Volle Pulle

Es sind rollende Gladiatoren, sie messen sich im härtesten Sport der Welt, in Rollstuhl-Rugby. Besser bekannt als Murderball. Nun könnte eine Frau die Schweiz an die Weltspitze führen.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

Pfiff. Der Ball fällt. Hände hecheln hoch. Toni Schillig (39) boxt ihn dorthin, wo er sofort hinrollt: nach vorne. Ein Italiener ist vor ihm da, krallt sich das Leder, wirft es über den Schweizer hinweg. Ein anderer fängt es, rollt über die Grundlinie. Pfiff. Tor.

Eins zu null. Italien führt im ersten Spiel der EM in Nottwil LU. Acht Nationen kämpfen diese Woche um den Aufstieg. «Rollstuhl-Rugby» steht auf dem Plakat, «Murderball» nennen es die Spieler – das Mordsspiel.

Das dritte Viertel läuft. Schillig luchst einem Italiener den Ball ab, dreht sich nach links, schaut, wirft, rollt, erhält den Ball zurück, rollt. Pfiff. Der Ausgleich zum 29:29.

Murderball widerlegt jedes Klischee über Behinderte. Ein knallharter Sport. Mitleid deutet er in Ehrfurcht um. Acht Spieler geben alles, hetzen übers Parkett, donnern, kippen einander um. Immerzu sind sie in Bewegung.

Beim Sport müsse er sich «auskotzen können», sagt Schillig. ­Deshalb spielt er Murderball, seit 2001 im Nationalteam. Meist läuft das Spiel über ihn. Er blockt, passt, punktet. Gegen Italien ist er der Einzige, der alle Viertel mit jeweils acht Minuten durchspielt. Ohne Pause.

Im Sägemehl verunfallt
Beim Schwingen verunfallte er, ist querschnittsgelähmt. Schillig suchte eine Sportart, «bei der ich wieder kämpfen konnte». Wenig sagt ihm die Leichtathletik. «Nur im Kreis fahren, das wäre mir zu langweilig.»

Der gelernte Landschaftsgärtner hat schon in Kanada und Neuseeland gespielt, sieht die Welt. Sein Ziel? Die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Als Abschluss der Karriere? «Nein, ich spiele, bis ich alt und grau bin.» Es ist Mittwochnachmittag, wenige Stunden vor dem Anpfiff zum Spiel, das letzte Training der Schweiz. Sie ist Gastgeberin der EM. Für sie ein wichtiges Turnier. Erreicht sie den ­Final, steigt sie in die A-Gruppe auf. Dort kann sie sich für die WM in ­Sydney 2018 qualifizieren.

Die Hoffnungen ruhen auf einer zierlichen jungen Frau. Erst seit einem Jahr spielt Silvana Hegglin (18) Rollstuhl-Rugby. Fortan dürfte sie das Spiel der Schweiz prägen. «Silvana bringt perfekte Voraussetzungen mit», sagt Spielertrainer Adrian Moser (34), ihr Entdecker.

Perfekt. Silvana Hegglin hat keine Finger, ebenfalls amputiert oder teilweise amputiert sind ihre Beine. Stark aber sind Rumpf und Rücken. Das macht sie schnell und wendig, und sie kann präzise werfen.

«Sie kann zur Spielerin werden, die der Schweiz bisher gefehlt hat»: Gewichtige Worte, gesagt vom Kanadier Benoit Labrecque, Coach in Schweden – und der Pep Guardiola des Murderballs. «Sie kann das Schweizer Monster sein.» Ein Monster sieht so aus? Hegglin ist feingliedrig, sie redet leise.

Monster heissen Murderballer, die ein Spiel bestimmen, es oft alleine entscheiden. Die nicht gelähmt, sondern amputiert sind. Sie haben mehr Kraft, rollen rascher, werfen genauer. Erhält ein Monster den Ball, ist es kaum zu stoppen. Seit 1996 sind sie zugelassen. Sie haben das Spiel schneller gemacht, härter. Das führt zu mehr Stürzen, mehr Punkten. Was Sponsoren und Publikum gefällt. Es fliesst mehr Geld.

Bislang fehlte der Schweiz ein amputierter Rugby-Spieler. Das Team hatte keinen, «der alleine durchbrettern kann», wie Moser sagt, der Coach. Deshalb bestimmen noch viele Pässe ihr Spiel. Was etliche Risiken birgt. Jeder Ball, den man wirft und nicht fängt, wird rasch zum Punkt des Gegners.

Blutvergiftung als Kleinkind
Hegglin weiss: Noch ist es nicht so weit, sie muss noch viel lernen. Ihr aber gehört die Zukunft. «Der Coach glaubt an mich», sagt sie.

