«Nie werde ich ihn verstecken»

Fritz Künzli entschwindet in eine eigene Welt. Der Fussball-Star von einst ist zum Pflegefall geworden. Was ihm bleibt: die bedingungslose Liebe seiner Monika Kaelin.

Von Peter Hossli und Fibo Deutsch (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)

Der Torjäger stützt sich auf das Geländer des Balkons, blickt in die Ferne. Vor ihm glitzert die Sonne auf dem Vierwaldstättersee. «Hoi Fritz», ruft ein Passant vom Trottoir aus. Fritz schweigt, nach fünf Sekunden sagt er: «Hoi.»

Wen er grüsst, weiss er nicht immer. Aber er grüsst, herzlich.

Er ist der herzliche Fritz Künzli (71), wie Freunde den legendären Stürmer des FC Zürichs und der Nationalmannschaft beschreiben.

Und doch ist Künzli nicht mehr der Gleiche, seit einiger Zeit nicht mehr. «Champ» nennt er den Reporter, der ihn am Freitag in seiner Wohnung in Gersau SZ besucht.

Weil er glaubt, ein Mann namens Champ stünde vor ihm. Dabei trifft er den Reporter zum ersten Mal.

Gerüchte über Künzli kursieren schon lange. Er sei durcheinander, sogar dement. Zu viele Tore habe er mit dem Kopf erzielt, dabei das Hirn geschädigt.

Mitte März hielt er sich in der Privatklinik Clienia Schlössli in Oetwil am See ZH auf, in Station 3, der Abteilung für Stressfolgeerkrankungen und Krisenbewältigungen. Ärzte sollten endlich die richtigen Medikamente für ihn finden. Andere Patienten erkannten ihn, plauderten. «Da war mir klar, jetzt muss ich darüber reden», sagt Entertainerin Monika Kaelin (62), die Frau von Künzli. «Es braucht Mut, dazu zu stehen.»

Diesen Mut hat Kaelin jetzt. Auch weil sie anderen Mut machen will, die Angehörige mit Demenz haben. Aus dem Aktenordner kramt sie den Austrittsbericht der Clienia Schlössli mit Datum 23. März 2017. Künzli leide an «einem demenziellen Syndrom», liest Kaelin vor. Die Demenz sei «posttraumatisch, in Folge der Sportkarriere». Weiter leide er an «vaskulärer Demenz» – wegen vieler Operationen.

Ein Wort fürchtet Kaelin: Alzheimer. «Alzheimer kommt an letzter Stelle», betont sie und liest: «Alzheimer-Krankheit, mit spätem Beginn.»

Demenz ist der Oberbegriff für den Verlust erworbener Denkfähigkeiten durch Schädigungen von Gehirnzellen. Alzheimer-Demenz ist die häufigste Form. Sie macht über 60 Prozent der Krankheitsfälle aus. «Später Beginn» weist darauf hin, dass das fortschreitende Alter eines der grössten Alzheimerrisiken ausmacht. Zwischen 65 und 75 verdoppelt sich das Auftreten von Alzheimer in der Bevölkerung.

Eine Pille dagegen gibt es nicht, keine Impfung. Versuche, den Zerfall der Hirnzellen zu stoppen, schlugen bisher fehl.
Vielen bereitet das Wort Alzheimer Angst. Da sich die Krankheit nicht heilen lässt. «Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen», beschreibt der österreichische Schriftsteller Arno Geiger (48) die Alzheimer-Demenz seines Vaters.

Gefeit ist keiner. Im ­Oktober 2015 gab der FC Bayern München bekannt, dass Fussballer-Legende Gerd Müller (71) dement sei. Schalke-Manager Rudi Assauer (72) sagte 2012, er leide an Alzheimer. Optimistisch «goodbye» sagte US-Präsident Ronald ­Reagan (1911–2004) 1994: «Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt, in der Gewissheit, dass über Amerika immer wieder ein strahlender Morgen dämmern wird.»

