Ihre Magie ist ewig

Die azurblaue Küste blutet. Aber nichts kann die Schönheit der französischen Riviera zerstören. Eine Ode an die Côte d’Azur.

Von Peter Hossli (Text und Fotos)

faehreSie lässt keinen der fünf Sinne kalt. Nicht eine Sekunde. Ihr Blau kitzelt die Augen. Sie duftet verführerischer als jede Blüte. Weil auf ihr scheinbar alle Blumen gedeihen. Romantisch klingt sie, immerfort: Grillen zirpen, Wellen tosen, Vespas schnattern, auf denen stolze Frauen nonchalant vorbeiflitzen. Ihre warme Luft liebkost Haut und Haar. Und ach, wie sie den Gaumen verwöhnt, mit Oliven, gebratenen Krustentieren, Fisch, knackiger Baguette und viel Knoblauch.

Sie? Das ist die Côte d’Azur, die azurblaue Küste in Frankreichs Süden. Ein himmlischer Flecken Erde, bei dessen Schöpfung Gott wohl wirklich mitspielte.

Hier hat jetzt ein Mensch blindlings getötet. Mitten in Nizza, an der Baie des Anges, der Engelsbucht, starben 84 Menschen. Noch schweben viele Frauen, Männer und Kinder schwerverletzt in Lebensgefahr.

Die Tat berührt umso mehr, weil der Täter an einem magischen Ort zugeschlagen hat, wo etwas alles andere überragt: die Leichtigkeit des Seins.

Eine Leichtigkeit, die sich Menschen an der Côte d’Azur nie nehmen lassen. Zu betörend ist die Küste, zu atemberaubend sind die schroffen Klippen, steilen Hügel und weiten Felder. Die Region hat alles, was glücklich macht. Eleganz. Stolz. Schönheit. Liebe. Und Tomaten, deren Geschmack einem weiche Knie bescheren.

Die Côte reicht von Toulon im Westen bis zur italienischen Grenze im Osten. Alpenkette und Mittelmeer treffen hier aufeinander. Es ist ein Ort, der befreit, wo Menschen sich entkrampfen. Am Cap Ferrat bei Nizza vergessen Liebespaare zuweilen alles, was um sie herum geschieht. Weil sie glauben, das Paradies gefunden zu haben.

Noch immer begegnet man in Saint-Tropez Brigitte Bardot (81), dem Schmollmund der Nation. Älter ist sie geworden, ledriger, schrulliger, rechter. Aber noch immer ist sie da. Ebenso feingliedrige Männer, die sich gemeinsam nackt bräunen, getrennt von Frauen, die Gleiches tun. Dazwischen Familien, die sich daran nicht stören. Klar, Mère und Père schauen hin.

tomatenFrauen rauchen an der Côte. Alle sind jung oder zumindest jung geblieben. Sie pflegen, schminken, straffen, enthaaren, parfümieren sich. Unbenommen tragen Männer weisse
Hosen. Über Mittag schliessen Fensterläden, hinter die sich Paare zurückziehen.

Mondän, reich, selbstbezogen ist die Côte d’Azur. Nie aber dekadent. Selbst im Hafen von Antibes nicht, wo Yachten anlegen, die grösser und teurer sind als manches Schloss. Emiren gehören sie, Oligarchen, Schnöseln aus Palo Alto.

Bis 1887 hiess die Region schlicht Riviera, mehr geprägt vom italienischen Nachbarn als von Frankreich. Dann veröffentlichte der Dichter Stéphen Liégeard das Buch «La Côte d’Azur».

Zu Meisterwerken lassen sich Künstler von ihr inspirieren. Zwanzig Sommer verbrachte Picasso zwischen 1919 und 1939 dort. Nach dem Krieg zog er nach Mougnis, einem Dorf 30 Kilometer nördlich von Nizza. Matisse, Monet, Cézanne, Chagall, Renoir und Munch lebten und wirkten zwischen Lavendelfeldern und Olivenhainen.

Paris hat die Macht. Aber an der Côte d’Azur lebt Frankreich. Hier begann im Zweiten Weltkrieg die Befreiung, als die Alliierten im August 1944 am Cap Nègre landeten. Hier parkiert Frankreich seinen einzigen Flugzeugträger, die Charles de Gaulle. Französische Staatschefs erholen sich im staatlichen Feriensitz Fort de Brégançon bei Saint-Tropez, mal mit, mal ohne Geliebte.

meerEin schräger Film mit dem jungen Jean-Paul Belmondo und der umwerfenden Jean Seberg stellte 1959 das Kino auf den Kopf. Gezeigt wurde Jean-Luc Godards «A bout de souffle» am Festival von Cannes. «Le festival» ist das Filmfestival schlechthin.

Der monegassische Fürst Rainier ehelichte hier 1956 den US-Star Grace Kelly. Ein Jahr später stellte sich das barbusige britische Starlet Simone Silva vor knipsende Fotografen und neben Filmbösewicht Robert Mitchum. Cannes hatte nun das Image, das fortan für die gesamte Küste galt: Glamour, gepaart mit diskretem Sex.

Im Mai mischen sich seither in Cannes Strandschönheiten unter die Filmgrössen. Die gleiten in schwarzen Stoffen über rote Teppiche, verschwinden in dunklen Sälen. Robert Redford schlief als 20-Jähriger am Strand, um das Festival zu erleben.

Die azurblaue Küste hat ihre trüben Seiten. Strassen sind verstopft, Restaurants überfüllt. Russen und Araber treiben die Preise hoch. Korruption ist verbreitet. Der fremdenfeindliche Front National holt bei den Regionalwahlen 45 Prozent der Stimmen.

All das verschwindet, wenn das Auge nur noch das Meer sieht, die unendlich vielen blauen Schattierungen. Heute blutet die Küste. Aber ihre Magie ist ewig. Liebe ist an der Côte d’Azur stärker als Hass.