Mit zwei erkrankt sie an einer Blutvergiftung. Um ihr Leben zu retten, nehmen ihr die Ärzte Glieder ab. Dass sie anders ist, merkt sie früh. Sie kann nicht tanzen, nicht hüpfen, nicht rennen. «Es gab bessere und schlechtere Momente.»

Besonders schwierig: Viele wollen sie nicht berühren. Nur ungern lässt sie sich heute die Hand drücken. «Rugby hilft mir, die Behin­derung zu akzeptieren», sagt sie. Männer fahren Frauen oft härter an. Hegglin hält dagegen. «Es ist ein gutes Gefühl, wenn ich einen so richtig hart treffe.» Nie tut es ihr leid, wenn sie einen umwirft. Ein Triumph aber sei es nicht. «Es ist nicht mein Ziel, ihn am Boden zu sehen, ich will ihn stoppen.»

Zweimal die Woche trainiert sie mit dem Klub in Nottwil, einmal im Monat zwei Tage mit der Nati. Der Sport hat sie mit dem Rollstuhl versöhnt. Zuvor trug sie meist Prothesen. «Der Rollstuhl war mein Feind, heute ist er ein Kollege.» Zumal sie gemerkt hat: «Der Rollstuhl ist bequemer, Prothesen drücken.»

Hegglin ist in der Lehre, verkauft Teller und Tassen in einem Möbelhaus, Betten und Bänke. Ob sie im Rollstuhl oder in Prothesen arbeitet, «hängt davon ab, wie ich mich am Morgen gerade fühle». Neben der Lehre lernt sie, Auto zu fahren.

Ein taktisches Spiel
Spielerinnen wie sie sind umstritten – und stellen den Ursprung des Sports in Frage. Tetraplegiker haben wenig Chancen, beim Rollstuhl-Basketball den Korb zu treffen. Deshalb entwickelten sie Rollstuhl-Rugby. Selbst stark eingeschränkt können sie fighten. Gegen Amputierte aber sind sie chancenlos.

Zehn Schweizer Spieler sitzen im Theorieraum. In fünf Stunden startet das Spiel gegen Italien. «Nur als Team sind wir stark», sagt Moser. «Ich erwarte von allen ein superaggressives Spiel.»

An die Wand projiziert er Spielzüge der Gegner. Informationen über Teams und deren besten Spieler hat er im Laptop gespeichert. Moser ist ein Taktiker. Er weiss, wohin welcher Rugby-Spieler fährt. Wen er jeweils anspielt. Wie er verteidigt, wo er angreift. Wie er auf Wechsel des Gegners reagieren muss. Er redet hochdeutsch und englisch, damit ihn der einzige Welsche im Team versteht.

Kost und Logis sind gedeckt
Geld ist mit Murderball wenig zu verdienen. Reist das Team, sind immerhin Kost und Logis gedeckt. Der Coach bezieht eine Tagespauschale. «Um weiterzukommen, braucht es eine Professionalisierung», sagt der Elektromonteur. Nur fünf Länder leisten sich einen Profi-Trainer. Auch Moser arbeitet voll, lebt aber vom Ersparten. Es ginge nicht anders. Zuletzt warnt er vor Ahmed Raourahi, Italiens Star. Bei einem Zugunfall verlor dieser Beine und Teile eines Arms. Von ihm gehe «echte Gefahr» aus.

Drei Stunden vor dem Anpfiff isst das Team Pasta mit Tomatensauce. Sie ruhen, dann rollen sie in den Geräteraum der Turnhalle, in die Kabine der Schweiz. Jeder sucht sich eine Ecke aus, zieht das Trikot über, wechselt vom Roll- in den Murderball-Stuhl. Die sind robuster, die Räder abgeschrägt und mit Metall verschalt.

Hegglin und Schillig sitzen beieinander, lassen sich Arme und Hände einbinden, stärken Finger mit Klebebändern, stülpen Handschuhe darüber. Zuletzt zurren sie sich am Stuhl fest. Locker werden sie mit Humor. «Was ist ein Tetraplegiker ohne Zähne?», fragt Schillig. «Behindert!» Mit den Zähnen reisst er das Klebeband ab. Ein Spieler besprüht die Räder mit Leim. Damit die Handschuhe besser haften.

Es ist 17.30 Uhr, feierlich wird die EM eröffnet. Unter Applaus rollen die Teams ein. An der Wand hängen Flaggen aller Teilnehmer: Polen, Russland, Österreich, Italien, Finnland, Tschechien, Schweiz, Belgien. Die Schiedsrichter stehen stramm. Schweizer und Italiener fahren sich warm, spurten, stoppen, werfen kurze Pässe. Aus den Lautsprechern ertönt satter Rock – zuerst AC/DC, später Elvis.

