“In Istanbul fühle ich mich freier als in der Schweiz”

Die Schweizer Triathletin Coraline Chapatte lebt seit neun Jahren in der Türkei. Warum sie so gern am Bosporus weilt.

Von Peter Hossli (Text) und Emin Özmen (Fotos)

Die Fähre legt in Europa ab. In zwanzig Minuten erreicht sie Asien. Auf Deck steht Coraline Chapatte (36), eine Schweizerin in Istanbul. Es regnet und ist kalt, sie trägt Mütze. «Der prachtvolle Bosporus, die Brücken, die Strassen voller Menschen – so schön», sagt die Neuenburgerin ins Telefon. «Sehe ich die Schönheit, kann ich es mir kaum vorstellen, je wegzugehen.»

Ausgerechnet aus der Türkei will die Schweizerin nicht mehr weg. Vom Land, das derzeit negative Schlagzeilen schreibt. Präsident Recep Tayyip Erdogan (63) will die Verfassung ändern und die gesamte Macht an sich reissen.

Von all dem merkt Coraline Chapatte im Alltag wenig. «Die Preise schnellen in die Höhe, sonst hat sich mein Leben kaum verändert.» Mehr Polizisten würden in den Strassen patrouillieren. «Sie kontrollieren Taschen, nicht Personen.» Im Visier seien eher Terroristen als politische Gegner.

In die türkische Gesellschaft integriert

Seit 2008 lebt Chapatte in der Türkei. Auf einer Ferienreise lernte sie ein Jahr zuvor ein französisches Paar kennen, das am Mittelmeer eine Tauchschule betreibt. Es bot ihr einen Job an, weil sie Sprachen spricht, taucht, Zahlen versteht.

Die Betriebswirtschafterin gab ihre Stelle bei den SBB auf. Drei Monate würde sie in der Türkei arbeiten. Sie blieb bis heute, spricht perfekt Türkisch, ist Unternehmerin, voll integriert in die türkische Gesellschaft.

Geld verdient sie als Triathletin, Coach und Übersetzerin. Sie hält Vorträge, hat Zehntausende von Fans in sozialen Medien, preist dort Sportprodukte an, schreibt für die welsche Zeitung «Le Temps» Kolumnen. «Vollends entfalten» könne sie sich in der Türkei. «Besser als in der Schweiz, wo alles vorgeschrieben erscheint und in vorgespurten Bahnen verläuft.»

«Hier kannst du ausserhalb des Systems leben»

Sicher, sie mag das köstliche Essen in Istanbul, den umwerfenden Anblick der Stadt. Vor allem aber mag sie den Respekt, den Menschen einander zollten. «In Istanbul fühle ich mich freier als in der Schweiz», so Chapatte. Insbesondere als Frau. «Im Zug von Neuenburg nach Zürich kam es oft vor, dass sich ein Mann demonstrativ neben mich setzte, obwohl viele Plätze frei waren. Das passiert mir in der Metro von Istanbul nie.»

Es sei leben und leben lassen. «In der Schweiz steckt jeder bei anderen die Nase rein, in Istanbul geht jeder seinen Weg.» Chapatte verwirklicht sich, mit grossen wie kleinen Jobs. «Hier kannst du ausserhalb des Systems leben, das geht in der Schweiz nicht.» Nur die türkische Unverbindlichkeit stört sie. «Es heisst immer: vielleicht, vielleicht. Zuletzt klappt es dann nicht.»

Die Schweiz erlebte sie als materialistisch. «Die Menschen hier sind spiritueller, gelassener.» Mit der Grösse der Millionenmetropole habe diese Gelassenheit zu tun – und mit ihrer Geschichte. Seit Jahrtausenden dient der Bosporus als Brücke zwischen Ost und West, treibt Istanbul die Welt an. «Das hat etwas Mysteriöses und Gewaltiges. Genau das fehlt der perfekten Schweiz, dort vergisst man zuweilen das Schöne am Leben.»

«Ich werde als Frau respektiert»

Keine Mühe habe sie als Frau aus dem Westen. «In den letzten neun Jahren hat mich nie jemand nach meiner Religion gefragt», sagt sie. Niemand störe sich daran, was sie anziehe. «Kam ich in der Schweiz mit rosaroter Bluse zur Arbeit, gab es Kommentare.»

Die Neuenburgerin lebt allein. Und kommt gut damit zurecht. «Ich trage, was ich will. Ich gehe aus, wohin ich will, ich fühle mich sicher, als Frau werde ich respektiert.»

Möglich sei es, dass sie die Türkei dereinst verlasse. Wann und wohin, das überlässt sie «dem Zufall des Lebens, der brachte mich schon hierher». Sicher sei: «Mit der Türkei bin ich noch nicht fertig.» Erdogan ändere daran nichts.

Ende 2016 lebten 4422 Schweizer in der Türkei, 350 mehr als Ende 2015. SonntagsBlick wollte noch mit anderen reden. Alle sagten ab. Der Grund war einheitlich: «Die Situation ist zu aufgeladen, um in der Presse zu reden.»