen, für sich selber zu sorgen. Für alle anderen ist 9/11 geprägt von Tod und Zerstörung. Für sie von Glück. «Dank diesem Tag habe ich bis heute 16 Lebensjahre geschenkt erhalten.» Vier Jahre mehr, als die Ärzte einst prophezeiten. «Der 11. September 2011 ist mein zweiter Geburtstag, er ist mir heute wichtiger als der 24. November.» Wichtiger als der Tag, an dem sie zur Welt kam. 2017 wird sie 16 und 33 Jahre alt. Sie will noch lange leben, eines Tages vielleicht mit einem zweiten Spenderherz.

Ein Jahr nach der Operation zieht sie von zu Hause aus. Sie fühlt sich eingeschränkt, bemuttert, überwacht. Ihre Eltern umsorgen sie nonstop. «Sie kochen die Nudeln nur noch ohne Salz.» Sie verliebt sich, lebt elf Jahre mit Manuel zusammen. Die Beziehung endet schlecht. Er habe sie emotional unter Druck gesetzt. Als sie gehen will, droht er ihr. Sie isst nicht mehr, verliert Gewicht, atmet schwer. In der Lunge sammelt sich Wasser an. Beinahe stösst der Körper das Herz ab. «Da entschied ich mich, ihn zu verlassen, für einen Mann sterbe ich nicht.»

Drei Jahre lebt sie allein. Männer, die ihr gefallen, sagen, «ich habe Angst, mich in dich zu verlieben, du stirbst sowieso». Andere fürchten sich vor ihrer Narbe. Sie reicht vom Halsansatz bis unter die Brust. Auf dem Bauch liegt ein zweiter horizontaler Strich, der an die Löcher für die Herz-Lungen-Maschinen gemahnt. Mancher hat Angst vor körperlicher Liebe. «Sie glaubten, mein Herz würde beim Sex explodieren.» Habegger lacht. «Wie sich die Männer doch überschätzen!» Andere gehen, weil sie keine Kinder haben sollte. Wegen der Medikamente raten ihr die Ärzte von einer Schwangerschaft ab. Eine Geburt könnte ihr das Leben kosten. Adoptieren ist in der Schweiz für Empfängerinnen eines Spenderherzes nicht möglich. Ein Kind zu haben, «das wäre mein grösster Traum», sagt Habegger und denkt an eine Leihmutterschaft. «Aber das ist teuer und in der Schweiz illegal.» Ihr ist es wichtig, mit Männern ehrlich zu sein. Sie zeigt allen ihre Narbe. Weil die Narbe für sie «ein Luxusproblem» ist. «Dank dieser Narbe lebe ich.» Mühe bereitet ihr einzig, wenn ihr Gesicht anschwillt. Bereits fünfmal habe ihr Körper das Spenderherz abgestossen. Dann wird sie mit einer kräftigen Dosis Kortison behandelt, die Haut schwemmt auf.

Vor einem Jahr sieht Habegger auf Facebook ein Foto eines Snowboarders, der eine grosse Kurve in den Tiefschnee zieht. «Die sportliche Eleganz auf dem Bild hat mich berührt», sagt sie. «Den Mann auf dem Brett musste ich kennen lernen.» Bereits in der dritten Nachricht schreibt sie über das Herz. Sie schickt ihm einen Artikel aus dem «Migros-Magazin» über sie. «Lies ihn, wenn es dich wirklich interessiert.»

Markus, 36, ist ein gelernter Forstwart aus Schaffhausen. Seit neun Jahren lebt er in Adelboden, arbeitete zuerst als Snowboard-Lehrer, jetzt im Hotel. Für Jessica Habegger verlässt er seine Freundin. Sie zieht zu ihm, von Flamatt im Kanton Fribourg nach Adelboden. «Er ist der erste Mann, der mich als Jessi sieht und nicht nur als Transplantierte.»

Die beiden harmonieren, das sieht man. Er beginnt Sätze, die sie beendet. Beide haben Freude an Fantasy und am Kindlichen. Ihr erstes Date bringt sie an eine Spielzeugmesse. Die Wohnung ist voller «Star Wars»-Figürchen, Totenköpfe und Rollbretter. «Er ist mein Traummann», sagt sie. Den Heiratsantrag erwartet sie im Disney World in Orlando, Florida. Gemeinsam besuchen sie das Disneyland in Paris, halt ohne Kinder.

Zwar möchte Markus eine Familie. Aber, sagt er, «wärst du jetzt schwanger, hätte ich Angst um dich.» «Das ist schön zu hören.» «Hättest du eine gute Schwangerschaft, könntest du bei der Geburt sterben.» «Dir bliebe unser Kind.» «Lieber kein Kind haben als dich verlieren.» Markus fürchtet sich nicht mehr um seine Freundin, als andere Menschen um ihre Geliebten bangen. Gewöhnen musste er sich ans Einschlafen. Habeggers Herz schlägt viel schneller und lauter als seines. Als hätte sie eben einen Marathon beendet. «Zuerst dachte ich, jetzt stirbt sie.» Heute weiss er, dass transplantierte Herzen rascher schlagen.

Bevor sie nach Adelboden zieht, wohnt sie zehn Minuten vom Inselspital entfernt. «In welches Spital muss ich dich bringen, wenn etwas ist?», fragt Markus. Sie lacht. «Schatz, wenn mir etwas passiert, kommt der Helikopter.» Als Empfängerin eines Spenderherzens steht sie an der Spitze der medizinischen Pyramide. Sie wird schnell und gut behandelt. Sagt sie zum Notfall-Arzt, ihr Hals schmerze, wartet sie eine Stunde. Sagt sie, sie habe Halsschmerzen und ein Spenderherz, «rennen alle für mich».

Warum ihr Herz erkrankte, weiss niemand. Nach der Operation fragen die Ärzte, ob sie gedopt habe. «Nein!» Sie sieht «falschen Ehrgeiz» als Ursache. «Ich habe nur trainiert und mich zu wenig erholt.» Selbst krank schwamm sie. Es sei wie bei übertrainierten Fussballern, die auf dem Rasen tot umfallen. «Ich habe mich selber kaputt gemacht.»

Den Ehrgeiz hat sie abgelegt. Sie vergleicht nicht mehr, wie fit sie einst war. Als sie schneller schwamm, rannte und radelte als die Jungs ihrer Klasse. Nun spart sie auf ein E-Bike. Sie rennt nicht mehr, weil ihr das auf den Brustkorb schlägt. Nicht die Leistung, das zweite Leben steht im Mittelpunkt. Sie lebt von einer IV-Rente. Biografien anderer Sportler hätten sie geprägt, jene von Lance Armstrong, der den Krebs besiegte, von Mohammed Ali, der sich gegen Rassismus behauptete, die «Rocky»-Filme. Ihr Leitspruch lautet «Never give up». Nie gibt Jessica Habegger auf. «Es gibt schon Tage, da denke ich, warum gerade ich ein Herz erhalten musste.» Aber solche Tage ziehen vorbei. «Ich falle um, stehe auf, richte das Krönchen und gehe weiter.»