Wie im Fussball singen bei den Nationalhymnen die Italiener, die Eidgenossen summen. Vor dem Anpfiff bilden die Schweizer einen Kreis, halten sich an Rädern, feuern sich an.

Nach dem ersten Viertel führen sie knapp 11:10. Zur Halbzeit steht es 22:25 – für Italien. Ahmed Raourahi führt die Schweizer regelrecht vor. Kein Mittel finden sie gegen das Monster. «Wir sind übermotiviert», klagt Moser.

Bis Schillig zeigt, was er kann. Fast alles läuft nun über ihn. Er erkämpft sich die Bälle, rollt, wehrt ab, spielt öffnende Pässe, punktet. Er bringt die Wende, gleicht zum 29:29 aus, erhöht auf 30:29. Nun gibt das Team die Führung nicht mehr ab. Zuletzt gewinnt es 45:41.

Die Spieler klatschen sich ab. «Es ist schlechter gelaufen als erwartet», sagt Moser. «Wir haben die Italiener unterschätzt.» Insbesondere die Nummer sieben – Raourahi.

Nur zuschauen konnte Silvana Hegglin. «Sie ist noch jung, ihre Zeit wird kommen», sagt ihr Coach. Er will Druck von ihr nehmen. «Sie muss das nicht alleine schaffen.»
Hegglin ist «glücklich über den Sieg». Klar, sie hätte gerne gespielt. Aber: «Das Team ist wichtiger.» Schon am nächsten Tag spielt sie gegen Österreich. Und gewinnt.
Mitarbeit: Fibo Deutsch

Rollstuhl-Rugby-Regeln

Acht Punkte
Jeder Spieler ist nach seinem Handicap klassifiziert. Die Stärksten haben 3,5 Punkte, die Schwächsten 0,5. Ein Team umfasst vier Spieler und darf maximal 8 Punkte aufweisen.

Voraussetzung
Der Spieler muss in der Lage sein, einen manuellen Rollstuhl selber anzutreiben. An mindestens drei Extremitäten muss er Behinderungen aufweisen.

Die Rollstühle
Die Rugbystühle gleichen Putschautos auf dem Chilbiplatz. Sie sind massiv ­gebaut und werden den Bedürfnissen der Spieler angepasst. Zur Stabilisation ­benötigen sie Hüft-, Bein- und/oder Rumpfgurte.

Punkte
Der Spieler muss den Ball mit dem Rollstuhl über die gegnerische Torlinie bringen. Berührt der Ballbesitzer mit zwei Rädern seines ­Rollstuhls die Linie, wird ein Punkt gutgeschrieben.

Härte
Erlaubt sind harte Rollstuhlkontakte bis zum Kippen des Gegners – nicht erlaubt sind Körperkontakte. Kippt ein Spieler, wird das Spiel unterbrochen, Helfer stellen den Rollstuhl wieder auf.

Schnelligkeit
Die 40-Sekunden-Regel bringt Tempo: Nach dem Anspiel hat jedes Team 40 Sekunden Zeit, einen Treffer zu erzielen, sonst wechselt der Ballbesitz. Passt ein Spieler den Ball nicht alle zehn Sekunden oder prellt ihn auf den Boden, muss er ihn ebenfalls abgeben.

Feld und Ball
Rollstuhl-Rugby wird auf ­Basketballfeldern gespielt. Der Torraum ist ein 8 m langes und 1,75 m tiefes Rechteck mit einer Torlinie. Das Spielgerät ist ein Volleyball.

Ein Sport für klüger Köpfe
Adrian Moser, Spielertrainer: «Früher spielte ich Fussball, im Winter ­arbeitete ich als Snowboard-Lehrer. 2004 verunfallte ich dann in Davos mit dem Snowboard, seither bin ich querschnittgelähmt. ­Tetraplegiker. Nach dem ­Unfall fiel ich in ein schwarzes Loch. Ich lag da, konnte nicht mehr selber atmen, ­die Arme nicht kontrollieren. Durch die Rehabilitation habe ich vieles neu gelernt. Der Sport ist mir extrem wichtig. Mit Rollstuhl-Rugby kann ich mich veraus­gaben, richtig aus­toben, angestaute Aggres­sionen abbauen. Damit kann ich Grenzen ausreizen. Ich werfe andere Spieler gerne zu ­Boden, kann ich damit einen Ball erobern oder einen Spieler stoppen. Ohne Sport wäre ich ein frustrierter Mensch. Rugby zeigt uns Rollstuhlfahrer, wie wir sind: keine bemitleidenswerten Behinderte, sondern Menschen, die zulangen, die aufeinander losbrettern – und kein Mitleid zeigen mit den Gegnern. Coach bin ich, weil ich gut reden kann und mein taktisches Verständnis sehr gut ist. Das ist ein ­kluger Sport.»