Zielscheibe Merkel

Nach dem Triumph von letzter Woche ist die AfD im Hoch. Nächsten Sonntag greift sie in Berlin die Kanzlerin an. Ein Besuch bei den Anhängern der Protestpartei.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos) aus Berlin

afd_1Die deutsche Bundeskanzlerin hat ein Problem. Es heisst Michael Schultze (66). Seit 1990 hat er immer CDU gewählt. Jetzt wendet er sich von der Volkspartei ab. «Wegen Angela Merkel», sagt der pensionierte Polizist. «Sie interessiert sich nur noch für Europa, nicht für uns Deutsche.»

Schultze legt eine Ananas in seinen roten Renault Clio, er hat im Berliner Stadtteil Mahrzahn-Hellersdorf eingekauft. Nächsten Sonntag, wenn Berlin das Abgeordnetenhaus neu bestellt, wählt er erstmals die Alternative für Deutschland (AfD). Die Protestpartei wettert gegen Ausländer. Grenzen will sie schliessen, Flüchtlinge ausweisen, den Euro abschaffen.

«Ich bin kein Rassist», sagt Schultze. Er wähle rechts, «aber ich bin nicht rechtsradikal.» Den Schweizer Reportern sagt er, «euer Köppel gefällt mir». SVP-Nationalrat Roger Köppel (51) tritt regelmässig am deutschen Fernsehen auf. «Der sagt, was er denkt.» Und was Schultze denkt. Menschen wie er pflügen die politische Landschaft Deutschlands um. Vor einer Woche in Mecklenburg-Vorpommern erreichte die AfD aus dem Nichts 21 Prozent, überholte die CDU. Noch mehr verlor die SPD, die zweite Volkspartei.

Nächsten Sonntag wählt Berlin. Bei Umfragen liegt die AfD bei 15 Prozent. Sollten es weit mehr werden, wankt Merkel. Sie ist die Zielscheibe der AfD-Protestwähler.

Besonders stark ist die 2013 gegründete Partei in den Berliner Ostbezirken. Obwohl dort kaum Ausländer leben. «Deutschland verändert sich, ist nicht mehr deutsch», so Schultze. «Wegen Merkel und den Flüchtlingen.»

Natürlich ist das falsch. Den Deutschen geht es gut. Nichts hat sich im Alltag verschlechtert. Die Flüchtlinge? Deutschland scheint sogar das zu schaffen.

Nur: Es spielt keine Rolle. Nicht Fakten zählen, sondern das Gefühl. «Das, was man fühlt, ist die Realität», sagt Berlins AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski (65). Mit solch gefühlter Realität politisieren Protestparteien. Wie Ukip in Grossbritannien. Wie Trump in den USA.

Oder wie Bernd Lau (59) im Berliner Plattenbau-Bezirk Mahrzahn. In kurzen Hosen verteilt der selbständige Tischlermeister AfD-Flugblätter. Seine gefühlte Realität ist stärker als die Realität der Fakten. «Die AfD ist die letzte politische Kraft, die das Ruder noch umdrehen kann, die Deutschland davor bewahrt, von Europa geschluckt zu werden.»

afd_2Europa? Brüssel? EU? Alles Feindbilder der AfD. «Die deutsche Regierung macht anti-deutsche Gesetze, sie diskriminiert aktiv Deutsche», sag Lau. «Wir Deutsche sind in Deutschland Menschen zweiter Klasse geworden.»

Wer ständig solche Phrasen drischt, glaubt sie und wischt alle Fakten weg, die sie widerlegen.
Lau wählte einst die Christdemokraten. «Merkel hat die CDU entkernt, sie mit grün-linken Inhalten gefüllt.» Die Kanzlerin beschimpft er «deutschfeindlich» und «volksfeindlich». Lau: «Sie will nicht Kanzlerin des deutschen Volks sein, sondern der Bevölkerung, also der Nichtdeutschen, das widerspricht der Verfassung.»

Er sagt Sätze, die an die düsterste Zeit der deutschen Geschichte erinnern. Die AfD stilisiert eine Religion zur Gefahr. «Der Islam muss weg von Deutschland.» Lau erklärt: «Weil ich den Koran gelesen habe, da steht drin, dass sie uns töten.» Den Bogen zu den Nazis schlägt er ungefragt, aber anders als andere: «Lest den Koran! Hätten damals mehr ‹Mein Kampf› gelesen, hätten sie nicht Hitler gewählt.»

