Ausschaffung deluxe

+++ Voll integrierte tschetschenische Familie für über 100 000 Franken ausgeflogen +++ Asylverfahren hatte gravierende Mängel +++ Kilchberger hoffen auf Rückkehr +++

Von Peter Hossli

jetGestern Abend in Grosny. Familie M.* steigt in der tschetschenischen Hauptstadt aus dem Bus. 35 Stunden hat die Fahrt gedauert. Es gehe allen gut, aber sie seien «tod­müde», berichtet Marha (12), die älteste Tochter, am Telefon.

Am Donnerstag, auf dem Weg von Zürich nach Moskau, sass sie noch im Ledersessel eines Privatjets, ass Schoggi, spielte mit dem iPad. Wie die Stars sollten sich Marha und ihre drei Geschwister fühlen. Mit ihren Eltern hatten sie viereinhalb Jahre in Kilchberg ZH gelebt, waren integriert – und wurden trotzdem ausgeschafft.

Mit im Jet waren Kantonspolizisten, ein Arzt, eine Begleitperson der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter. Frühmorgens hatten rund ein Dutzend Beamte in Zivil die Familie in Kilchberg abgeholt. Wohl über 100000 Franken kostete all das. Allein der Hinflug nach Moskau im Jet verschlingt 50000 Euro.

jet2Viel Geld, um eine Familie zu entwurzeln, die der Schweiz finanziell nicht zur Last gefallen wäre. Vater Timur M. (40) hatte mehrere Stellenangebote. Die Kinder schrieben gute Noten. Marha und ihre Schwester Linda (11) wollten Ärztinnen werden.

Ihre Chancen auf eine Rückkehr in die Schweiz sind gering. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte das Asylgesuch von M. in letzter Instanz ab, obwohl ihn Schergen des tschetschenischen Gewaltherrschers Ramsan Kadyrow (39) verfolgt, verschleppt und gefoltert haben sollen. Die verdächtigten ihn, Rebellen zu unterstützen.

2008 war der Vater nach Polen geflohen. Dort unterlief ihm ein Fehler: Er reiste 2011 kurz nach Tschetschenien zurück, weil er dachte, es sei sicherer. Erneut suchten Schergen ihn auf – er floh, kam im November im Jura an.

Die Rückreise wurde im Asylverfahren in der Schweiz gegen ihn verwendet. Das Staatssekretariat für Migration glaubt M. nicht. Es beurteilte dessen Vorladung zu einer Strafverhandlung nach Grosny als Fälschung.

Der Anwalt der Familie versuchte, die drohende Rückführung als unzumutbar beurteilen zu lassen. «Der Vater hat das Pech, seine Not nicht beweisen zu können», sagt Ronie Bürgin (49) vom Komitee «Hier zu Hause», das sich ebenfalls für den Verbleib der Familie einsetzte. «Alle ärztlichen Gutachten sprechen dafür, dass er die Wahrheit sagt.» M. leide «sehr wahrscheinlich» an einer «Traumafolgestörung», beurteilt ihn das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Universitätsspitals Zürich.

Wenn sich ein medizinischer Befund verschlechtert, kann dies eine Rückführung stoppen. Doch das Gericht befand, zur Not gebe es ja in Grosny psychiatrische Kliniken. Dass die Lage in Tschetschenien das Trauma überhaupt erst ausgelöst hat, wollte es nicht sehen.

Kindswohl achten

Nur wenige Tschetschenen bitten in der Schweiz um Asyl. Daher fehlen klare Normen dafür, was zumutbar ist. Der Ermessensspielraum der Behörden ist gross. Sie könnten sich an der Kinderkonvention der Uno orientieren. Diese besagt: Das Kindswohl ist zu berücksichtigen.

Zudem stelle sich die Frage, ob eine Reintegration in Tschetschenien überhaupt vorstellbar ist. Die vier Kinder sprechen perfekt Züritüütsch, sie hatten enge Freundschaften. Aus Neugier besuchten die Muslime schon mal den reformierten Gottesdienst.

Doch ausgerechnet diese tadellose Anpassung geriet ihnen zum Verhängnis. Wer so integrationsfähig sei, könne es auch erneut schaffen, sagten die Richter.

Hängig ist eine Aufsichtsbeschwerde wegen eines misslungenen Ausschaffungsversuchs am 18. September. Da klingelte es morgens um vier an der Tür. Marha öffnet. Uniformierte Polizisten fragen nach den Eltern, Marha will die Tür schliessen, doch die Beamten verschaffen sich Zutritt.

Die Mutter erwacht. Sie bittet die Tochter, eine Freundin zu benachrichtigen. Ein Polizist hindert sie daran. Im Nu muss die Mutter für sie und die vier Kinder packen, damit die Beamten sie zum Flughafen bringen können. Der Vater schläft in einer psychiatrischen Klinik. Bis ihn die Polizei der ärztlichen Obhut entreisst.

Grotesk die Szene am Flughafen: Den Kindern wird gesagt, der Vater sitze im Flugzeug. Es ist ein Trick. Anvar (15) und Marha betreten die Kabine. Die Mutter aber, der kleine Mansur (4) und Linda weigern sich, werfen sich zu Boden. Der Vater muss zusehen. Die Polizei bricht die Aktion ab, legt dem Vater Handschellen an. Wegen des Amtsgeheimnisses nimmt die Polizei keine Stellung.

Nicht aufgeben wollen die Kilchberger. «Wir bereiten ein Gesuch für den Härtefall vor und werden dies schnell einreichen», so Bürgin.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

* Name bekannt

Kommentar: Sturheit bodigt Menschlichkeit