Strahlend ist dieser Vormittag in Gersau. Zinnpokale stehen auf dem Sims über dem Fernseher. Es sind Zeugnisse einer grossen Sportkarriere. Künzli, der Fussballer des Monats. Künzli, der Fussballer des Jahres. Künzli, der Cupsieger. Künzli, der Held im Nationalteam.

Jetzt steht der Held im Raum, klammert sich an die Fotografin. Er trägt eine weisse Baumwoll­hose, ein weisses Hemd, eine Strickjacke. Wellig und lang wie einst ist das Haar nicht mehr, aber dicht. Künzlis Händedruck ist kräftig. Der starke Mann setzt sich aufs Sofa, beobachtet ob jemand lacht. Ob ein Witz fällt, versucht er zu erahnen und lacht. «Seht! Fritz bekommt vieles noch mit.» Kaelin greift jeden Strohhalm, der ihr Hoffnung macht. Wie das alle Menschen tun, die erleben, wie der Liebste, die Liebste entschwindet.

Ein Gespräch mit Künzli ist kaum mehr möglich. Er sucht den Kontakt mit Augen und Händen. Sagt man, es sei schön draussen, nickt er. Dass man GC-Fan sei, stört ihn nicht. Ob sein Team, der FCZ, in die oberste Liga aufsteige? Er strahlt. Was er meint, ist unklar. Und doch sagt er: «Ja! Ja!»

Er blickt auf zwei Buddhas, die beim Fernseher stehen. Reden andere, presst er die Lippen zusammen, reibt sich die Hände. Reden andere über ihn, wird er unruhig.

Die Fotografin bittet ihn, in die Kamera zu schauen. «Das kann er», sagt Kaelin. «Das ist sein Leben.» Er sei «pudelwohl» vor der Kamera.

Kaelin bringt ihm ein Glas Cola. Er trinkt die Hälfte. Durchs Fenster sieht er den Gersauer Hafen. Vertäute Boote schaukeln. «Ich lasse für Fritz ein Geländer errichten, damit er aufs Boot kann», sagt sie. Nie käme ihr in den Sinn, dass sie im Sommer nicht mit Fritz auf den See könnte.

«Nie», sagt sie, «nie werde ich ihn verstecken». So lange wie möglich will sie ihn pflegen. «Es darf nicht sein, dass Fritz ein Leben lang Tore schiesst und nun abgeschoben wird.»

Alles kann er nicht mehr mitmachen. Zwar führt das diesjährige Zürcher Sechseläuten Künzli als Ehrengast. «Das schafft er nicht», so Kaelin und sagt: «Gäll, Fritz, hinter diesen Pferden willst du nicht mehr marschieren!» Er schweigt, antwortet dann: «Mol.»

«Mol» und «Ja» – es sind zwei Worte, die er noch benutzt. Verunsichert spricht er sie aus. Als scheint er ­irgendwie zu wissen, dass er nicht mehr weiss, wie man sie einsetzt.

Gestern Samstag trafen sich Ex-FCZler, tranken und assen zusammen, schauten das Spiel FCZ gegen FC Schaffhausen. Künzli war dafür zu müde. «Seine Kollegen wissen, was mit Fritz los ist, schon lange», so Kaelin. «Dass er von einer leichten in eine schwere Demenz gefallen ist.»

Alte Fussballer wie Freunde vom Showgeschäft verhalten sich so, wie man sich mit dementen Menschen verhalten soll: Sie nehmen Künzli auf, stossen ihn nie weg. «Mit solchen Menschen muss man lieb sein», sagt Kaelin und wird persönlich: «Fritz verdient es, dass man lieb ist mit ihm.»

Sie nennt ihn «meinen Fritz» und sagt: «Er ist meine grosse Stütze.» Als junge Frau verliebt sie sich in den Fritz Künzli, den sie auf einem Panini-Bild sieht. «So einen Mann möchte ich», sagt sie ihrem Vater. «Den kriegst du nie», antwortet er.