Muslime sind für ihn die neuen Nazis. Aber ausländerfeindlich, nein, das sei er nicht. «Ich bin ja seit zwölf Jahren mit einer Thailänderin verheiratet», seiner zweiten Frau. «Sie arbeitet, wir haben zwei Kinder, zwei deutsche Kinder.»

afd_3Just geht eine Frau im Kopftuch an ihm vorbei. «Wenn ich das sehe, denke ich an die 1,5 Millionen Muslime, die unkontrolliert zu uns kamen, sie bringen Attentate, sexuelle Übergriffe, machen Frauen zu Nutten und Freiwild.»

Angst hat Carola Bauer (46). Sie schneidet Haare, feilt, poliert Nägel. «Die Flüchtlinge sind rotzfrech, sie fordern nur, die Männer frotzeln mich an», sagt Bauer. Nach Deutschland komme «eine Kultur, die uns fremd ist, und sie kommt in geballter Form».

Nur nicht nach hierher. Hellersdorf ist deutsch. Einfamilienhaus reiht sich an Einfamilienhaus. Perfekt geschnittene Hecken und gebeizte Zäune trennen Strassen von idyllischen Gärten. Im Theater des Quartiers läuft «Wunderliches über und von Karl Valentin» und «Wie einst Lili Marleen». Zum Kaffee gibt es Pflaumen-Streuselkuchen.

An der S-Bahn-Station Mahlsdorf baut Kauffrau Jeannette Auricht (46) einen Stand auf. Sie will für die AfD ins Berliner Parlament, verteilt Kugelschreiber und Gummibärchen an die Wähler. Bevor sie mit den Schweizer Reportern redet, beschimpft sie deutsche Medien, die Lügenpresse. «Die schreiben, wir seien Nazis, aber wir setzen uns doch für Deutschland ein.»

Ein Passant wirft ein Schild um, ruft «haut ab». Das sei «gezielte und staatlich bezahlte Hetze der Altparteien, die um Posten fürchten.» Auricht ist verheiratet, ob sie Kinder hat, verrät sie nicht. «Unsere Gegner haben es auf uns abgesehen, die schrecken nicht zurück, Kinder von AfD-Politikern anzugreifen.»

Auch so ein Gefühl – passiert ist das noch nie. Auf der Strasse verspricht Auricht «ein Berlin wie früher, wo man ohne Angst auf die Strasse konnte». Zwar belegt die Statistik, es gibt weniger Verbrechen. Sie aber sagt: «Berlin ist gefährlicher geworden.» Auricht erklärt: «Die Grenzen sind offen, es kommen unregistrierte Menschen, nordafrikanische Banden.» Ging es nach ihr, müssten «die 70 Prozent der Flüchtlinge Deutschland verlassen, die kein Recht auf Asyl haben.»

afd_4Sonst gehe «die Ghettoisierung in Deutschland» weiter. «Es gibt Gebiete, da spricht keiner mehr Deutsch, da hat es Kindergärten, in denen alle den Ramadan mitmachen müssen und Kinder nichts essen dürfen.»

Bestimmt nicht in Mahrzahn. Und doch wählen Ostdeutsche AfD. «Da wir schon mal erlebt haben, dass sich ein System komplett ändert, sind wir mutiger als Westdeutsche, alte Parteien abzuwählen.»

Linke, Rechte, Grüne verlieren an die AfD. In Mahrzahn erwartet die Partei 30 Prozent der Stimmen. Vor allem die 61 Prozent Nichtwähler spricht sie an. Den Urnen fern blieb vor vier Jahren Siegfried Schwarze (61). Der pensionierte Baumaschinenführer hat noch nie gewählt. Er sitzt vor dem Rewe-Markt inmitten einer Plattenbausiedlung beim Brodowiner Ring.

Nun wähle er. «Die AfD, denn die anderen brauchen mal eine auf die Fresse». Das ist nicht die bärbeissige Berliner Art. Es ist nackte Wut.

«Die Politiker in der DDR waren genauso bescheuert wie die heute, Merkel geht so sehr an der Realität vorbei wie damals Honecker.», sagt er. «Wir hungern, die Flüchtlinge kriegen ohne zu arbeiten 600 Euro, die Politiker sollen auf ihr eigenes Volk hören statt auf Scheissausländer.» Schwarze gerät in Rage. «Ausländer haben uns eingekesselt.» Statt «die hohle Hand zu machen, sollen die eine Waffe in die Hand nehmen und ihr Land befreien.»

Ist ist er denn betroffen? Schwarze überlegt: «Wenn die Ausländer hier einkaufen, füllen sie ihren Korb, an der Kasse sagen sie, die Merkel zahlt alles, dann hauen sie ab.»

Die Zeche zahle er. «Aber», er verabschiedet sich, «schreibt ja, dass ich kein Nazi bin.»