Jahre später begegnen sich Fritz und Monika in einem Dancing. Er bittet sie zum Tanz. Das Fussball-Idol und der Showstar – es wird eine der ganz grossen Liebesgeschichten der Schweiz. «Ich habe ihn wahnsinnig gerne», sagt Kaelin.

Er kann das nicht mehr sagen, blickt sie aber verliebt an. «Kommunikation mit Worten findet fast nicht mehr statt», sagt Kaelin. «Ich muss erahnen, was er mitteilen möchte.» Sie weint, weil es hart sei, wenn sie nach strengen Tagen heimkomme und gerne bei Fritz abladen möchte. «Das geht nicht mehr.»

Künzli wippt den Kopf zur Musik. «Ich habe immer gesagt, mein Leben besteht aus Fritz und dem Prix Walo», sagt sie. «Fritz ist jetzt meine grösste Produktion, das bringe ich auch noch fertig.»

Geduld und Liebe helfen. Körperliche Pflege reiche nicht aus, sagt sie «der seelische Zustand ist wichtiger». Schwach sein? Liegt nicht drin. «Ich kann und würde nie abhauen.»

Zumal sie seinen Alltag managt. Sie richtet ihm Hemd und Hose. Sie nimmt ihm Angst vor Besuchern. Sie gibt ihm Medikamente. Sie kocht. «Für Fritz erledige ich alles, was ein Mensch mit sich selber machen muss.» Mehr braucht sie nicht zu sagen. Alles ist alles. Nonstop.

Was das Leben der temperamentvollen Entertainerin umkippt. «Ich muss von hunderttausend auf null runterfahren», sagt Kaelin. «Langsam reingewachsen» sei sie. Seit letztem Sommer sei es «plötzlich schnell gegangen, als er von der leichten in die schwere Demenz fiel», sagt sie. «Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen.»

Verantwortlich für die Veränderung macht sie einen Zwischenfall in ­ihrem Gersauer Haus im August 2016. Es kam zu einem wüsten Streit mit einem Nachbarn. «Die Ärzte gehen davon aus, dass es einen Zusammenhang gibt für die Verschlechterung des Gesundheitszustands von Fritz», so Kaelin. Mehr darf sie gemäss ihrem Anwalt nicht sagen. Es läuft ein Verfahren.

Erstmals fällt ihr 2013 auf, dass mit Fritz etwas nicht stimmt. Er findet den Weg von der Landiwiese in Zürich ans Bellevue nicht. Worte entfallen ihm, er ist vergesslich, erinnert sich vor allem an Fussball. Ärzte sprechen von «einer Form von Alzheimer».

Künzli versucht es, zu verheimlichen. Gezielt redete er mit vollem Mund. Niemand soll merken, dass er selten verständlich sprechen kann. «Anfänglich habe ich die Krankheit verheimlicht», sagt Kaelin. «Aber Fritz habe ich nie versteckt. Er braucht die Öffentlichkeit.» Sie liest Bücher, die einen liebevollen Umgang mit Demenzkranken anpreisen: «Dement, aber nicht bescheuert» und «Da und doch so fern».

Sie kann zugeben, «dass ich manchmal heulend den Arzt anrief, weil ich nicht mehr ein und aus wusste».

Heute heult sie weniger, ist zuversichtlich. Sie sagt: «Das gehört zum Leben.» Dreimal die Woche bringt sie ihren Mann in eine Tagesstätte. «Dort lebt er richtig auf.» Ihre Familie unterstütze sie – und hüte Fritz ebenfalls.

Sie ist froh über die Entlastung. Am 14. Mai produziert und präsentiert sie im Zürcher Kongresshaus ihr Lebensan­liegen: den Prix Walo, die grosse Galafeier der Showszene Schweiz. Bisher war Fritz immer dabei.

Beide stehen auf, ziehen sich an, gehen auf ­einen Spaziergang zum Steg. Er hört ihr zu, lächelt, sucht Blickkontakt. «Fritz wird uralt, und ich mit ihm», so Kaelin. «Miteinander werden wir es so lange wie möglich schön haben.»